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Veröffentlicht am 18.01.2019

„Glauben Sie etwa, jede Geschichte müßte einen Anfang und ein Ende haben?“ (S. 275)

Wenn ein Reisender in einer Winternacht
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‚Du schickst dich an, eine Rezension zu „Wenn ein Reisender in einer Winternacht“ von Italo Calvino zu lesen.‘ So müsste eine Rezension zu diesem Roman beginne, weil er selbst so beginnt: Der Text tut ...

‚Du schickst dich an, eine Rezension zu „Wenn ein Reisender in einer Winternacht“ von Italo Calvino zu lesen.‘ So müsste eine Rezension zu diesem Roman beginne, weil er selbst so beginnt: Der Text tut so, als begänne er mit der Lektüre durch den Leser – und er wird auch so enden: „Und du: ‚Moment noch. Ich beende grad ‚Wenn ein Reisender in einer Winternacht‘ von Italo Calvino.‘“ (S. 277) Und so ist es ja auch: Als Calvinos Roman entstand, diskutierte man gerade, was eigentlich ein Text ist und ob er unabhängig vom Autor eigentlich erst durch die Rezeption entstehe, ob also der Leser nicht eigentlich Teil des Komplexes ‚Literatur‘ sei.

Bei Calvino ist er es: Der Roman ist in der zweiten Person Singular geschrieben und richtet sich fortwährend an den Leser: du. Du suchst nach der Fortsetzung des falsch gebundenen Romans der Winternacht, du liest im folgenden zehn weitere Romaneingänge – alle stilistisch verschieden – bis zu einem Punkt, da sie abbrechen; nämlich genau da, wo man weiterlesen möchte; du lernst die Leserin Ludmilla kennen, der es so geht wie dir. Ja – du wirst zur Leserin Ludmilla, um schließlich zum Paar geworden den Roman zu beschließen.

Das ist mehr als nur eine Spielerei mit der Auflösung des Lesers in einer Romanfigur oder umgekehrt, das ist klug und hervorragend erzählt, ist ein praktischer Beitrag zur Debatte darüber, was Sprache und Text vermögen, wie Intentionen zwischen den Rost der Zeilen durchrutschen, wie Produktion, Rezeption und Verstehen im Dialog der Literatur funktionieren; auch darüber, wo die Grenzen des Textes liegen – nämlich etwa nur exakt Stimmung, Raumgefühl und Situation zu beschreiben, wenn ein Mensch einen Telefonhörer abnimmt (S. 141). Oder was bei jeder Kommunikation verloren geht – oder bei der Suche nach einer Wahrhaftigkeit der Geschichte außerhalb der Subjektivität (S. 271).

Aber das Beste an diesem Meta-Roman ist, dass er sich vergnüglich liest. Humorvoll und pointenreich unterhält Calvino den Leser (und den ‚Leser‘). Schon eingangs ist die Klassifikation der Bücher, „Die Du Schon Seit Langem Mal Lesen Wolltest“ gegenüber den Büchern, „Von Deren Lektüre Du Absehen Kannst“ oder denen, „Die Du Irgendwann Mal Zu Lesen Gedenkst Aber Vorher Mußt Du Noch Andere Lesen“ und viele mehr (S. 9). Da fühlt man sich als Leser gleich ertappt.

Calvinos „Wenn ein Reisender in einer Winternacht“ gehört nicht in die Kategorie Bücher „Die Du Bestimmt Gern Lesen Würdest Wenn Du Mehrere Leben Hättest Aber Leider Sind Deine Tage Eben Was Sie Sind“. Vielmehr empfehle ich, das Buch unbedingt aus dem Regal der Bücher „Die Du Nicht Gelesen Hast“ herauszuholen, selbst wenn das Wiederholungspiel abbrechender Romaneinfälle im Seriellen ein wenig verliert.

Du beendest gerade die Leseempfehlung zu Italo Calvinos „Wenn ein Reisender in einer Winternacht.“

Veröffentlicht am 18.01.2019

Gut gedacht, aber nicht gut gemacht

Binti
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Im vorliegenden „Binti“-Band sind drei Novellen der gefeierten amerikanischen Autorin Nnedi Okorafor erstmals versammelt, die zuvor einzeln erschienen sind. Okorafor gilt als Stimme eines Afrofuturismus, ...

