Profilbild von Barbara62

Barbara62

Lesejury Profi
offline

Barbara62 ist Mitglied der Lesejury

Melde dich in der Lesejury an, um dich mit Barbara62 über deine Lieblingsbücher auszutauschen.

Anmelden

Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 26.10.2018

Man erfasst einen Menschen nie ganz

Lempi, das heißt Liebe
0

Wer war Lempi und was ist mit ihr geschehen? Zu Beginn erscheint sie verschwommen wie die Frau auf dem unscharfen Cover, das hervorragend zu diesem Roman passt. Drei Personen erzählen in der Du-Perspektive ...

Wer war Lempi und was ist mit ihr geschehen? Zu Beginn erscheint sie verschwommen wie die Frau auf dem unscharfen Cover, das hervorragend zu diesem Roman passt. Drei Personen erzählen in der Du-Perspektive und im Präsens über sie: ihr Mann Viljami, mit dem sie ein halbes Jahr bis zu seiner Einberufung zusammengelebt hat, ihre Magd Elli und ihre Zwillingsschwester Sisko. Mit jeder Stimme wird das Bild schärfer – und doch hat Sisko sicher recht: „Man erfasst einen Menschen nie ganz.“

Das ausgezeichnete Nachwort der Übersetzerin Elina Kritzokat hilft bei der historischen Einordnung des Romans, denn über das Schicksal Lapplands im Zweiten Weltkrieg wusste ich leider wenig. Um sich nach dem Winterkrieg gegen Russland 1939 und dem Verlust von Teilen Ostkareliens vor weiteren russischen Angriffen zu schützen, ging Finnland von 1941 bis 1944 eine Waffenbruderschaft mit dem nationalsozialistischen Deutschen Reich ein. Finnen und Deutsche lebten und kämpften gemeinsam, bevor sie 1944 zu Feinden wurden. Finninnen, die sich mit Wehrmachtssoldaten eingelassen hatten, waren nun plötzlich Huren und Landesverräterinnen, ihre Kinder Bälger.

Während Sisko sich in einen Deutschen verliebt und von einer Zukunft in Hamburg träumt, will Lempi lieber einen Mann, der am Leben ist und Finnisch spricht. Sie, die temperamentvolle, mutige Kaufmannstochter mit Abitur heiratet mehr oder weniger zufällig den jungen Bauern Viljami und zieht nach Pusuoja am See Korvasjärvi. Der traut seinem Glück kaum, stellt die Magd Elli ein und verbringt einige traumhafte Monate mit Lempi auf seinem Hof. Als er seine Einberufung erhält, bleibt die schwangere Lempi mit der Magd auf dem Hof zurück. Er sieht seine Frau nie wieder, denn als er äußerlich unversehrt, aber durch die Nachricht von Lempis Verschwinden als gebrochener Mann zurückkehrt, findet er nur seinen Sohn Aarre, Lempis Pflegekind Antero und die Magd Elli vor.

Die drei Erzählstimmen des Romans liefern ganz unterschiedliche Perspektiven. Viljami berichtet in anrührender Weise über sein unfassbares Glück und die anschließende tiefe Verzweiflung und Trauer, Ellis legt ein Zeugnis des Hasses und der Eifersucht ab und präsentiert eine ganz andere Lempi, eine „nichtsnutzige Stadtgöre, verwöhnte, faule, wichtigtuerische „Samtsaumschlampe“, und Sisko, die elf Minuten jüngere Schwester, erzählt als alte Frau im Rückblick von der gemeinsamen Jugend und der innigen Verbundenheit, aber auch Rivalitäten, bis sie sich beide für so ganz unterschiedliche Männer entschieden. Ihr Bericht umfasst den größten Zeitraum und ist zugleich ein berührendes Dokument über das Schicksal der finnischen Wehrmachtsbräute.

Lempi, das heißt Liebe“ ist ein vielschichtiger Roman mit immer neuen überraschenden Wendungen, raffiniert aufgebaut und großartig erzählt. Es lohnt sich, nach dem Ende einige Stellen nochmals zu lesen, denn ich habe manches Detail erst beim zweiten Mal voll und ganz verstanden. Je mehr ich über Lempi erfuhr, deren Name im Altfinnischen „Liebe“ bedeutet, desto faszinierter war ich von diesem Debütroman der 1974 geborenen finnischen Bloggerin und Autorin Minna Rytisalo, die dafür zu Recht in ihrer Heimat mit Preisen bedacht wurde. Die Verflechtung individueller Schicksale vor dem Hintergrund der finnischen Geschichte ist großartig gelungen und eindeutig eines meiner Lesehighlights 2018.

