Berührende, emotional geladene Geschichte über menschliche Schicksale und Grausamkeit
Mehr als die ErinnerungDas Buch:
Das Buch ist in 41 nicht allzu lange Kapitel eingeteilt. Der Hauptstrang spielt im Jahr 1920, weshalb diese Jahreszahl nur über dem ersten Kapitel zu finden ist. Bei Rückblenden in die Zeit ...
Das Buch:
Das Buch ist in 41 nicht allzu lange Kapitel eingeteilt. Der Hauptstrang spielt im Jahr 1920, weshalb diese Jahreszahl nur über dem ersten Kapitel zu finden ist. Bei Rückblenden in die Zeit des ersten Weltkriegs wird dies extra kenntlich gemacht, sodass der Leser zu jeder Zeit weiß, wo er sich befindet.
Das Cover des Buches hebt sich erfreulich von den heute beinahe standardisierten für historische Romane ab. Es zeigt ein Foto, welches in die Zeit des Romans passt und schon allein deshalb neugierig macht.
Worum geht’s?
Friederike von Aalen führt gemeinsam mit ihrem Vater Dr. Meinhardt auf Gut Mohlenberg eine Einrichtung für psychisch kranke Menschen – im Volksmund Irrenkolonien genannt. Sie kümmert sich rührend um ihre Patienten und ist der Überzeugung, dass es wichtig ist, auch und gerade geistig behinderten Menschen Zuwendung und eine Aufgabe zu geben, damit diese ein lebenswertes Leben haben können. Einer ihrer Patienten ist ihr Ehemann Bernhard, mit dem sie – trotz dass er nach einer Verwundung im ersten Weltkrieg geistig behindert ist – eine tiefe Liebe verbindet.
Nach einem Mord in der Nähe von Gut Mohlenberg wird einer ihrer Patienten – Kuno Pechstein – von Mohlenberg nach Langenhagen in die geschlossene Abteilung verlegt, weil jeder glaubt, dass nur er diesen Mord begangen haben kann. Doch dann geschieht ein zweiter Mord und Friederike beginnt auf eigene Faust Fragen zu stellen und Zusammenhänge zu finden.
Charaktere:
Melanie Metzenthin gelingt es in diesem Buch die perfekte Protagonistin und den ebenso perfekten Antagonist zu erschaffen. Während mir Friederike bereits auf den ersten Seiten überaus sympathisch erschien, bewirkte Dr. Weiß mit seiner distanzierten Art genau das Gegenteil. Zwar war meine Antipathie gegen ihn noch nicht besonders stark, jedoch mochte ich ihn einfach nicht. Er ist unglaublich kalt in seinen Äußerungen. Und selbst wenn man ihm zugutehalten möchte, dass er vielleicht ein persönliches Interesse an Friederike gehabt haben könnte, so kommt selbst dieses Interesse kalt und berechnend beim Leser an.
In diesen beiden Charakteren spiegeln sich die beiden Fraktionen der damaligen Psychologie wieder. Eine Seite setzte auf Fürsorge und gute Behandlung der Patienten, die andere auf Experimente und Verschluss der Menschen. Während am Anfang der Eindruck entsteht, dass alle auf Gut Mohlenberg auf die gleichen Behandlungsmethoden setzen, wird im Laufe der Geschichte klar, dass Dr. Weiß andere, eigene Ziele verfolgt. Er erforscht die Möglichkeit der Manipulation von Menschen. Diese Forschungen – insbesondere seine eingesetzten Mittel – habe ich als so abstoßend empfunden, dass sich bis zum Ende der Geschichte in mir eine tiefe Abneigung gegen diesen Charakter entwickelt hatte.
Neben Friederike sind mir Walter Pietsch – der Neue auf Gut Mohlenberg – und Bernhard – Friederikes Mann – sehr ans Herz gewachsen. Walter wirkte anfänglich etwas ambivalent. Ich wusste nicht genau, ob ich ihn mag oder nicht. Er hatte etwas zu verbergen und das passte mir irgendwie nicht, weil ich befürchtete, dass er die heile Welt auf dem Gut durcheinander bringen würde. Dennoch wirkte er in seinen Gesprächen mit Friederike aufrichtig, was ihm wiederum meine Sympathie einbrachte.