Im vorliegenden „Binti“-Band sind drei Novellen der gefeierten amerikanischen Autorin Nnedi Okorafor erstmals versammelt, die zuvor einzeln erschienen sind. Okorafor gilt als Stimme eines Afrofuturismus, der Themen und Anliegen der afrikanischen Diaspora in Science-Fiction-Geschichten auch mittels Elemente der afrikanischen Kulturen berührt. Die namensgebende Protagonistin des Bandes ist die dem namibischen Himba-Volk entstammende Binti, die wegen ihrer herausragenden mathematischen Leistungen und ihrer Befähigung zur Harmoniemeisterin die Gelegenheit erhält, an der intergalaktischen Oomza-Universität zu studieren. Dieser Schritt – nicht nur aus dem Stamm oder der Heimat hinaus, sondern sogar ins All und in eine von Technologie geprägte Welt – ist für eine Himba mehr als ungewöhnlich. Binti ist eine Ausnahmeerscheinung, weshalb die Autorin an ihr die Fragen nach Stammeszugehörigkeit, ethnischer Bindung, Bewahrung und Hinterfragen von Traditionen, Fortschrittsglaube und Heimatsuche angehen kann. Mithin also den Widerspruch von afrikanischer Erdverbundenheit (oder gar naturverbundener Rückständigkeit) auf der einen und Weltraumtechnologie auf der anderen Seite.

Der Ansatz ist vielversprechend und lenkt sich auf die zentralen Themen des Afrofuturismus bzw. als afrikanisch verstandener Science-Fiction-Literatur. Okorafor scheitert damit allerdings auf ganzer Linie, weil sie erstens ihre Erzählung schlecht konstruiert, zweitens ihre Figur überfrachtet und drittens einfach nicht gut erzählt.

1) Die drei Novellen – ursprünglich einzeln erschienen – entbehren einer schlüssigen Handlung oder mindestens eines inneren Wachstumsprozesses bei Binti. Die mittlere Novelle besitzt zudem weder Anfang noch Ende, sondern ist als Mittelteil der beiden anderen konstruiert. Die Konfiguration Bintis als Mathematikgenie, Zauberweberin (mittels Magie) und Harmoniemeisterin hat erhebliche Schieflage und wirkt wie der Darstellung eines Rollenspielcharakters bei D&D. Handlungen Bintis werden wenig oder gar nicht motiviert, Ereignisse bleiben bedeutungslos (Warum fährt Binti nach einem Jahr nach Hause? Warum bleibt der Schuss auf Okwu folgenlos? Wohin geht die Seele nach dem Tod – wenn es eine gibt – und wieso kommt sie zurück?). Diie „willing suspension of disbelief“ endet recht bald.

2) Binti ist ein erstaunliches Mädchen, das sich von ihrer Herkunft emanzipiert. Sie erlebt Neues, erfährt ihr und ihrem Stamm Unbekanntes und erwirbt – buchstäblich – Fähigkeiten fremder Völker und Rassen. Die Spannung zwischen den Himba und den Koush (ein anderes Volk in Bintis Heimat) ist schon sehr groß – aber beides sind Menschenvölker. Wird hier Kolonialismus verhandelt, weil die Koush auf die Himba herabsehen? Das bleibt unklar, denn die nächste Spannung ergibt sich zwischen den Menschen und den Medusen, die übernächste zwischen den Medusen und den Koush im Besonderen, zwischen Binti und ihrem Volk der Himba und schließlich zuletzt in der Auseinandersetzung zwischen Mensch und lebendigem Raumschiff. Binti hat an allen diesen Völkern Anteil (bzw. umgekehrt), und das ist zuviel. Die Figur implodiert ohne Aussagekraft wegen unsachgemäßer Überfrachtung. Es hätte gut getan, die zentrale Handlungsträgerin auf eine Gruppe von Personen aufzuspalten, um dieselbe Geschichte zu erzählen.

3) Der ständige Monolog Bintis in der Ich-Perspektive vermittelt keine Entwicklung, nicht einmal eine analytische Beschreibung, sondern sehr viel naives Staunen, oberflächliche Beobachtung und vor allem: Redundanz. Die Zahl der mit „Ich“ beginnenden Absätze und Sätze ermüdet gewaltig.

