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Veröffentlicht am 17.09.2018

Grand Tour d’Horreur - aber sehr unterhaltsam

Drei auf Reisen
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Douglas ist einer von diesen bedauernswerten schlauen Naturwissenschaftlern, die wahnsinnig intelligent sind, die Formeln der Welt kennen und über die Materie, die die Welt zusammenhält, bestens Bescheid ...

Douglas ist einer von diesen bedauernswerten schlauen Naturwissenschaftlern, die wahnsinnig intelligent sind, die Formeln der Welt kennen und über die Materie, die die Welt zusammenhält, bestens Bescheid wissen. Was nicht durch einen korrekten Versuchsaufbau mess- und beweisbar ist, hat vor ihnen keinen Bestand. Und dann stellen sie nach Jahren fest, dass Menschen nun einmal nicht mathematisch funktionieren, Beziehungen nicht ausrechenbar sind, Kinder keine Re-Produktion im Sinne eines Klons darstellen - ja, dass sie selbst auch nur ein Mensch sind. Dann stehen sie vor dem Scherbenhaufen ihres Lebens und müssen einsehen, dass die Theorie doch arg grau ist, treuer Freund, doch grün des Lebens goldener Baum.

Douglas plant die Grand Tour für seien Familie, drei auf Reisen: er, seine Frau Conny und sein Sohn Albie. Gattin und Nachwuchs entgleiten dem Planer allerdings, und die Tour wird zu einer Serie peinlicher Katastrophen. Und dennoch: Die Katastrophen führen auch zur Erkenntnis, im Schlimmsten entdecken sich die Beteiligten neu und das Leben der Drei bekommt eine Wendung, die witzig und einfallsreich ist. Douglas‘ Blick zurück auf sein Leben offenbart einen ziemlichen Trauerklos, zu dem er sich mehr und mehr entwickelt hatte, weshalb sein Prozess der Selbsterkenntnis, seine Versuchssprünge über den eigenen Schatten spannend zu lesen sind.

Ich mag Nicholls‘ Romane, und dieser bildet keine Ausnahme!

Veröffentlicht am 17.09.2018

Ein großer Schritt für die Karthago-Forschung

Die Geschichte Karthagos
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Die Geschichte Karthagos aus der Feder Hannibal Minors kann – so schreibt es der kundige Herausgeber Olde Hansen in seinem Nachwort – zurecht eine „Sensation“ genannt werden, allerdings nicht nur eine ...

Die Geschichte Karthagos aus der Feder Hannibal Minors kann – so schreibt es der kundige Herausgeber Olde Hansen in seinem Nachwort – zurecht eine „Sensation“ genannt werden, allerdings nicht nur eine „kleine“ (S. 93). Im Gegenteil: Mit diesem schmalen Band ist es gelungen, einer breiten Öffentlichkeit wie auch der Fachwelt eine authentische karthagische Stimme über Karthago – ja: aus Karthago sprechen zu lassen, wo sonst nur die Feinde der Stadt gesprochen haben. Die Geschichte wird von den Siegern gemacht, dieser Grundsatz ist Karthagos ewiges Verhängnis – gewesen. Denn mit der Darstellung Hannibals Minor ist nun die Stimme eines zeitgenössischen Historikers erklungen, die nicht eine „Verlierer-“ , sondern eine „Erfolgsgeschichte“ erzählen kann (S. 94). Wie die antike Handschrift überliefert und wiederaufgefunden wurde, ist eine dieser erstaunlichen Entdeckungsgeschichten der Kodikologie, wie sie über Parzivalhandschriften, den Codex Seraphinianus oder die Merseburger Zaubersprüche erzählt werden können. Die Übersetzer des lateinische Textes, Aake Jensen und Leif Sörensen, legen diese Geschichte in der Einleitung dar und fügen der Krone ihrer Alma Mater, der ehrwürdigen Universität Saksköbing, eine weitere Perle hinzu.

Die Geschichte Karthagos aus der Feder Hannibals Minor stellt die Entwicklung Karthagos von den sagenhaften Anfängen bis zu ihrer Zerstörung durch die Legionen Roms dar. Dabei erweist sich Hannibal Minor sowohl als guter Erzähler wie auch als kundiger Kenner der Historien sowie der zeitgenössischen Politik, Technik und Geographie.

