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Batyr

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Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 11.10.2022

Too Much

People Person
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Eine wilde Herzjagd durch Themen, Handlungselemente, Charaktere, Stilebenen erwartet den Leser.

Im Eingangsteil glaubt er noch, es mit einer Familiengeschichte der dysfunktionalen Provenienz zu tun zu ...

Eine wilde Herzjagd durch Themen, Handlungselemente, Charaktere, Stilebenen erwartet den Leser.

Im Eingangsteil glaubt er noch, es mit einer Familiengeschichte der dysfunktionalen Provenienz zu tun zu haben, mit einer Vaterfigur, die nicht einmal den Mindestanforderungen für diese Rolle genügt.

Dann allerdings schlägt die Handlung nach einem beträchtlichen Zeitsprung jäh um in eine toxische Beziehungsgeschichte der mittleren Tochter, die umgebogen wird zu einer parodistischen Krimistory, burlesk etwa im Stil von der „Ehre der Prizzis“ oder „Blues Brothers“.

Erneut wird ein Haken geschlagen, und es folgen endlose Ausführungen in Küchenpsychologie, in der alle fünf Geschwister mit Knacks den Weg der Läuterung beschreiten, gipfelnd in dem schlichten Happy Ending des Ich-bin-okay-du-bist-okay, abgerundet durch das Abtreten der nunmehr entbehrlichen Generationen.

Wes Geistes Kind die Autorin ist, erweist sich in der 6(!)seitigen Danksagung, die in bemühtem Witz einer ungezählten Anzahl von Unterstützern und Weggefährten ihre Reverenz erweist.

Weniger wäre mehr gewesen: die Entwicklung von Resilienz in allen fünf Geschwistern darzustellen, um den Mangel an Verantwortungsbewusstsein, Interesse und Fürsorge vonseiten ihres Erzeugers zu kompensieren, hätte einen höchst befriedigenden Familienroman ergeben können.

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Veröffentlicht am 08.10.2022

Polyperspektive

Verbrenn all meine Briefe
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Auch in seinem zweiten Roman wendet Schulman das Kompositionsprinzip mehrsträngigen Erzählens an. So rezipiert der Leser insgesamt drei gänzlich unterschiedliche Romane, je nachdem, auf welchen Bereich ...

Auch in seinem zweiten Roman wendet Schulman das Kompositionsprinzip mehrsträngigen Erzählens an. So rezipiert der Leser insgesamt drei gänzlich unterschiedliche Romane, je nachdem, auf welchen Bereich sich gerade der Fokus richtet.
Zu Beginn haben wir es mit einer modernen Betroffenheitsgeschichte zu tun. Der Ich-Erzähler registriert, wie dysfunktional sein Familienleben ist, kommt durch Reflexion zu dem Schluss, dass die Schuld bei ihm liegt, und nimmt therapeutische Hilfe in Anspruch. So weit, so gut - und so breit ausgewalzt, wie man auch leider zu Protokoll geben muss.
In einer ersten Ebene des Rückblicks konzentriert sich dieser Protagonist sodann auf eine frühe Zeit eigenen Erlebens, Figuren und Ereignisse aus der Kindheit treten aus dem Schatten der Vergangenheit, um bei genauer Betrachtung ganz neu bewertet zu werden.
Diese gewonnenen Erkenntnisse schließlich führen dazu, dass in detektivischer Kleinarbeit Zeugnisse und Hinweise aus dem Leben der Großeltern ans Tageslicht gefördert werden, die den Autor dazu motivieren, in einem schöpferischen Akt den Roman der toxischen Beziehung zwischen Sven, Karin und Olof zu imaginieren.
Der Leser hat die Freiheit, diese drei Teile jeweils einem bestimmten Genre zuzuordnen: also zunächst dem introspektiv angelegten autobiografischen Roman, sodann der Gattung der Familiengeschichte als ‚memoir‘, sowie zuletzt dem Eheroman mit historisch-gesellschaftlich-psychologischem Schwerpunkt.
Wie allerdings die Qualität dieser drei Teile bewertet wird, welches Interesse ihnen jeweils entgegengebracht wird, ist absolut subjektiv!

