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Veröffentlicht am 26.02.2021

Die würdige Aufgabe der Wirklichkeitsflucht

Die unglaublichen Abenteuer von Kavalier & Clay
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Joe Kavalier und Sammy Clay sind zwei sehr verschiedene junge Männer, die Ende der 1930er in das Comic-Geschäft einsteigen, als dort gerade die „Goldenen Jahre“ herrschten. Clay hat den Kopf voller Ideen ...

Joe Kavalier und Sammy Clay sind zwei sehr verschiedene junge Männer, die Ende der 1930er in das Comic-Geschäft einsteigen, als dort gerade die „Goldenen Jahre“ herrschten. Clay hat den Kopf voller Ideen und den Anspruch, diesen Ideen Hand und Fuß zu verleihen. Wenn ein Superheld fliegen können soll, interessiert ihn: Warum kann er das? Ein Beweis durch Behauptung kennzeichnet in seinen Augen Schund, von dem es in der Comicwelt jede Menge gab, je länger, je mehr. Autor Michael Chabon lässt Sammy deshalb im Laufe des Romans immer wieder tolle Comichelden entwerfen, die eine klare Motivation haben, einen nachvollziehbaren Hintergrund und einzigartige Facetten. Das macht sogar Spaß zu lesen, ohne die Bilder sehen zu können.

Sammys Meisterstück ist freilich „Der Eskapist“, ein Entfesselungskünstler der besonderen Art: Zwar steht er auch auf der Bühne mit seiner Kunst, vor allem aber ist sein Auftrag, Menschen aus ihren Fesseln zu befreien, sie aus ihrer Zwangslage zu holen oder ihnen Freiheit zu verschaffen. Der Eskapist ist der Befreier der Versklavten, Unterjochten und Verfolgten.

Dahinter steckt die zweite Hälfte von Kavalier & Clay, nämlich der Zeichner Joe Kavalier, der aus Prag stammt, Zauberer und Entfesselungskünstler werden wollte und die „feinen Künste“ an der Universität studiert hat, bis die Besetzung der Tschechoslowakei durch die Nazis den Juden Josef Kavalier zur Flucht gezwungen haben. Joes Mission ist die Rettung seiner Familie aus den Klauen der Nazis und gleichzeitig der Kampf gegen diese mit den Mitteln des Comics.

Das ist in vielerlei Hinsicht ein geniales Romankonzept, wofür Chabon zurecht den Pulitzerpreis erhalten hat. Denn mit der Figur des Eskapisten ist ein Wesensmerkmal von Comics Gestalt geworden, nämlich die Fähigkeit zur Immersion in eine Erzählwelt (was auch beim Lesen geschehen kann und heutzutage in der virtuellen Realität angestrebt wird). Häufig wird der Begriff „Wirklichkeitsflucht“ hierfür verwendet und sogar abschätzig gemeint, dabei ist die „Freiheit der Phantasie [..] keine Flucht in das Unwirkliche; sie ist Kühnheit und Erfindung“ (Ionesco) oder gar – um es mit Kafka zu sagen: „Das ist Literatur. Flucht vor der Wirklichkeit.“

Joe Kavalier ist als Entfesselungskünstler ausgebildet und entfesselt sich aus der Umklammerung durch die Nazis, um später eine Figur namens „Der Eskapist“ zu kreieren. Genial. Oder um es mit seinen eigenen Worten zu sagen: „Die Flucht vor der Wirklichkeit war in seinen Augen – besonders unmittelbar nach dem Krieg – eine würdige Aufgabe.“ (S. 733) Jos Wirklichkeit ist – wie die seiner jüdischen Zeitgenossen – eine zum Davonlaufenwollen. Die Comicfigur ist aber auch ein Erretter einer ganzen (auch amerikanischen) Generation von ihren Ängsten und Erfahrungen.

