Lil - die Geschichte einer eigensinnigen Frau
LilIn eine Welt der höheren Gesellschaft in New York im Jahre 1880 überführt uns Markus Gasser in seinen neuesten Roman „Lil“.
Es war nicht leicht den Gepflogenheiten der damaligen Reichen und Schönen zu ...
In eine Welt der höheren Gesellschaft in New York im Jahre 1880 überführt uns Markus Gasser in seinen neuesten Roman „Lil“.
Es war nicht leicht den Gepflogenheiten der damaligen Reichen und Schönen zu entsprechen. Lil Cutting, selbst vermögend und als Unternehmerin sehr erfolgreich, bekam dies auf eigenem Leibe zu spüren. Mit ihrem exzentrischen Führungsstil und fortschriftlichen Ansichten hat sie die in New York herrschenden Familien gegen sich aufgebracht.
Zu ihren erbittertsten Feinden gehörte auch ihr einziger Sohn Robert, der nach dem Tod seines Vaters das gesamte Erbe übernehmen wollte. Dem hinterlistigen Robert gelang es leicht Lil in eine psychiatrische Klinik einsperren zu lassen und alles in die Wege zu leiten, um sie zu entmündigen.
Das Aufgeben kam für Lil jedoch nicht in Frage; ein Kampf ums Überleben begann.
Im Sommer 2017 findet man Lils letzten Brief – ein Hilferuf, die Verwaltung der psychiatrischen Klinik beschlagnahmt und nie abgeschickt hat. Der Brief ist für die Journalistin Sarah, eine Nachfahrin von Lil, ein Anlass um die ganze Geschichte zu erzählen.
Ein lebendiges Bild der erlauchten Gesellschaft Ende des 19. Jahrhunderts präsentiert Markus Gassner in seinem Roman. Die edlen Damen und Herren der vornehmen Gesellschaft waren jedoch alles andere als fein. Es herrschte ein Kampf um Macht und Geld, ein Kampf voller Missgunst, Neid und Heimtücke. Eine Frau wurde nur dann als ebenbürtig akzeptiert, wenn an ihrer Seite ein starker Mann stand. Unter dem Mantel der Barmherzigkeit und Wohltätigkeit verbargen sich die Respektlosigkeit gegenüber den Bedürftigen und das Streben nach Anerkennung der eigenen Überlegenheit.
Auch die eigene Familie bat oft keine Unterstützung. Das beste Beispiel dafür ist Robert, der - ohne Geld - keine Liebe für seine Mutter empfinden konnte. Jedes Mittel war ihm recht, um an das Vermögen seiner Eltern zu kommen.
Einen wichtigen Part der Geschichte nimmt die psychiatrische Behandlung der Frauen in der Klinik von Doktor Fairwell. Diese Passagen sind meistens schwer zu ertragen, sie wecken starke Emotionen, das ganze Leid der misshandelten Lil berührt sehr.
Eine Genugtuung bieten dann die Worte, die sie an ihren Psychiater richtet: „Irrenhäuser werden gebaut, (…) weil sich ein paar Dilettanten mit drei Semestern Medizinstudium im Rücken einbilden, sie wüssten, was in den Köpfen anderer vorgeht. Und da die Irrenhäuser nun einmal da sind, muss man sie eben auch mit Irren fühlen, obwohl keiner dieser sogenannten Irrenärzte mit Sicherheit sagen kann, wer irre ist und wer nicht.“ (49)
Scharfsinnig und humorvoll sind Sarahs Gespräche mit ihrer Hündin Miss Brontë, der sie die ganze Geschichte erzählt. Die Hündin spendet der krebskranken Sarah Trost und Unterstützung, ihre pfiffigen Kommentare sind einfach genial und lockern das schwierige Thema auf.
Die Geschichte über Lil Cutting ist fiktional, doch genauso wie damals, gibt es auch heute viele Frauen, die das ähnliche Schicksal erleiden müssen. „Lil“ ist ein vielschichtiger, kluger Roman, über viele wichtigen Themen, die immer noch brisant sind. Dank der lebendigen und anschaulichen Erzählweise des Autors ist der Roman ein wahrer Lesegenuss, den ich wärmstens empfehlen kann.