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Veröffentlicht am 02.10.2022

Die Lebenden und die Toten

Der Klang der Erinnerung
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Die Lebenden und die Toten

Ein bemerkenswertes Debüt hat Jo Browning Wroe hingelegt, führt sie doch einerseits in die bekannte Sphäre Großbritanniens in den 50ern, mit seiner Nachkriegsnot, seiner sozialen ...

Die Lebenden und die Toten

Ein bemerkenswertes Debüt hat Jo Browning Wroe hingelegt, führt sie doch einerseits in die bekannte Sphäre Großbritanniens in den 50ern, mit seiner Nachkriegsnot, seiner sozialen Enge, seiner kulturellen Identität. Andererseits aber gewinnt der Leser Einblick in eine vollkommen fremde Welt: das Bestattungswesen, aus dessen Tradition die Autorin selbst stammt und die sie somit authentisch darstellt. Der junge Held William sieht sich zwischen zwei Fronten. Der Bruder des verstorbenen Vaters führt gemeinsam mit seinem Lebensgefährten den Familienbetrieb der Bestattungsfirma weiter, die Witwe will ihren Sohn bewußt von diesem Beruf und dem gesellschaftlichen Tabu der Homosexualität fernhalten. Gezielt löst sie William aus der harmonischen Beziehung zu den beiden männlichen Bezugspersonen und verfolgt zäh ihren eigenen Lebensentwurf für ihren Sohn: eine künstlerische Ausbildung als Sängerknabe im renommierten Chor von Cambridge, verdrängend, in welchen Konflikt sie William stürzt. Trug die Darstellung des Kindes übermäßig die Züge einer Figur wie von Charles Dickens, so gewinnt der hin und her gerissene Jugendliche ein zunehmend prägnanteres Profil. Es kommt zu einem frustrierenden Misserfolgserlebnis, in dem die Mutter menschlich versagt, von der sich der Sohn in der Folge lossagt. Was sie hat um jeden Preis verhindern wollen, tritt ein: William gibt die musikalischen Ambitionen zugunsten einer Ausbildung im Bestattungswesen auf, und unmittelbar nach deren Ende wird William einer existentiellen Prüfung unterzogen. Ein traumatischer Einsatz bei einem, historisch realen Grubenunglück in Wales führt William an seine emotionalen Grenzen. Aber ein vielfältiger, langwieriger Reifungsprozess wird in Gang gesetzt, und der Roman bietet eine faszinierende Lektüre, bei der die Hauptfigur beständig oszilliert zwischen dem Reich der Lebenden und der Toten.

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Veröffentlicht am 01.10.2022

Zurück auf Anfang, aber ganz woanders

Simón
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Zurück auf Anfang, aber ganz woanders

Bei der Lektüre wird der Leser den Verdacht nicht los, dass der Autor vom Ehrgeiz beseelt ist, partout am Welterfolg von Zafons ‚Der Schatten des Windes‘ anknüpfen ...