Neben der zum Teil tief in die Geschichte des Comics einsteigenden Geschichte dreht sich die Handlung um die beiden Cousins und eine Frau, Rosa Saks, und um das Drama der Familie Kavalier. Die Handlung wird durch die Setzungen der Zeitläufte (Krieg, Senatsanhörung gegen die Verführung Minderjähriger durch Comics) vornagetrieben und durch die Fahler der Protagonisten, die zwei Männer sind, „deren Lösungen ausnahmslos komplizierter oder extremer waren als die Probleme, die ihnen vorausgingen.“ (S. 711) Das ist nicht immer spannend, aber immer lesenswert, so dass am Ende schwer zu sagen ist, warum der Roman 811 Seiten hat.

Eine besondere Gestalt im Roman ist der Golem und gleichzeitig das Bindeglied zum Jüdischen der Geschichte. Zum einen ist der zum Leben erwachte Lehmkörper eine zutiefst mit dem jüdischen Prag verbundene Legende, weshalb seine Rettung vor den Nazis folgerichtig erscheint, zum anderen die die Geschichte des zum Leben erweckten, künstlichen Wesens, dessen Kräfte hilfreich sein sollen, eine Art Vorläufer zur Erfindung von hilfreichen Superhelden. Dass er sich in der ganzen Geschichte nicht abschütteln ließ, unterzieht den Roman mit einem mystischen Bedeutungsfundament.

Keine Angst vor 800 Seiten: Chabons Roman ist ein kluger, humorvoller, tiefsinniger und comic-nerdiger Schmöker.

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Veröffentlicht am 26.02.2021

Brillant analysiert und erschreckend bloßgelegt – die USA und ihre tiefe Spaltung

Der tiefe Graben
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Ezra Klein ist politischer Journalist und begleitet seit Jahren in unterschiedlichen Funktionen auf unterschiedlichen Ebenen die amerikanische Politik – regional wie national. Klein ist Mitbegründer des ...

Ezra Klein ist politischer Journalist und begleitet seit Jahren in unterschiedlichen Funktionen auf unterschiedlichen Ebenen die amerikanische Politik – regional wie national. Klein ist Mitbegründer des Internetportals „Vox“, das sich dem „explanatory journalism, also der erklärenden Berichterstattung verschrieben hat. Oder anders gesagt: Klein weiß, was er tut. Vor allem ist er in der Lage, sich immer wieder neben sich zu stellen und zu erläutern, warum er die Sachlage so und nicht anders interpretiert, weil er selbst selbstverständlich eine Ansicht und politische Neigung hat, die man als Leser immer mitdenken solle. Auch ohne diese metamethodischen Hinweise kommt man recht schnell dahinter, dass Ezra Klein ein demokratischer, eher liberaler Jude ist, zudem Vater und Veganer. Bemerkenswert an der Darstellung Kleins ist allerdings, dass er stets den Eindruck vermittelt, eine erschöpfende Datenlage auf den Tisch zu legen, die ihn von dem Vorwurf der Parteilichkeit weitestgehend freisprechen kann.

Ausgangspunkt der Darstellung ist die Frage, ob die Wahl Donald Trumps 2016 ein Versehen gewesen ist, ein Ausrutscher, der sich durch eine Verkettung unglücklicher Umstände „passiert“ ist, oder ob da etwa mehr hintersteckt. Von hier aus breitet Klein eine faktengesättigte Analyse seines Landes aus, das seit mindestens 20 Jahren tief gespalten ist und durch das „der tiefe Graben“ geht, der dem Buch den Titel gegeben hat. Auslöser für die politischen Verwerfungen macht Klein eine Menge aus – soziographischer Wandel, ökonomische Krisen, Identitätsprobleme, strukturelle Schieflagen. Immer wieder sind es einzelne Ereignisse und Personen, an den Klein Wegpunkte markieren und Abzweigungen festmachen kann, etwa als Präsident Reagan das Gebot ausgewogener Berichterstattung für die Presse aufhebt – das erst machte die tendenziöse „Lügenpresse“ à la Fox News, Breitbart & Co. Möglich – oder die verhängnisvolle Modifikation der Filibuster-Regel, deren Anwendung es der Senatsmehrheit ermöglicht, sogar den Beginn parlamentarischer Debatten zu verhindern – nicht nur den Ausgang per Abstimmung. Auch die Gesetze, die Spenden an Parteien neu regelten, haben einen ähnlich verheerenden Einfluss gehabt.