Ausdrücklich zu loben ist der ausgezeichnete Anmerkungsapparat, den Herausgeber Hansen dem Text beifügt. Hier werden die Bezüge zu den historischen Ereignissen und zu den parallelen Überlieferungen der antiken Literatur und Geschichtswissenschaft in Kontext gesetzt und bewertet. Es zeigt sich insbesondere durch diesen gelehrten Kommentar, wie erstaunlich passgenau der kathagische Text die Lücken des bisher bekannten schließt und die bekannten Informationen auf wunderbare Weise verbindet.

Dennoch ist das vorliegende Werk sicherlich nur ein erster Schritt zu einer umfassenderen und textkritischen Ausgabe der Historia Carthaginiensis, die auch mit einigen Lässlichkeiten der Herausgeber aufräumen sollte. Zunächst ist es bedauerlich, dass der Text nur in der deutschen Übersetzung vorliegt. Eine Edition des lateinischen Textes in einer zweisprachigen Ausgabe wäre mehr als wünschenswert gewesen, um die bisweilen doch sehr lässige Jensen/Sörensen-Übersetzung umgehen zu können. Das Lektorat des Kommentarapparates ist für diesen Verlag ebenfalls ungewöhnlich nachlässig.

Insbesondere aber stellen sich weder Einleitung noch Kommentar noch Nachwort der in der Forschung aktuell vordringlich diskutierten Frage, ob Hannibal Minor tatsächlich der Autor dieses Textes ist. Die Selbstauskunft des Autors (HM I, 1) stellt für einen Teil der Antikeforschung eine Quellenfiktion dar, die die eigentliche Entstehungszeit des Textes verschleiern soll. Angesichts der Fülle an Detailinformationen aus der Zeit der vermeintlichen Abfassung des Textes erscheint es logisch abzuleiten, dass „Die Geschichte Karthagos“ später verfasst worden sein muss, da ein Autor im Jahre 106 v. Chr. Unmöglich diese Fülle an Informationen gehabt haben kann. Der Zweifel an der Entstehungszeit des Textes korrespondiert mit der Diskussion über den Namen des Autors. Hannibal „der Kleinere“ (hier haben Jensen/Sörensen aus unbekannten Gründen den Komparativ nicht übersetzt, sondern schreiben „der Kleine“) gibt sich den Namen des berühmtesten Karthagers. „Gibt sich“ ist hier die richtigere Formulierung, denn mit dem Komparativ vergleicht sich der Historiker Hannibal Minor mit dem Feldherrn Hannibal magnus – ein Vergleich, den kein Historiker dieser Zeit für sich in Anspruch genommen hätte. Auch aus der Namensgebung des fiktiven Autors ergibt sich eine vermutlich spätere Autorschaft eines Nachkommen karthagischer Flüchtlinge. Eine im Sinne der „Material Philology“ vorgenommene Analyse der Originalhandschrift offenbart ja in der Buchstabenzeichnung Verwandtschaft zum Voynich-Manuskript und legt zumindest eine in Oberitalien zu vermutende Abschrift des Textes nahe.

Abgesehen von diesen – vielleicht nur dem Experten auffallenden – Mängeln ist das von Hansen herausgegebene Bändchen für die Lektüre in Schule und Universitäten auch deshalb bestens geeignet, weil sie in frischer Übersetzung zu erschwinglichem Peis eine Rundschau über die Fachliteratur zu Karthago und vor allem eine nahezu vollständige Übersicht über die Karthago betreffenden antiken Quellen liefert.

Veröffentlicht am 17.09.2018

Epische Vogelschau auf einen Volkshelden und eine starke Volksseele

Data Tutaschchia
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Tschabua Amiredschibis Roman im Stil eines Volksbuchs erzählt die Geschichte des georgischen Volkshelden und Gesetzlosen Data Tutaschchia. Von dessen Leben ist der Chef der Kaukasischen Gendarmerie, Graf ...

