Anregende Unterhaltung und Erkenntnisgewinn
Das Tristmon-ProjektVor meiner nächsten Bahnfahrt durch die verschneite Landschaft musste ich mich für ein Begleitbuch entscheiden. Gerlind schob mir zwei interessant aussehende Bände zu. Nach einem Blick auf die Verlagsangaben ...
Vor meiner nächsten Bahnfahrt durch die verschneite Landschaft musste ich mich für ein Begleitbuch entscheiden. Gerlind schob mir zwei interessant aussehende Bände zu. Nach einem Blick auf die Verlagsangaben griff ich nach dem „Tristmon-Projekt“ von Viktoria und Sebastian Hug. „Books on Demand – BoD“ – nach dem Glücksgriff mit dem „Minuteman-Algorithmus“ gab es für mich keine weiteren Zweifel. Und, ich sage das vorab, ich wurde nicht enttäuscht. Der Verlag der Selbstverleger scheint eine Fundgrube für Literaturentdeckungen zu sein!
Die von der ersten Zeile an spannende Geschichte enthält alle Zutaten, die sowohl anregende Unterhaltung als auch Erkenntnisgewinn versprechen. Wie jede gute Literatur zitiert sie in der Figurenzeichnung und Erzählführung große Vorbilder und integriert mit leichter Hand universell bewährte Versatzstücke aus dem Fundus von History, Fantasy und Mystery.
Nummer 349 z.B.: Yan Pavel, der zu Zwangsarbeit verurteilte Grubenarbeiter, ließ mich sofort an Nummer D-503 aus Samjatins „Wir“ denken. Und da schweifte der Gedankengang weiter zum erst vor kurzem gelesenen „Minuteman-Algorithmus“ ab. Der Arzt, der auf Verlangen des Grubendirektors, Nummer 349 aufgrund der scheinbar unheilbaren Verletzungen nach der Gasexplosion im Schacht, abschreibt, ist scheinbar menschlicher als der sadistische Ariosoph Dr. Lomer (der D-503 direkt zitiert), die Situation, die das Autorenduo mit großer stilistischer Kunstfertigkeit beschreibt, nicht weniger beklemmend.
Dem Grubenunglück, in dessen Folge Nummer 349 schwerste Verletzungen davonträgt, hat er andererseits seine Freiheit zu verdanken. Und die führt ihn auf eine versteckte Forschungsstation im Gebirge (!), in der der geniale Wissenschaftler (!) Richmut-Tristmon im Regierungsauftrag an einem Geheimprojekt arbeitet. Soviel sei verraten: Es geht nicht nur um Krieg und Frieden, sondern auch um Dämonen, die Liebe und jede Menge philosophischer Reflexionen zu universellen Fragen der Menschheitsgeschichte.
Alles so kunstfertig fein ziseliert beschrieben, dass beim Lesen ein Sog entsteht, der das ganze Sein des Lesers förmlich in die Geschichte hineinzieht. Nach dem Lesen brauchte ich ein paar Momente, um mich in meiner eigenen Wirklichkeit wiederzufinden. Und trotz der mentalen Realisierung der an mir vorbeirauschenden weißen Landschaft, blieb ich noch bis zum Zielbahnhof in der phantastischen Welt von Nummer 349 stecken.
Wie könnte man das Genre beschreiben? Am ehesten als eine gelungene Kompilation bester Elemente aus History, Fantasy und Mystery. Stilistisch und intellektuell auf hohem Niveau, so dass Spannung und Erkenntnisgewinn von der ersten bis zur letzten Seite garantiert sind. Immer wieder erstaunt die überraschende Handlungsführung.
Und gibt es kritikwürdiges zu vermelden? Kleinigkeiten, die dem insgesamt positiven Eindruck nicht das Geringste anhaben können. Eigentlich fällt mir nur die etwas seltsam anmutende Schreibweise der Namen ein. Wer schreibt schon Yan Pavel mit „Y“? (Karol Wojtyla z.B. war Jan Pawel) Andererseits passen zur Fantasy-Welt auch solcherart gestaltete Fantasienamen.
Ach ja, da gab es noch etwas: Nicht „Ihrer Majestät des Kaisers“ muss es heißen, sondern „Seiner …“
Am Ziel habe ich einen Moment gezögert. Sollte ich das Buch wirklich liegenlassen? Oder nicht besser nochmals lesen, da es so gut war? Nein, ich habe es auf bewährte Weise platziert, damit diese wunderbare Erzählung weitere Leser findet.
P.S. Danke auch an Rosecarie, die hier in der Lesejury als erste auf meine Anmerkungen aufmerksam geworden ist. Und die als Motto Nietzsche zitiert: Ein Buch, das man liebt, darf man nicht leihen, sondern muss es besitzen.
Ich weiß nicht recht. Muss man wirklich alles besitzen? Ein gelesenes Buch hinterlässt ja seinen Inhalt im Gedächtnis, im Gefühl. Und wenn es gut war, dann soll, ja dann muss man es weitertragen. Deshalb lasse ich meine Bücher zirkulieren, damit sie ihren weiteren Weg vom Schicksal geleitet finden.
P.S. 2: Nietzsche gehört auch zu Dr. Lomers Lektüre.