Zwei Ansätze sind besonders überzeugend, um die Zerrissenheit des Landes zu erklären: Zum einen der psychologische Zugang zum Einzelnen, zum anderen die Auseinandersetzung mit dem Zweiparteiensystem.

Klein zitiert jede Menge psychologischer und soziologischer Studien zu Gruppen verhalten, zu Interessenverschiebungen, zu Vereinzelungs- oder Abstiegsängsten, die deutlich machen, warum die Amerikaner für die Polarisierung ihrer politischen Einstellungen so anfällig sind. Die Studien belegen, wie Rollen bzw. Identitäten sich in den Vordergrund drängen und radikalisieren – nicht nur als Fan einer bestimmten Sportmannschaft oder als Hundehalter, sondern fundamentale Wesensmerkmale wie Mitglied einer bestimmten Rasse, sozialen Schicht oder Inhaber bestimmter rechtlicher Privilegien. Interessanterweise sind die wünschenswerten gesellschaftlichen Veränderungen der letzten 70 Jahre, in denen die USA eigentlich mehr Gleichheit geschaffen heben etwa durch die Aufhebung der rassistischen Gesetze zur Unterdrückung Farbiger, gleichzeitig Angsttreiber bei denen, die sich in ihren gekannten Freiräumen eingeengt fühlen. Gefühlte Herabsetzung ist hier ein >Schlüssel zum Verständnis der Hinwendung zu politischen Scharfmachern, die eine Rückkehr in die heile Welt versprechen. „Make America Great Again“ ist ein Schlachtruf für jene, die unter dem Eindruck stehen, die modernen Entwicklungen hätten sie abgehängt. In dem Augenblick, in dem demokratische Politiker weiter an der Gleichheitsschraube drehen – Spracheregelungen immer wieder auftretende Empörungswellen in den sozialen Medien – werden gleichzeitig auf der Gegenseite Abwehrmechanismen aufgewertet. Polarisierung beginnt und wird verstärkt. Klein zeigt eindrucksvoll, wie sich nach dem kybernetischen Prinzip – je mehr, desto mehr – die Polarisierung selbst bedient und anwächst, sei es durch politische Scharfmacher, sei es durch eine entfesselte Presse, sei es durch Parteimanöver bis in den Supreme Court. Beängstigend daran ist, dass sich hieraus eigentlich kein Ausweg finden ließe außer durch Selbstbeschränkung der Wähler im Kleinen und der Parteirepräsentanten (das sind nicht wirklich Politiker) im Großen. Das wird wohl nicht geschehen, ehe das System implodiert. Klein selbst gibt in seinem letzten Kapitel auch nur unbefriedigende Analyseansätze zur Lösung des Dilemmas.

Die zweite Ursache liegt im Zweiparteiensystem, das ja in seiner Grundkonstellation schon Polarisierung hervorrufen kann. Dass sich diese erst jüngst eingestellt hat, verblüfft, aber hier zeigt Klein sehr anschaulich, wie die Parteiidentitäten bis vor etwa 30 Jahren deutlich überlagert waren von regionalen Identitäten: Die Dixie-Demokraten des Südens haben im Zweifel ihren eigenen Präsidenten auflaufen lassen, wenn es gegen die Interessen der Südstaaten ging. Die Republikaner des mittleren Westens waren selbstredend für ein Krankenversicherungssystem für alle, weil es ihrer regionalen Klientel zugutekam. Wie hier die Identitätstektonik durch Medien und Parteimänöver, durch Migration und ökonomische Entwicklungen in Verschiebung geriet, erläutert Klein auch historisch. Für mich besonders interessant der Erklärungsansatz, dass in einem Zweiparteiensystem die Minderheit, wenn sie einer besonders großen Mehrheit gegenübersteht, zu mehr Kompromissen bereit sein muss, eine Mehrheit hingegen zu mehr Kompromissen bereit sein kann und darf. Erst heutzutage, wo die jeweilige parlamentarische Mehrheit knapp geworden ist und auch auffällig häufig wechselt, stehen die Reihen geschlossen und werden Zugeständnisse nicht mehr gemacht. Überzeugend – und dramatisch. Denn was ist daraus der Ausweg?