Veröffentlicht am 16.10.2018

Zwischen zwei Welten

Unverfrorene Freunde
0

Seit fast 30 Jahren arbeitet der Meeresbiologe Klemens Pütz als Pinguinologe und verbringt dafür jedes Jahr mehrere Monate im subantarktischen Raum, dem entlegensten, kältesten, stürmischsten, trockensten, ...

Seit fast 30 Jahren arbeitet der Meeresbiologe Klemens Pütz als Pinguinologe und verbringt dafür jedes Jahr mehrere Monate im subantarktischen Raum, dem entlegensten, kältesten, stürmischsten, trockensten, isoliertesten und lebensfeindlichsten Kontinent. Damit ist er gleich seinen Forschungsobjekten ein Wanderer zwischen zwei Welten: Während er zwischen Bremerhaven und der Antarktis pendelt, wechseln die Pinguine zwischen Land und Meer. Kein Job für Weicheier, eher unromantisch, dafür aber auch niemals langweilig, wie er selbst es zusammenfasst, denn Pinguine leben unter extremen Bedingungen und vollbringen dafür unglaubliche Anpassungsleistungen. Als freier Pinguinforscher ist Klemens Pütz keiner universitären Bürokratie unterworfen und kann sich seine Themen selbst aussuchen, unterstützt von der Stiftung Antarctic Research Trust (ART), an deren Gründung er 1997 beteiligt war. Er betreibt Grundlagenforschung, Schwerpunkt ist das Verhalten der Pinguine auf See, wo sie 70 Prozent ihrer Zeit verbringen. Mit Sendern werden die Wanderungsrouten aufgezeichnet, mittels Magenspülungen untersucht, was sie unterwegs fressen. Die Arbeit besteht aus einer für mich erstaunlichen Mischung aus Hightech und sehr kreativer Improvisation, beides gut verständlich beschrieben. Ziel ist die Gewinnung von Daten, die sich vor allem für den Artenschutz einsetzen lassen, denn fast überall gehen die Pinguinpopulationen zurück. Dabei ist Klemens Pütz kein Aktivist, sondern Pragmatiker durch und durch, sucht überall Mittel und Wege zur Mitgestaltung und kennt keine Berührungsängste zu Wirtschaft, Politik und Tourismus. Trotz aller Sorgen um das Klima und die Folgen für "seine" Pinguine erkennt er auch Erfolge, was mir beim Lesen Hoffnung gemacht hat.

Ein Hauptanliegen des Autors ist es, mit Märchen und Mythen über Pinguine aufzuräumen, denn die Realität ist spannender als jedes Klischee. So habe ich beispielsweise erfahren, dass die befrackten Vögel keineswegs treu und monogam leben, dass Pinguinkolonien keine sozialen Verbände, sondern Zweckgemeinschaften sind, und dass man die charaktervollen Vögel weder nett noch niedlich nennen darf. Wahr ist dagegen, dass in der Pinguincommunity die Gleichberechtigung dank der bei beiden Geschlechtern vorhandenen Brutfalte vollständig umgesetzt ist, womit sie uns eindeutig eine Schnabellänge voraus sind.

"Unverfrorene Freunde" besteht hauptsächlich aus drei Teilen: „Pinguine an Land“, „Pinguine im Wasser“ und „Welt im Wandel – Pinguine in Gefahr“, zwischendurch bleibt Zeit für den interessanten persönlichen Werdegang des Autors. Zwei ausführliche Bildteile, die einerseits die arktische Tierwelt, andererseits den Forscher in Aktion zeigen, mehrere Zeichnungen und Karten, graue Kästen mit Informationen zu Begriffen wie „Subantarktis“, „Krill“, „Falklandkrieg“ oder „Antarktisvertrag“, eine Übersicht über den Grad der Gefährdung der 18 Pinguinarten sowie ein kleines Literaturverzeichnis runden dieses ebenso informative wie ausgesprochen unterhaltsame, oft in flapsigem Ton verfasste Sachbuch ab. Und da laut Klemens Pütz der Mensch das am ehesten zu schützen bereit ist, was er kennt, leistet dieses Buch hoffentlich auch einen wichtigen Beitrag zum Überleben der Pinguine. Ohne sie wäre unsere Welt um eine bedeutende Attraktion ärmer.