Zurück auf Anfang, aber ganz woanders

Bei der Lektüre wird der Leser den Verdacht nicht los, dass der Autor vom Ehrgeiz beseelt ist, partout am Welterfolg von Zafons ‚Der Schatten des Windes‘ anknüpfen zu wollen.
Der Anfang des Romans weckt Erwartungen, determiniert durch die Verknüpfung der Stadt Barcelona mit der Welt der Literatur. So wird der halbwüchsige Rico für seinen jüngeren Cousin Simón zum Cicerone ins Land der Bücher. Doch bereits hier wird ein gewisses Misstrauen geweckt: allzu selbstverliebt geraten die sprachlichen Pirouetten, allzu bemüht das Streben, in der Symbiose der beiden Jungen und dem nächtlichen Streifzug durch die Stadt eine magische Stimmung zu erzeugen.
Das plötzliche Verschwinden des Älteren wird künstlich mit Bedeutung aufgeladen, erst im Laufe des Romans enthüllt sich die ganze Banalität seines Lebenswegs. Ebenso kleinschrittig entfaltet sich die Entwicklung des Jüngeren. Überfrachtet mit Details wird der dornige Weg der Qualifikation zum Spitzenkoch beschrieben, eine Vielzahl weiterer Figuren bevölkern diesen Handlungsabschnitt, ohne dass diese mit wirklich prägnanten Charakterzügen ausgestattet werden.
Eine Vielzahl von Missgeschicken, bedauerlichen Wendungen des Handlungsfortgangs befördern den Abstieg des Helden, der in penetranter Weise auch ständig so apostrophiert wird, und nachgereicht wird die Schilderung von Ricos jämmerlichem Dasein: kein Aufstieg, vielmehr ein beständiges Verharren in einem sich beständig drehenden Karussell des Elends. So treffen denn die beiden Hauptfiguren erneut am Ausgangspunkt ihrer Existenz zusammen. Die Literatur, in ihrer Jugend angeblich ein identitätsstiftendes Moment, ist zu einem bloßen name dropping herabgekommen: der weibliche Gegenpart des Duos nutzt sie allein als Sprachrohr ihrer woken Weltsicht. Die gemeinsam entwickelte Geschäftsidee verknüpft oberflächlich diese beiden Bereiche: der antiquarische Buchhandel, wie er im ersten Teil noch als typischer Bestandteil des Lebensgefühls von Barcelona behauptet wurde, mit der inzwischen untergegangenen Kneipenkultur der Elterngeneration. Gänzlich unorganisch die Einarbeitung der realen Ereignisse terroristischer Anschläge, die letztlich nur dazu dienen mögen, die Unmöglichkeit zu konstatieren, eine vergangene, magisch aufgeladene Szenerie aufrecht zu erhalten, so wie die menschlichen Schicksale gleichfalls der Tristesse anheimfallen.
Mein Urteil: 2 Sterne

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Veröffentlicht am 26.08.2022

Kein Plan ist auch ein Plan

Sanfte Einführung ins Chaos
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Mit anthropologischem Interesse richtet der Leser fortgeschrittenen Alters seinen Blick auf Dani und Marta: sind Mittdreißiger heute so jung, kindlich … infantil? Schon durch ihre Berufswahl etikettieren ...

Mit anthropologischem Interesse richtet der Leser fortgeschrittenen Alters seinen Blick auf Dani und Marta: sind Mittdreißiger heute so jung, kindlich … infantil? Schon durch ihre Berufswahl etikettieren sich die beiden Protagonisten als typische Vertreter ihrer Generation: was mit Medien, und der Hund aus dem Tierheim soll wohl als vergleichsweise anspruchsloses Objekt für ein versuchsweises Ausagieren von Verantwortungsbewusstsein fungieren.

Doch ganz allmählich entfaltet sich ein fein ziseliertes Psychogramm. Unter der enervierenden Fassade dieser Zeitgenossen des Millennium kommen abwechselnd zwei Individuen zu Wort, die ihre Geschichte haben, Traumata, Sehnsüchte. Der Titel des Romans entpuppt sich als Titel eines Songs - dem deutschen Leser natürlich nicht geläufig - der den Schlüssel bildet, um die Gestimmtheit dieser Altersgruppe überhaupt zu erfassen.

Sehr gekonnt, das Ereignis selbst, auf das die ganze Romanhandlung zusteuert, zu guter Letzt auszusparen. Auf diese Weise vermeidet die Autorin die Darstellung eines emotionalen Höhepunkts, es bleibt dem Rezipienten überlassen, die Leerstelle zu interpolieren, entsprechend der Vorstellungen, die das Gelesene hervorgerufen hat.

Verhalten, gedämpft, resignativ das Fazit, der Ausblick auf das Leben, in das eine endgültige Entscheidung ihre Spuren eingegraben hat.

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