Klein widmet der Frage, ob die USA überhaupt demokratisch sind, viele Seiten, und verneint angesichts vieler Phänomene die Antwort. Dass etwa demokratische Präsidentschaftsbewerber systemisch in landesweiten Wahlen an Wahlmännerstimmen unterliegen, obwohl sie die deutliche Mehrheit der Wählerstimmen errungen haben, ist ein solches Phänomen. Auch die parteipolitische Gewissensprüfung, ja ihr parteipolitischer Auftrag für Richter, die ja eigentlich neutral das Gesetz und die Verfassung schützen sollten, gehört dazu oder die demokratiefeindlichen Zuschnitte von Wahlbezirken.

Ezra Kleins Analysen sind fast immer treffend, scharf und überzeugend. Seine Lösungsansätze – und zu mehr ringt er sich auch nicht durch – sind verhalten und eher besorgniserregend schwächlich. Enttäuschend ist, dass er eigentlich zur Fundamentalkritik des Systems USA nicht bereit ist, obwohl er nachweist, das die USA ihre eigene präsidiale Verfassung niemals und nirgendwo installiert haben, wo sie politische Umstürze in Richtung Demokratie herbeigeführt haben. Einen Blick in europäische Mehrparteiensysteme quittiert er mit der unterkomplexen Feststellung, die hätten ja auch massive Probleme, und beschäftigt sich nicht weiter mit dieser verfassungsmäßigen Alternative zum System USA. Vereinfacht gesagt schriebt Ezra Klein die brillante Analyse eines maroden Systems und resümiert: „weiter so, nur netter.“ Das kostet ihn in meiner Beurteilung den fünften Stern, auch wenn „Der tiefe Graben“ das klügste ist, was ich über die USA und Trump gelesen habe.

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Veröffentlicht am 26.02.2021

Affentheater, aber kein bisschen affig!

Sprich mit mir
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T.C. Boyle gehört zu den profiliertesten Autoren der USA, der es versteht, in die Seele und die Abgründe Amerikas zu schauen und literarisch in Szene zu setzen, was schief läuft im Land der unbegrenzten ...

T.C. Boyle gehört zu den profiliertesten Autoren der USA, der es versteht, in die Seele und die Abgründe Amerikas zu schauen und literarisch in Szene zu setzen, was schief läuft im Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Zuwanderung, Fremdenhass, Arbeitslosigkeit, angehängte weiß0e Mittelschicht, Gesundsheitswahn, Bigotterie in der Bewertung von Drogen, gesellschaftliche Ausbrüche der Hippiezeit oder des New Age – in Boyles Romanen findet sich Menschliches, Allzumenschliches. Immer wieder drängt Boyle auch die Frage, wie es um das Verhältnis zwischen Mensch und Natur bestellt ist – ob militante Umweltschützer, weltabgewandte Vogelforscher oder eskalierender Utilitarismus wie zuletzt in den „Terranauten“, wo ein Marsexperiment menschlich daran scheitert, dass Menschen die Menschen vollständig dem „Guten, Wahren, Richtigen“ unterordnen, also der Zweck alle Mittel heiligt, wenn nur der Zweck „gut™“ genug ist.