Ist das typisch afrikanische Fantasy? Ich weiß es nicht. Womöglich ist es ein Lable, das auf Okorafors fantastischen Geschichten geklebt wird, weil sie sich (auch) in der afrikanischen Mythologie bedient. Die Medusen aber und Bintis Erscheinung als Gorgo mit dem Schlangenhaupt ist der griechischen Mythologie entnommen. Ansonsten geht Okorafor sträflich mit den mystischen/mythischen Elementen ihrer Erzählung um: Was war an "Star Wars - Episode 1" noch ärgerlicher als Jar Jar Binks? Die Erfindung der Midi-Chlorianer, die einen Menschen zum Jedi-Ritterdasein befähigen. Kleine Mikroorganismen ersetzen die Mystik der "Macht" (TM), mit der Luke den Todesstern allein erledigt. Hier sind es auf Seite 188 kleine Nanoiden von Außerirdischen, die ein Wüstenvolk in ihr But und in ihre DNA aufnahm, um fortan mit mystischer Kommunikationsfähigkeit gesegnet zu sein. Oder: Vom Tode auferstehen kann man einfach mittels einer Frischzellenkur. Oder: Alien-DNA im eigenen Leib verändert zwar den Charakter, aber wenn man es erst einmal weiß, muss man diesen neuen Charakterteil einfach unter Kontrolle bringen, eine Identitätskrise folgt nicht. "Mehr steckte nicht dahinter", Zitat S. 199!? Kreisch! Man muss ja nicht gleich eine so große Sache daraus machen wie bei Gregor Samsa, aber das ist ein literarischer Offenbarungseid.

Gefallen hat mir an der ersten Kurzgeschichte/Novelle noch, wie Okorafor ihre Leser einfach in die Szene wirft, ohne viel zu erklären. Die Funktionsweise von biologischem Stahl, lebendige Raumschifforganismen, schwebende Medusen nimmt man beim Lesen einfach so hin. Das ist gut und hält den Geist wach.

Ich wurde aber nach einer sehr großen Anfangssympathie mehr und mehr enttäuscht von der handwerklichen Unfähigkeit der Autorin, von künstlerischer Literarizität will ich gar nicht reden. Viele gute Gedanken sind schlicht mangelhaft umgesetzt: gut gedacht, aber schlecht gemacht.

Veröffentlicht am 18.01.2019

Aber Leere kann man nicht auskotzen. Man muss sie füllen. (S. 289)

Leere Herzen
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Juli Zeh entwirft einmal mehr eine Dystopie, indem sie die besorgniserregenden Entwicklungen der Gegenwart nur ein Jahrzehnt weiterdenkt: Besorgte Bürger regieren ein politisch und gesellschaftlich desinteressiertes ...

Juli Zeh entwirft einmal mehr eine Dystopie, indem sie die besorgniserregenden Entwicklungen der Gegenwart nur ein Jahrzehnt weiterdenkt: Besorgte Bürger regieren ein politisch und gesellschaftlich desinteressiertes Deutschland, gewählt von Menschen, die eigentlich nicht mehr an die Teilhabe in er Demokratie glauben, weil jene, die an die Demokratie glaubten, nicht mehr zur Wahl gingen. Was passiert mit Menschen, wenn sie alles haben? Wenn es ihnen so gut geht, dass ihre Lebenssituation es ihnen erlaubt, beständig um sich, die eigene Bedürfnisbefriedigung zu kreisen, was vor allem bedeutet: Alle materiellen Wünsche erfüllt zu haben. "Besorgte Bürger" an der Macht? Egal! Solange ich mein Sushi selbst machen, meine Gäste ausreichend Prosecco schlürfen und wir gemeinsam im Manufactum-Katalog blättern können. Die Menschen haben sich schön eingerichtet, träumen ihre kleinen Konsumträume und sind ansonsten vor allem damit beschäftigt wegzuschauen.

Der unzufriedene Bodensatz, der innerlich entleerte Teil der Menschen kann bei Psychoanalytikern Hilfe suchen, etwa bei Britta in der Praxis „Brücke“. Hier wird jenen geholfen, die sich mit Selbstmordgedanken tragen. Vor allem trennen Britta und ihr IT-Kumpel Babak die Spreu vom Weizen - die unglücklichen Großsprecher von denen, die es ernst meinen. Denn diese können nach einem im Laufe des Romans schonungslos dargelegten Auswahlprozess an Terrorgruppen vermittelt werden, um als Selbstmordattentäter ihrem leeren leben einen letzten Sinn zu gaben. Bombengürtel gegen Walfänger zum Beispiel.

Als die „Brücke“ Konkurrenz erhält, dreht Britta durch und schaltet in den Panikmodus. An Brittas Figur seziert die Psyche der Generation 2020, denn als Zwangsgestörte offenbart sie, wie viel eigene Leere in ihr herrscht, wie sie den Kompass für das Leben verloren hat. Selbst sie, die so viele Suizidwillige wieder ins Leben gebracht hat (die Spreu, die nicht vermittelbar war), kann auf die großen Fragen des Lebens keine eigene Antwort geben: Woher? Wohin? Warum?

Was Juli Zeh so nebenbei an alltäglichen Schreckensvisionen in die Szene fließen lässt, macht den Leser schaudern. Nicht erst mit "Leere Herzen" wendet sie sich bürgerrechtlichen Großthemen zu und vergisst nicht, den Einzelnen in der sich wandelnden Welt zu durchschauen.