Veröffentlicht am 05.10.2018

Es kommt nicht auf die Körpergröße an

Emmi & Einschwein 2. Im Herzen ein Held!
0

Der erste Band dieser Reihe, „Emmi & Einschwein – Einhorn kann jeder!“, war mein Kinderbuch-Highlight 2018, mit „Emmi & Einschwein – Im Herzen ein Held!“ geht es nun genauso spannend, abenteuerlich und ...

Der erste Band dieser Reihe, „Emmi & Einschwein – Einhorn kann jeder!“, war mein Kinderbuch-Highlight 2018, mit „Emmi & Einschwein – Im Herzen ein Held!“ geht es nun genauso spannend, abenteuerlich und witzig weiter. Allerdings empfehle ich, den Einstiegsband zuvor zu lesen, um auch wirklich das ganze Vergnügen zu haben.

Seit Emmi wie alle Bewohner von Wichtelstadt zu ihrem zehnten Geburtstag ein Fabelwesen bekommen hat, geht es in der Familie Brix noch turbulenter zu. Ihr Einschwein hat einfach gar zu viel Blödsinn im Kopf und seine magischen Kochfähigkeiten scheinen ausbaufähig, zumindest wenn man nicht ständig „Rutschi-Matschi“ essen möchte.

Emmi hat sich nach dem ersten Schock über dieses vermeintlich peinliche Fabelwesen bestens arrangiert und ist glücklich mit ihrem Einschwein, denn es hat das Herz auf dem rechten Fleck und Langeweile ist nun ein Fremdwort! Anders jedoch Antonia, denn am Ende des ersten Bandes ist es beim Showdown in der Drachenhalle zu einer tragischen Verwechslung gekommen: Sie hat ihre liebliche Flussjungfrau Alva eingebüßt und muss sich seither mit dem ultrapeinlichen zweiköpfigen Mini-Spuckewurm Spuckizucki des fiesen Herrn Bockel herumschlagen. Ihre Stellung in der Klasse hat dadurch merklich gelitten, oder um es mit Einschweins Worten zu sagen: Ihre „Tollung“ ist weg. Klar, dass sie den Tausch unbedingt rückgängig machen will – und zwar schnell! Aber geht das überhaupt? Und wie soll man Herrn Bockel vom Rücktausch überzeugen, wo doch der Wurm offensichtlich über keinerlei Fähigkeiten verfügt? Oder hat man sie bisher nur noch nicht entdeckt? Ein Glück, dass Emmis Opa Erwin ein Fabelwesen-Experte ist, aber leider kann er nicht auf Lolita von Schnops grundlegendes Werk: „Die Kleinsten der Kleinen – Erste vollständige Liste aller Fabelwesen unter fünfzehn Zentimeter“ zurückgreifen, denn sämtliche Exemplare sind spurlos verschwunden...

Wie Emmi, Einschwein und Antonia schließlich in letzter Sekunde einen Ausweg finden, der alle glücklich macht, und wie sowohl der Wurm als auch Herr Bockel sich als ganz anders entpuppen als gedacht, erzählt Anna Böhm wieder mit sehr viel Einfühlungsvermögen, Witz und in schöner, klarer Sprache. Besonders hervorheben möchte ich auch die Schwarz-Weiß-Illustrationen meiner Lieblingsillustratorin Susanne Göhlich, die den Ton der Geschichte wieder optimal treffen.

Die Geschichte eignet sich ab der dritten Klasse zum Selberlesen, ab sechs Jahren zum Vorlesen. Wetten, dass die Vorleser genauso viel Spaß daran haben wie die jungen Zuhörer, Mädchen und Jungs gleichermaßen? Gemein nur, dass die im Anhang abgedruckte Leseprobe zu Band drei so abrupt abbricht und wir uns bis zum nächsten Abenteuer noch gedulden müssen. Bis dahin können wir uns aber zum Glück die Zeit mit dem Rezept für Einschweins Wurmküchlein vertreiben.