In „Sprich mit mir“ nähert sich Boyle der Frage, was das Menschliche im Menschen ist, und was davon womöglich in unserem nächsten Verwandten wiederzufinden ist – im Affen. Das Arrangement des Romans entspricht dem Versuchsaufbau des Professors Guy Schermerhorn, der den Schimpansen Sam wie einen Menschenjungen aufzieht und ihn so zu einem umgekehrten Mowgli machen möchte: ohne Bewusstsein des Nicht-Menschlichen in ihm. Sam ist sehr intelligent und eine Kommunikation in Gebärdensprache ist möglich. Das ist faszinierend und eigentlich schon Ergebnis genug für das Experiment, doch im Versuchsaufbau sind einige Schwächen installiert, die zur Eskalation führen: Erstens ist Sam als Versuchsobjekt nur geeignet, solange er jung ist; doch was dann? Zweitens entstehen Probleme, wenn das Objekt zum Subjekt wird – verliebe dich nie in dein Versuchsobjekt, sagt Guy wiederholt. Doch genau dies passiert Aimee, der dritten Hauptfigur des Romans – neben Guy und Sam –, sie empfindet fast schon mütterliche Liebe zu Sam. Und drittens vergessen alle Beteiligten, dass Sam trotz seiner beeindruckenden Fähigkeiten zur Kommunikation eines bleibt: ein Tier, und eines nie wird: ein Mensch.

„Sprich mit mir“ ist die Geschichte mehrerer großer Missverständnisse, die unweigerlich zur Katstrophe führen müssen. Das größte Missverständnis ist der Glaube des Menschen, die Natur nicht nur vollständig verstehen, sondern auch beherrschen zu können. Diesem Irrglauben sitzen alle auf – allen voran Aimee, die es gut meint, Guy, der an den Fortschritt glaubt, und selbst dessen Chef Professor Donald Moncrief, wobei dessen Fehler darin besteht, die Natur nicht zu über-, sondern zu unterschätzen, also für beherrschbar zu halten.

T.C. Boyle hat für seinen Roman offensichtlich tief recherchiert und schafft es, in seinem Roman nicht nur Erkenntnisse über die Primatenforschung zu vermitteln, sondern auch Vieles über die Psyche von Affen (und Affenforschern) aufzudecken, was nachdneklich stimmt oder verblüfft – etwa dasss ein Affe zum kalkulierten und geplanten Selbstmord fähig ist, was ein festes Bewusstsein voraussetzt.

Was Boyle nicht schafft, ist eine anhaltend faszinierende Erzählung aufrecht zu erhalten – gerade das erste Drittel zieht sich erheblich in die Länge. Die Entscheidung, jedes zweite Kapitel aus der Sicht Sams zu formulieren, ermöglicht einen erstaunlichen Blick in die Seelenwelt des Affen, aber erscheint mir vollkommen übergriffig: Boyle als Autor glaubt, uns Leser teilhaben zu lassen an den Gedanken im Kopf eines Schimpansen, wobei doch die Menschen des Romans genau daran scheitern, den Affen wirklich zu verstehen. Das überzeugt nicht.

Wohl aber überzeugt die Message des Romans: Vergreift Euch nicht an der Natur, ihr Menschen, und wenn ihr es noch so gut meint!

Unter den Roman von Boyle ein schwacher.

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Veröffentlicht am 22.01.2021

Onlinegaming für Anfänger und Fortgeschrittene - Ruff, taff und rough

88 Namen
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Matt Ruff ist seit „Fool on the Hill“ und „G.A.S.“ als Autor mit lockerer Zunge und dem wohlwollenden Blick für das Skurrile im allzu Menschlichen bekannt. Seit „Mirage“ spätestens befasst er sich auch ...