Bernhard hingegen muss man einfach von Anfang an mögen. Obwohl sein Geist während eines Unglücks im Krieg bedauerlichen Schaden genommen hatte, blieb er ein liebenswerter Mensch, der seine Frau über alles liebte. Im Laufe der Handlung entwickelt er sich vorteilhaft und der Leser kann sich in etwa einen Eindruck verschaffen, was für ein beeindruckender Mann er einmal gewesen sein musste. Mir fiel es am Anfang sehr schwer während der Dialoge mit ihm einen erwachsenen Mann vor meinem inneren Auge zu sehen, aber je weiter seine Entwicklung positiv voran schritt, desto wahrscheinlicher wurde das für mich. Im Nachhinein habe ich gedacht, der Autorin ist hier ein echter Geniestreich gelungen… denn sie beschreibt Bernhards anfänglichen Geisteszustand wie den eines 5jährigen. Allein durch seine Handlungsweisen und Dialoge hat sie es dann jedoch geschafft, dennoch den erwachsenen Mann zu zeichnen.
Auch alle anderen Charaktere werden ebenso vor dem inneren Auge lebendig. Hier besonders der arme Kuno. Mit ihm habe ich sehr gelitten, wenngleich ich mir das Ausmaß seines Leidens gar nicht wirklich vorstellen kann.
Schreibstil:
Nachdem ich von Melanie Metzenthin bereits „Die Hafenschwester“ gelesen hatte und sie mich dort mit ihren gründlichen Recherchen und dem plastischen Schreibstil überzeugt hatte, war ich sehr gespannt auf diesen Roman. Und auch hier gelingt es ihr vortrefflich eine Umgebung zeichnen, die dem Leser authentisch erscheint. Mithilfe von vielen Details – ohne detailverliebt oder ausschweifend zu werden – schafft die Autorin ein Bild jener Zeit, die dem Leser real erscheint. Auch dass zu dieser Zeit der Stand als solcher etwas zählt, bleibt dem Leser nicht verborgen; ein Detail, das ich wichtig finde. Eine von Friederikes Patienten ist nämlich die junge Juliane, die aus einer gut situierten Familie stammt und wegen Hysterie behandelt werden soll. Diese Patienten wurden im Allgemeinen anders behandelt als jene aus dem niederen Stand.
Mit ihrem flüssigen Stil zieht einen die Autorin in ihren Roman hinein. Es gibt Erkenntnisse, Wendungen und Spannungsbögen, die es dem Leser kaum ermöglichen, das Buch zur Seite zu legen. Kurzzeitig habe ich mir die Frage gestellt, ob ich eigentlich einen Krimi oder einen Roman lese. Die Ermittlungen, die Friederike anstellt und die Zusammenhänge, die sich am Ende offenbaren, hätten definitiv das Prädikat Krimi verdient!
Historischer Hintergrund:
Melanie Metzenthin ist selbst Psychologin. Sie erzählt in ihrem Buch über „Behandlungsmethoden“ von vor 100 Jahren, die den Leser in einer Art berühren, die alle Facetten an Emotionen zutage fördern können. Das Schlimme an diesen Behandlungsmethoden ist, dass sie tatsächlich so praktiziert wurden, wie die Autorin in ihrem ausführlichen Nachwort beschreibt. So manches Mal habe ich nur dagesessen und mit dem Kopf geschüttelt über die Grausamkeit der Handlungsweisen und über die emotionslosen Äußerungen der Mediziner jener Zeit. Geistig beeinträchtigte Menschen wurden schlimmer als Vieh behandelt und nur allzu oft bekommt man als Leser den Eindruck, dass deren Leben nicht mehr wert war, als dass es zu Experimenten herhalten konnte.
Auch beschreibt Melanie Metzenthin in ihrem Nachwort ausführlich die Benennung der Krankheiten, die sich im Laufe der Zeit doch sehr verändert haben. Was er davon hält, mag jeder Leser selbst beurteilen. Ich hatte nur einen Gedanken im Kopf: Die Politik von heute sollte andere Probleme haben, als die Benennung von etwas, nur damit es politisch korrekt ausgedrückt ist.
Fazit:
Wer dieses Buch liest, sollte sich emotional warm anziehen. Die Autorin zeigt ein sehr dunkles Kapitel Vergangenheit. Und das auf eine Art und Weise, der sich der Leser, steckt er erst einmal in der Geschichte drin, nicht mehr entziehen kann. Es ist ein Buch, das tief berührt und gleichermaßen erschüttert. Ein klares Must-read für alle Fans historischer Romane! 5 von 5 Sternen.