Tschabua Amiredschibis Roman im Stil eines Volksbuchs erzählt die Geschichte des georgischen Volkshelden und Gesetzlosen Data Tutaschchia. Von dessen Leben ist der Chef der Kaukasischen Gendarmerie, Graf Szegedy, von Amts wegen Datas Feind und Verfolger, so beeindruckt, dass er ein Buch über ihn schreibt. Dieses – später aufgefundene – Manuskript bildet das Rückgrat der Konstruktion des Romans, der in vier Bücher aufgeteilt ist. Das erste Buch führt in die Geschichte des ehrbaren Räubers Tutaschchia ein. Graf Szegedys Manuskript wird ergänzt von den Stimmen jener Menschen, die Tutaschchia eine Zeitlang begleitet haben. So entstehen viele authentisch klingende Episoden und Abenteuer, in denen stets Tutaschchia im Mittelpunkt steht. Ihm gegenübergestellt ist sein Alter Ego aufseiten der Strafverfolgung, nämlich sein Vetter Muschni Sarandia, der von ähnlicher Verstandesbegabung ist wie Tutaschchia, aber in den Staatsdienst geht. Es soll sich darin womöglich zeigen, dass es nicht nur ausreicht, persönlich integer zu sein, sondern dass man auch sorgsam auswählen muss, in welcher Sache Dienst man sich stellt.

Das zweite Buch folgt dem Muster, nun aber geht es vermehrt um das Thema „Moral“, so dass manche Episode den Charakter eines „Exempels“ trägt, eines Lehrstückes. Tutaschchia ist ein durch und durch moralischer Mensch, eine „edler Räuber“ und erinnert manchmal an Robin Hood oder Kara ben Nemsi. Was ein „Abrage“, ein Gesetzloser, ist, wird unmittelbar zu Beginn des zweiten Buchs erklärt: Er wird vom Volk sowohl gefürchtet wie verehrt, vielleicht weil er sich die Freiheit nimmt und den Autoritäten trotzt (S. 147). Tutaschchia allerdings ist bisweilen von den Menschen enttäuscht und von der Wirkung seiner guten Taten erschreckt, die nämlich häufig zur Katastrophe führen. Das führt zur Vereinzelung Tutaschchias, der an seinem Dasein als Gesetzloser auch schätzt, mit keinem Menschen verbunden zu sein und gleichzeitig allen – dem Volk. Überhaupt geht es im zweiten Buch sehr viel um das Volk Georgiens und seiner historischen Herkunft sowie seinem von den Geschicken bestimmten Wesen. Den Stimmen des zweiten Buches ist gemeinsam, dass sie den Zustand Georgiens in der Klammer des Zarenreiches beklagen. Dem Volk sei die Liebe entzogen worden: „Die Liebe zur Freiheit, zur Heimat, zum Staat.“ (S. 225) Ausgerechnet in einem Abragen wie Tutaschchia aber scheint sich diese Dreifaltigkeit zu manifestieren. In einem zentralen Gespräch beim Gesetzlosen und Wirt Gogi werden diese Ansichten eines nationalen Aufbruchs thematisiert: „Wohl keine zwei Dinge bedingen einander so sehr wie die Moral des Einzelnen und die Geschicke seines Volkes.“ (S. 231). Wer ist dieser einzelne? Jedermann? Tutaschchia?