Matt Ruff ist seit „Fool on the Hill“ und „G.A.S.“ als Autor mit lockerer Zunge und dem wohlwollenden Blick für das Skurrile im allzu Menschlichen bekannt. Seit „Mirage“ spätestens befasst er sich auch mit den schmerzhaften Stellen der menschlichen Schwächen und stellt in seinen Texten Gegenfragen: Was wäre wenn? Ist das so? Bist du so? Dass der bekennende Nerd Ruff mit diesen Fragen bei den Internet(games) landen würde, war abzusehen. Wo, wenn nicht hier, spielen Identität und Herkunft, Sein und Wunsch gleichzeitig eine so große Rolle wie gar keine? Im Internet kann jeder jeder sein – sich etwa 88 Namen und damit 88 Gamingidentitäten zulegen.


John Chu ist ein geschäftstüchtiger Sherpa, das heißt, dass er Noobs und anderen Leuten, die für Abkürzungen und absurde Level-ups Geld hinlegen wollen (und können) den Fremdenführer, Siegpunktedealer und Gagdetsupporter gibt. Gegen echtes Geld, versteht sich. Hier verschränken sich virtuelle Wirklichkeit und Real Life, hier wird die Kommerzialisierung des Internets auf Userebene thematisiert wird: dass virtuelle Gewinne und Gadgets im Real Life (TM) mit Geld bezahlt werden und dass der digital native John Chu daraus ein Geschäftsmodell gemacht hat. Die Hoffnung, dass die Beschreibung dieses Phänomens in gesellschaftlich Relevanz kontextuiert wird, womöglich gar als virtuelle Kapitalismuskritik, zerschlägt sich aber bald. Und damit ist dann auch recht schnell klar, dass Ruff aus der Rolle des Beschreibers nicht heraustritt – ob er nicht will oder nicht kann, sei dahingestellt. Aus dem Spiel geliehener, falscher, doppelter, gegensätzlicher, inexistenter, realer, sexueller oder künstlicher Identitäten macht der Roman nichts. Die interessanten Absätze zur Genderdiskussion, zur Gewalt im virtuellen Raum und zu sexuellen Quantensprüngen auf dem Holodeck wirken fast wie Fremdkörper – letztlich zähle ja vor allem Kompetenz, Spielkompetenz nämlich. (Die fehlt mir völlig, ich wäre zu blöd, ein Onlinespiel-Massaker länger als drei Sekunden zu überleben, selbst im Schlumpfdorf.)


Zwei Sterne kullerten hier aus der Konsole, einen fing der Roman aber wieder ein, weil „88 Namen“ seicht oberhalb der Einerleilinie wenigstens spannend ist. Der Spannungsbogen im Sherpageschäft steigt dank des Auftraggebers Mr. Jones gewaltig von "Geld spielt keine Rolle" zu "wir zahlen das Doppelte". Puh!


Ich hatte viel Spaß beim Lesen, finde die Gamerwelt, soweit ich sie kenne, genial getroffen, grusele mich vor der virtuell enthemmten Darla und genieße die auf die Settings angepassten Tonfälle. Das Durchschreiten unterschiedlicher Multiplayer-Online-Spiele ist wie das Reisen durch unterschiedliche Welten, und Ruff wäre nicht Ruff, wenn aus den Zeilen nicht die eine oder andere Brachialkomik springen würde.


Es bleiben trotz des Lektürevergnügens – neben der verschenkten Identitätsproblematik – drei große Kritikpunkte übrig (und montieren den vierten Stern wieder ab):


Das Finale ist mehr als nur das Ende eines Romans, lieber Mr. Ruff. Es sollte auflösen, überraschen, versöhnen und abrunden. Plötzlich aus der vollständig online erzählten Handlung in die reale Welt zu wechseln, sollte wohlüberlegt sein.


Die vollständige Durchgenderung aller Figuren, die klarsichtig „woke“ gestaltete Diktion und die überkorrekte politische Korrektheit sind offensichtlich aus dem öffentlichen Diskurs linker Democrats in den Roman gesickert, allerdings leider völlig ungebrochen.


Mom ist kein cooler Deus ex machina. Niemals, egal wie cool Mom ist.


Aber sei’s drum. Wenn die Fortsetzung „Nur noch 84 Namen“ kommt, werde ich sie dennoch sofort lesen wollen.