„Leere Herzen“ ist spannend, leidet an einer zum Ende hin auffallenden Handlungsüberfrachtung, aber versteht es, den Leser auf unterhaltsame Weise und selten mit dem zwischen den Zeilen mahnenden Zeigefinger daran zu erinnern, dass die Suche nach dem Sinn des Lebens und nach dem Zusammenhalt in der Gesellschaft einfach anstrengend sind.

Lesenswert.

Veröffentlicht am 18.01.2019

Mengele, Mensch und Monster

Das Verschwinden des Josef Mengele
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Oliver Guez wagt ein Experiment, nämlich einem Monstrum der Geschichte wie Josef Mengele ganz nah zu kommen. So nah, dass man diesen Inbegriff der Menschenquälerei plötzlich als Menschen wahrnimmt und ...

Oliver Guez wagt ein Experiment, nämlich einem Monstrum der Geschichte wie Josef Mengele ganz nah zu kommen. So nah, dass man diesen Inbegriff der Menschenquälerei plötzlich als Menschen wahrnimmt und nicht als Symbol.

Warum ist das gewagt? Weil bei solcher Nähe die Gefahr besteht, dass erstens der monumentale Menschenfeind Mengele zu einem banalen Verbrecher geschrumpft wird, einem Menschen mit Vater und Geschwistern, dem man als Leser zweitens so nahe kommt, dass man sich womöglich mit ihm und seinen Sorgen und Nöten identifiziert.

Guez gelingt diese Nähe, ohne dass Mengele auch nur zu einem einzigen Zeitpunkt sympathisch, bedürftig oder mitmenschlich erscheint. Im Gegenteil: Indem Guez das Symbol Mengele in seiner Menschlichkeit nachgerade auflöst, fragmentalisiert und filetiert, wird die „Banalität des Bösen“ nur umso sichtbarer: Es ist kein Monstrum, das als KZ-Arzt unmenschliche Versuche unternommen hat, sondern ein Mensch wie du und ich. Und das macht seine Verbrechen umso unverzeihlicher.

Gleichzeitig stehen einem beim Lesen die Nackenhaare zu berge, wenn langsam durch die Zeilen sickert, wie viel Hilfe der gejagte Kriegsverbrecher Mengele durch seine Familie, alte Kader und sogar Vertreter der Bundesrepublik erhalten hat. Hier wächst der Roman zum Lehrbuch der Geschichte aus.

Guez ist ein extrem schwieriges Unterfangen grandios gelungen. Ein großartiges Buch.

Veröffentlicht am 18.01.2019

Der doppelte Wallander

Vor dem Frost
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Henning Mankell deutet in „Vor dem Forst“ den Generationenwechsel an: Linda Wallander steht kurz davor, in den Polizeidienst einzutreten und ihrem Vater nachzufolgen. Doch noch ehe sie den Dienst antritt, ...

Henning Mankell deutet in „Vor dem Forst“ den Generationenwechsel an: Linda Wallander steht kurz davor, in den Polizeidienst einzutreten und ihrem Vater nachzufolgen. Doch noch ehe sie den Dienst antritt, beginnen Linda und Kurt Wallander gemeinsam, getrennt, mit- und gegeneinander am neuesten Fall zu ermitteln. Dass die grausamen Tötungen von Tieren, die Schändungen von Kirchen und das seltsame Verhalten und Verschwinden von Lindas Freundin Anna zusammenhängen, ahnt der Leser sofort. Aber wie die beiden Wallander dem leicht konstruierten Plot auf die Spur kommen, ist toll erzählt. Linda macht mit Neugier und Unerschrockenheit (fast) wett, was Kurt mit Berufserfahrung und Instinkt gelingt.

Die Folie der Handlung bildet religiöser Fanatismus. Schon im Prolog werden die Leser in den Massenmord einer extremistischen Christensekte geworfen. Und Fanatismus zieht sich durch den ganzen Roman. Menschenleben – und erst recht das Leben von Tieren – gilt diesen Verblendeten nichts im Angesicht der eingebildeten Größe ihres „gottgegebenen Auftrags“.

Mankell hat eindrückliche Einfälle: Annas Mutter komponiert aus Lachern und Seufzern Musikstücke. In Flammen gesetzte Schwäne gehen brennend über einem schwedischen See nieder. Ein so qualvolles wie kräftiges Bild.

Dass es Längen gibt, stört nicht übermäßig, und auch die Vorhersehbarkeit des Endes ist nur ein kleiner Abstrich für die Bewertung dieses gelungenen Wallanders!