Im dritten Buch verlegt sich der Schwerpunkt der Handlung auf Tutaschchias Vetter Sarandia und dessen Karriere im Staatapparat. Es wird verdeutlicht, wie der Weg nach oben den Mann mit denselben edlen Anlagen letztlich korrumpiert. Seine Kniffe und Tricks entbehren dabei nicht der Heimtücke. Sarandia allerdings meint, man müsse der Moral mit „Hinterlist und Böswilligkeit“ auf die Sprünge helfen (S. 462) und verkennt dabei, dass die Moral auf diesem Weg bereits auf der Strecke geblieben ist. Angesichts von Sarandias moralischem Offenbarungseid ringt auch Graf Szegedy um die richtige Position eines gerechten Menschen gegenüber dem Staat und dem Zaren auf der einen und dem edlen Gesetzlosen, der dem Volk dient, auf der anderen Seite. Es ist deutlich, dass Tutaschchia mit seiner Haltung zwar ein Ende finden muss, aber aufrecht stirbt, wohingegen Sarandia buchstäblich dahinsiecht. Wer die Wahrheit verdreht um der Wahrheit willen, dient ihr schlecht. So lobt er: „Ich glaube, dass Dienste zur Verbreitung von Gerüchten eine großem Zukunft haben, sie werden die mannigfaltigsten Formen annehmen; ich sehe es schon kommen, das Zeitalter der massenhaft betriebenen geistigen Sabotage.“ (S. 417) Auch wenn sich diese Feststellung auf den Kalten Krieg bezieht, erweist sich der Autor Amiredschibi geradezu höchstaktuell.

Das vierte und letzte Buch beginnt mit einem Fremdkörper innerhalb des abenteuerlichen Heldenbuches, denn es widmet sich der Zeit Tutaschchias im Gefängnis. Hier nimmt die Geschichte unmittelbares Zeitgeschehen auf, nämlich die unruhigen Jahre vor der Oktoberrevolution. Schon ab 1905 recken sich die Roten Fahnen in die Höge, weshalb ihre Träger als politische Gefangene reihenweise in die zaristischen Gefängnisse wandern. Tutaschchia flankiert hier einen Gefängnisaufstand und die Selbstorganisation der Gefangenen, ohne sich einer Gruppe richtig anzuschließen – das wäre nicht seine Art als heldenmütiger Einzelgänger. Mag dem Autoren diese Episode besonders wichtig gewesen sein – immerhin saß Amiredschibi als politischer Häftling hinter Gittern –, das Politische scheint nicht zum archaischen Helden Tutaschchia zu gehören. Zum Ende des vierten Buches kehrt der Roman zu seinen Anfängen zurück und findet seinen Ton wieder.

Nur Data Tutaschchia betrachtend, dient das erste Buch dazu, ihn als edel und menschlich zu charakterisieren und seine lebenslange Flucht zu begründen. Im zweiten Buch zieht er aus dem Übel, das aus seinen guten Taten entwächst, den Schluss, sich lieber völlig herauszuhalten und gar nichts zu unternehmen, wobei dies seinem Ruf erheblich schadet. Im dritten Buch sieht sich Tutaschchia uneinig darüber, wo er sich in der Gesellschaft verorten soll, und gerät auf der Suche nach „dem bürgerlichen Georgier“ in einer Reihe philosophischer Gespräche, um im vierten Buch letztlich zu erkennen, dass man das Schlechte in der Welt nur bekämpfen kann, indem man Gutes tut.

Fazit

Das episodenhafte Erzählen sorgt dafür, dass die Gesamthandlung immer wieder Pirouetten dreht und nur Langsam vorankommt. Das ruft den leisen Verdacht hervor, dass das Buch eigentlich zu lang ist. Verwirrend sind freilich die vielen Namen, insbesondere wenn Vor- und Nachname die Zehn-Silben-Grenze durchschlagen. Dabei sind manche der auftauchenden Figuren auch in späteren Episoden bedeutsam: Die starken Episoden um Data Tutaschchia nämlich spielen immer eine Rolle, werden aus anderer Sicht neu erzählt und fortgeschrieben. Das verleiht der Handlung einen roten Faden.

Der Roman ist lang und besitzt Längen. „Kürze vermag das Wesentliche zu entstellen“, heißt es aus Seite 450; Länge aber auch. Im vierten Buch scheint auch die Entstehungszeit der Geschichte hindurch – konzipiert in den 1960er Jahren, veröffentlicht 1975. Dem Autoren Amiredschibi ist es darum gelegen, die Stellung des Einzelnen im Kollektivstaat darzulegen sowie Georgiens innerhalb des Sowjetreichs. Da er schon zuvor bei den sowjetischen Autoritäten angeeckt ist, drückt er sich klausuliert aus, bisweilen sogar in der Sprache des Kommunismus. Das ist ermüdend und nicht mehr aktuell. Die Geschichte des Helden hingegen, der sein Schicksal annimmt und ihm trotzt, ist überzeitlich und unbedingt lesbar. Lob hier an die Übersetzerin Kristiane Lichtenfeld, sie hat ein ansprechendes Deutsch gefunden. Ein Namensverzeichnis wäre hilfreich gewesen.