Veröffentlicht am 03.10.2018

Plötzlich ist alles anders

Ein Winter in Paris
0

Ein Brief erinnert Victor, Lehrer am Gymnasium und erfolgreicher Romanautor, glücklicher Ehemann und Familienvater, an eine unvergessene Katastrophe 30 Jahre zuvor. Er war damals knapp 19, Student im Vorbereitungskurs ...

Ein Brief erinnert Victor, Lehrer am Gymnasium und erfolgreicher Romanautor, glücklicher Ehemann und Familienvater, an eine unvergessene Katastrophe 30 Jahre zuvor. Er war damals knapp 19, Student im Vorbereitungskurs für den Concours, die Aufnahmeprüfung für eine der Grandes Écoles. Obwohl kein Überflieger innerhalb dieser Elite, hatte er zu seinem eigenen Erstaunen die Versetzung ins zweite Jahr geschafft, allerdings ohne jeden sozialen Kontakt, immer außen vor und als Provinzler aus bildungsfernem Elternhaus unsichtbar. Doch nun, im Herbst 1984, hatte er einen Schüler der Eingangsklasse kennengelernt: Mathieu, mit dem ihn nicht nur - wie er selbst meint - die gleiche Zigarettenmarke verbindet, sondern in meinen Augen auch die gleiche Einsamkeit und das Gefühl, am falschen Ort zu sein. Bevor die beiden sich jedoch näher kennenlernen und gerade als er ihn zu seinem Geburtstag einladen will, springt Mathieu im Schulhaus in den Tod: „...das Schimpfwort, der Schrei, der dumpfe Aufprall, das Kreischen der Bibliothekarin... Es war unser ganz persönlicher Horrorfilm.“ Das Drama reißt Victor aus seiner Unsichtbarkeit, denn als vermeintlicher Freund des Opfers ist er plötzlich gefragt: „Mein Leben hatte sich ordentlich bevölkert.“ Plötzlich interessiert sich der Klassenprimus für ihn, eine umschwärmte Studentin wird seine Freundin, Mathieus Vater sucht bei ihm nicht nur Erklärungen, sondern einen Ersatz für seinen Sohn, und er erlangt Macht über den verhasstesten Lehrer der Anstalt.

Es ist nicht ganz einfach, zu beschreiben, was mich an "Ein Winter in Paris" begeistert hat. Einmal ist es natürlich Jean-Philippe Blondels kritische Betrachtung der unmenschlichen Bedingungen in den Vorbereitungskursen auf den Concours, die er aus eigener Erfahrung kennt. Die Mischung aus Drill, brutalem Leistungsdruck, erbarmungsloser Konkurrenz, Erwartungshaltung der Eltern und Arroganz vieler Lehrer ist für sensible Jugendliche schwer erträglich. Der Selbstmord Mathieus führt in der Schule nicht zu einem Innezuhalten, zur Suche nach Erklärungen oder gar zum Überdenken der Methoden und die Schüler rebellieren gegen dieses Schweigen nicht. Andererseits fand ich aber auch die Unterschiede zwischen Parisern und „Provinzlern“, also dem Rest der französischen Bevölkerung, interessant, der erstaunlicherweise noch schwerer wiegt als das soziale Gefälle. In erster Linie ist es jedoch der Reifungsprozess Victors, über den er selbst in der Rückschau melancholisch, doch ohne Pathos reflektiert. Großartig ist sein Gespräch mit Mathieus Mutter, die ihm klarsichtig seinen Profit aus der Tragödie vor Augen führt, ihm vorwirft, beim Vater den Toten ersetzen zu wollen, und ihm unmissverständlich klarmacht, dass er niemanden retten muss und kann und stattdessen mit dem eigenen Leben beginnen soll.

Dieses kleine, noch nicht einmal 200 Seiten starke Büchlein mit dem sehr gut zur Stimmung passenden Schwarz-Weiß-Cover ist ein ruhig erzählter, einfühlsamer Roman über das Erwachsenwerden, Eltern-Kind-Beziehungen, Einsamkeit und den Wunsch dazuzugehören, unmenschliche Bildungseinrichtungen, Schuldgefühle und Trauer, Ursachenforschung für einen Selbstmord und über das Leben mit einer traumatischen Erfahrung.

Veröffentlicht am 27.09.2018

Was bleibt?