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Veröffentlicht am 22.01.2021

Von Grönland über Shakespeare ins Exil

Treibeis
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Libuše Moníková war mir überhaupt kein Begriff, bis ich „Treibeis“ in die Hand genommen habe, dabei war sie in den rund um die 1980er Jahre offenbar etwa zwanzig Jahre lang bis zu ihrem Krebstod 1998 eine ...

Libuše Moníková war mir überhaupt kein Begriff, bis ich „Treibeis“ in die Hand genommen habe, dabei war sie in den rund um die 1980er Jahre offenbar etwa zwanzig Jahre lang bis zu ihrem Krebstod 1998 eine stark beachtete Stimme im deutschen Literaturbetrieb, und zwar in der Abteilung mit kleinen Auflagen komplexer Romane mit anspruchsvoller Sprache und Thematik. Moníková – aus der Tschechoslowakei aus politischen Gründen geflohen – schrieb auf Deutsch, ihrer „Literatursprache“, mit der sie die Dinge neu sagen konnte. Ähnlich hat sich auch Abbas Khider einmal zu seiner neuen Sprache als Autor geäußert: Die Grausamkeiten seines Lebens im Irak müsse er auf Deutsch sagen, weil es auf Arabisch zu sehr weh täte (frei zitiert).

In „Treibeis“ ´mäandert der Englischlehrer Jan Prantl durch die schmerzhaften Themen des heimatlos entwurzelten Exilanten: Er ist Tscheche, gehörte zu den sagenumwobenen Parachutisten, deren erste Kommandos Heydrich ermordet hatten, musste vor den stalinistischen Säuberungen fliehen und landeten über aberwitzige Umwege in Angmagssalik (Ammassalik) in Grönland. Dort versucht er alkoholumnebelt, den Inuitkindern Shakespeare näher zu bringen. Er ergreift eher zögernd die Chance, zu einem Pädagogenkongress nach Österreich zu fliegen, wo er dann aber auf eine auserlesene Schar von Lehrerchargen trifft, bunt gemischt aus allen Ländern. Die Diskussionen zwischen den Vertretern des Ostblocks und des Westens oder zwischen den modernen Pädagogen und den Backpfeifenpedells sind rasant, anspielungsreich und sogar witzig: Angeheitert jagen ernstzunehmende Intellektuelle dem tollenden Prantl durch den Raum hinterher, um ihm ein originales Wittgenstein-Manuskript abzunehmen. Alle Makarenko-Exkurse hingegen würde ich nicht vermissen.

Wichtiger aber noch als der Lehrerstadel ist das Zusammentreffen mit Katja, der Stuntfrau und Greifengestalt Katja, mit der alles Wichtige teilt: die tschechische Herkunft, die Liebe zum Kino, die Sehnsucht nach der Heimat, den Schmerz des Exils und nicht zuletzt das Bett – bei ihrer Reise durch die Alpen immer wieder ein anderes.

Der Roman überrascht mit seiner Tiefe, seiner präzisen Sprache und seinen schweren Themen, die oftmals locker vermittelt werden, nämlich im Dialog. Dennoch fühlt sich die Lektüre der Erläuterungen Prantls etwa über den tschechischen Widerstand an wie eine Geschichtsstunde. Und schon der Auftakt in Grönland ermüdet mit seitenlangem Räsonieren über das zeitgenössische Theater Shakespeares. Zu oft wirken die Exkurse bemüht, aufdringlich intellektuell und zu lang. Beim Schwelgen in der Sehnsucht nach der alten Heimat im letzten Viertel des Romans ergriff mich jedoch tatsächlich ein leichter Phantomschmerz wegen des verlorenen Prags, das ich gleichwohl nie gekannt habe.

Von Grönland zu Wittgenstein, von Shakespeare zu Heydrich, von Stuntleuten zu Stalin – eine überraschende Mischung, kunstvoll, aber nicht immer gelungen angerichtet.

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