Kurzum: eine Leseempfehlung für alle, die Heldengschichten lieben und das Wesen der kaukasischen Völker verstehen wollen.

Veröffentlicht am 17.09.2018

Die Überlegenheit der Taube

Wie hoch die Wasser steigen
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Anja Kampmann erzählt mit schönen Sätzen, poetischem Bick und synästhetischen Details die Wochen des Bohrinselarbeiters Waclaw, nachdem dessen Kabinennachbar und Freund Mátyás in der Finsternis des Atlantiks ...

Anja Kampmann erzählt mit schönen Sätzen, poetischem Bick und synästhetischen Details die Wochen des Bohrinselarbeiters Waclaw, nachdem dessen Kabinennachbar und Freund Mátyás in der Finsternis des Atlantiks verschwunden ist. Waclaw macht sich auf, nach den Spuren von Mátyás zu suchen und begibt sich gleichzeitig auf eine Suche in eigener Sache.

Zu Beginn ist Waclaw ganz im Nebel seines Traumas gefangen: Der Verlust ist kaum zu fassen, die Welt um ihn verliert an Wirklichkeit. Kampmann setzt dies wunderbar in Sprache um, indem sich Gedanken, Handeln und Umgebung Waclaws ebenfalls in einen diffusen Nebel begeben, häufig wechseln und in der Unfähigkeit, die Wirklichkeit zu fassen, zu unterscheiden und zu beurteilen, alles glich wichtig oder unwichtig erscheint. Erst auf Seite 49 getraut sich Waclaw, Mátyás‘ Verschwinden auszusprechen: ein „accident“, vielleicht. Nun nimmt Waclaws Reise an die Orte, die beiden wichtig waren, Fahrt auf, schält sich ein Ziel heraus, das mehr ist als nur eine Flucht von der Bohrinsel: nach Ungarn, in Mátyás Dorf. Waclaws Weg mäandert nun durch die Zeiten und rund um das Mittelmeer, immer auf den Spuren. Hat er Mátyás geliebt? Waren sie ein Liebespaar? Ja, doch wird es nie explizit ausgesprochen.

Spätestens nachdem Waclaw in Mátyás‘ kleinem ungarischen Dorf gewesen ist, begreift er, dass sein Weg eine Reise rückwärts durch das eigene Leben ist. Dass er sich auf den Spuren seiner selbst bewegt, und einen Halt in sich sucht, der mit dem Tod seines Freundes weggebrochen war. Dieser innere Halt ist die Heimat, und die Heimat sind die Menschen, die ihm auf seinem Weg wichtig gewesen sind, Waclaw reist nach Italien, sucht nach Milena, nach dem Husten des Vaters, nach der Zeche im Ruhrpott. Die ganze Zeit verlässt der melancholische Nebel den Weg des Lesens nicht, hellt nur bisweilen auf, wenn mit Mátyás‘ Schwester Patrícia oder des Vaters Freund Alois echte Menschen in Waclaws Weg treten. Die Bedeutung der Tauben in diesem Roman liegt in ihrer Fähigkeit, ihre Heimat wieder zu finden. Darin sind sie Waclaw überlegen, und er weiß es.

Warum hat mir der Roman dennoch nicht gefallen?

Zunächst ist es die Detailverliebtheit der Autorin, die anfangs als erzählerisches Konzept wunderbar funktionierte, aber irgendwann zur Mache mutiert, der Handlung und der Erkenntnis im Weg steht. Die völlige Gleichgewichtung von elementarer Erinnerung und Fliegenleichen auf der Windschutzscheibe erregt in mi den Eindruck, der Erzählung eines Autisten zu folgen, der Wesentliches nicht aus dem Unwesentlichen herausfiltern kann.