TEXT
0

Bei russischer Literatur denke ich gewöhnlich eher an Klassiker als an zeitgenössische Autoren, deshalb war ich sehr gespannt auf diesen siebten Roman des 1979 in Moskau geborenen Dmitry Glukhovsky. Sein ...

Bei russischer Literatur denke ich gewöhnlich eher an Klassiker als an zeitgenössische Autoren, deshalb war ich sehr gespannt auf diesen siebten Roman des 1979 in Moskau geborenen Dmitry Glukhovsky. Sein internationaler Millionenbestseller „Metro“ hätte mich als dystopische Science-Fiction-Trilogie nicht interessiert, aber dieser neue Roman „Text“ klang vielversprechend. Dass er mich jedoch so sehr fesseln würde, hat mich überrascht. Vielleicht liegt es daran, dass „Text“ Dostojewskis immer aktuelle Frage nach "Schuld und Sühne" – oder in der modernen Übersetzung "Verbrechen und Strafe" – in modernem Gewand wiederaufwirft.

Sieben Jahre Straflager Solikamsk, von denen jedes dreifach zählte, liegen hinter dem Ex-Studenten Ilja, als er 2016 in seinen Heimatort Lobnja bei Moskau zurückkehrt. Er verdankt sie einem korrupten jungen Beamten, Pjotr Chasin, der ihm bei einer Drogenkontrolle Kokain untergeschoben hat. Nur die Mutter hat Ilja die Treue gehalten, hat an den nun 27-jährigen Sohn und dessen Zukunft geglaubt, doch als er heimkehrt, ist sie gerade einem Herzinfarkt erlegen. Die Kohlsuppe für ihn steht noch in der geplünderten Wohnung, rührendes Indiz der Wiedersehensfreude. Seine Ex-Freundin, die er bei der Razzia gegen die Zudringlichkeiten Chasins verteidigt hat, ist längst anderweitig liiert, der beste Freund fremd geworden. Was ihm bleibt, ist der Hass auf Chasin, „das Schwein“, inzwischen Major. In der ersten Nacht in Freiheit sucht Ilja ihn angetrunken auf, stellt ihn zur Rede, ersticht ihn aus schierer Verzweiflung im Affekt und entsorgt die Leiche unter einem Deckel der Kanalisation. Sein iPhone nimmt er mit und dank der darauf gespeicherten Chats, Mails, intimen Bilder und Videos wird er sich in den nächsten Tagen in Chasins Leben hacken, dessen Rolle weiterspielen und über den Toten in der Kanalisation sagen: „Da oben, da spiele ich dich, und ich weiß gar nicht mehr, wo du aufhörst und wo ich anfange.“ Nun ist Ilja der, der Chasins Angelegenheiten regelt, mit dessen zunehmend besorgteren Mutter, der schwangeren Freundin Nina, dem wütenden Vater und den Kontaktleuten aus dem Drogenmilieu kommuniziert und entscheidende Weichen stellt. Einige Tage lassen sich alle hinhalten, denn der Major tauchte immer wieder ab, beruflich oder wegen dubioser Geschäfte. Doch dann zieht sich die Schlinge um Ilja immer enger zusammen, denn „Ilja war allein, sie unendlich viele“.

Was mich beim Lesen so begeistert hat, ist die personale Erzählweise rein aus Iljas Sicht, die nur durch die Textnachrichten der Handypartner unterbrochen wird. Obwohl kein Krimi, war die Handlung für mich doch unglaublich spannend und hat mich wie ein Sog erfasst. Auch wenn das Zusammenbasteln von Chasins Leben aus digitalen Puzzleteilen manchmal etwas konstruiert wirkt, hat mich das kaum gestört. Die fortschreitende Verschmelzung Iljas mit seinem Peiniger ist psychologisch dafür umso besser gelungen, besonders wenn Ilja vergisst, dass Nina nicht seine, sondern die Freundin seines ermordeten Kontrahenten ist. Alles gipfelt in einem finalen Gewissenskonflikt und im Showdown, in dem es nur Verlierer gibt.

„Es gibt Menschen, von denen bleibt etwas, und von anderen Menschen bleibt nichts“, schließt dieser ebenso düster-bedrückende wie großartige Roman. Menschen wie Ilja, die dem System Putin chancenlos ausgeliefert sind, gehören zu den Letzteren.