Das Waclaw auf einer Reise zu sich ist, benötigt meines Erachtens nicht so viele Orte. Die Beliebigkeit, in der von Tanger nach Kairo, von Budapest nach Parma, von Bottrop nach Rotterdam gesprungen wird, wirkt bisweilen wie hektische Kulissenschieberei und lässt Waclaws Reiseumfeld zerfasern.

Kampmann liegt sprachlich nicht immer ganz richtig. Jungenkörper, die ins Wasser springen, machen nicht „klackklack“ (S. 195) Anglizismen wie „Waclaw erinnert dies oder jenes“ (z.B S. 52, 118) liegen unter dem sprachlichen Niveau Kampmanns und stören gewaltig. Auch das Fehlen der Anführungszeichen als Kennzeichen wörtlicher Rede hemmt Lesen und Verstehen der Begegnungen im Text unnötig.

Am meisten aber stört mich, dass Kampmann mit einem Arbeiter auf einer Bohrinsel einen harten Kerl aus einer extrem maskulinen Welt zu ihrem Protagonisten macht, ihn aber eigentlich nie in dieser Welt zeigt. Waclaw ist nachdenklich, traumatisiert, sensibel - also alles andre als ein harter Kerl. Schlimmer noch: Er ist nicht einmal männlich. Ich habe den Eindruck, Kampmann hat die Männer oder zumindest diesen Mann nicht verstanden.

„Wie hoch die Waser steigen“ steht auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis 2018, was ich nachvollziehen kann, weil Kampmanns Sprach ein hohes Niveau hat. Aber für meien Shortlist reich es nicht.

Veröffentlicht am 17.09.2018

Die Vergangenheit in der Gegenwart - und warum es wehtut

Die Gestalt der Ruinen
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Juan Gabriel Vásquez gehört zur jungen Generation erfolgreicher südamerikanischer Schriftsteller. Er stammt aus Kolumbien und legt mit „Die Gestalt der Ruinen“ erneut einen Roman vor, der sich mit der ...

Juan Gabriel Vásquez gehört zur jungen Generation erfolgreicher südamerikanischer Schriftsteller. Er stammt aus Kolumbien und legt mit „Die Gestalt der Ruinen“ erneut einen Roman vor, der sich mit der gewalttätigen Vergangenheit seines Landes und der Beschädigung ganzer Generationen befasst. Im Zentrum stehen politische Morde - an General Rafael Uribe Uribe 1914 und Jorge Eliécer Gaitán 1948 - und die anschließenden revolutionären Revolten, der Bomben- und Drogenkrieg bis hin zum verlorenen Jahrzehnt des Drogenbarons Pablo Escobar und seines Medellin-Kartells. Alle Gewalt Kolumbiens hatte mit der Ungleichheit der Vermögensverhältnisse im Land zu tun - und mit jenen, die sie brechen oder daraus ausbrechen wollten. Aber: „Hier kommt niemand unversehrt davon.“ (S. 294) Die Vergangenheit entlässt keinen ohne ihre Prägung in die Zukunft. Manchmal hinterlässt die Vergangenheit nur Ruinen.

Vásquez schreibt eine Abrechnung mit der gewalttätigen und zum Teil unaufgearbeiteten Vergangenheit seines Heimatlandes, er legt den Finger auf die Wunden der Zeit - oder lässt sie durch seine Figuren legen, ohne selbst endgültige Stellung zu beziehen. „Der Roman wird zu einem mächtigen Instrument der historischen Spekulation“ (S.134), und der Roman darf es, muss es sogar sein. Vásquez nimmt sich fast ein ganzes Jahrhundert kolumbianischer Geschichte vor, ein komplexes Thema, das er auch komplex erzählt: In der Rahmenhandlung ist es sein literarisches Alter Ego, der Schriftsteller ‚Vásquez‘, der auf Vermittlung des gut vernetzten Arztes Benavides von Carlos Carballo aufgefordert wird, die Geschichte der politischen Morde in Kolumbien neu zu schreiben. Ja: als Erster richtig und wahr zu schreiben. Ohne in die diegetische Interpretation einzusteigen, inwiefern der Autor-Vásquez mit ‚Vásquez‘ überlappen, wie viel Autobiographisches in ihm steckt, wie viel Authentisierungsstrategie des scheinbar autofiktionalen Anteils, wird zumindest deutlich, wie personal Vásquez die Erzählhaltung gestaltet, weil ihm die Geschichte offenbar so nahe geht; er nimmt sie buchstäblich persönlich.

Carballo, Benavides und ‚Vásquez‘ haben alle familiäre und persönliche Beziehungen zum Mord an Gaitán. Auf dessen Ermordung folgte in Stadt und Land die blutige Bogoteza und ein Jahrzehnt des Bürgerkrieges - jedoch niemals die Aufklärung der Hintergründe jener angeblichen Tat eines verwirrten Einzelgängers. Nicht zufällig webt Vásquez auch zwei andere Einzeltäter in die Erzählung ein, deren politischer Attentate die Welt verändert haben: Lee Harvey Oswald und Gavrilo Princip, die Mörder Kennedys und Franz Ferdinands. Wenn die Tat eines Einzelnen oder weniger Personen zum Angelpunkt der Geschichte wird, dann öffnet sich stets die Frage: War er allein? Wer stand hinter dem Täter? Wer profitiert von dem Verbrechen? Wer sind sie?

Diese Fragen stehen am Beginn nicht nur der historiografischen Erklärung, sondern auch von Verschwörungstheorien, insbesondere dann, wenn die Antworten scheinbar nicht die ganz Wahrheit enthüllen. Carlos Carballo hat sein ganzes Leben der Wahrheitsfindung verschrieben - oder womöglich an Verschwörungstheorien vergeudet, weil er mi den Antworten der offiziellen Geschichtsschreibung nicht einverstanden war. Weil zu viele Fragen offen blieben. Weil ihm vor allem keiner beantworten konnte, warum diese Einzeltat so viel Einfluss auf seine eigene Herkunft und Person hatte. Er stößt auf einen Bruder im Geiste, den Rechtsanwalt Marco Tulio Anzola, der sich ähnlich manisch an der Ermordung des Generals Uribe Uribe abgearbeitet hat. Anzola, eine reale Person, zweifelte an der Tätertheorie, zwei arme Handwerker hätten spontan zur Axt gegriffen, um Uribe in eigenem Auftrag zu erschlagen - und scheiterte spektakulär. Von ihm blieb nur das politische Pamphlet „Wer sind sie?“, das wie eine Bibel der Verschwörungstheorien die Zeiten überdauert. Die zersetzenden Fragen an die Ungereimtheiten der einfachen Erklärung zersetzen das Vertrauen in die Wirklichkeit und lassen die Verschwörungstheorien blühen. Carvallo ist so voll davon, dass er ‚Vásquez‘ damit (fast) ansteckt, denn „eine Verschwörung ans Licht zu bringen. Das ist eine Aufgabe, der man sich widmen kann, Vásquez, eine Lüge von der Größe einer ganzen Welt zu enttarnen.“ (S. 278) Das Problem mit Verschwörungstheorien ist, dass sei die Form einer Ersatzreligion annehmen können, in der nur noch Wahrheiten gelten, die zur Theorie passen. ‚Vásquez‘ lässt das für sich nicht zu und schreibt den großem Enthüllungsroman nicht, um den Carballo fleht, aber es entsteht „Die Gestalt der Ruinen“, in der weder ‚Vásquez’ noch Vasquez eindeutig Stellung beziehen, wohl aber das Erbe ihrer Heimat annehmen, mit „ihren Irrtümern, ihrer Unschuld und ihren Verbrechen.“ (S. 519)

Bis zu diesem letzten Satz hat Vásquez eine komplexe Geschichte komplex erzählt. In er Rahmenhandlung mit ‚Vásquez‘ und Benavides steckt die Binnenerzählung Carballos und insbesondere die Binnenerzählung von Anzolas Schicksal, die großen Raum einnimmt und zudem noch Anzolas eigenen Text „Wer sind sie?“ enthält. Die zeitlichen Ebenen verschränken sich häufig, oft gekonnt, manchmal verwirrend, wie um zu zeigen, dass die gesamte Vergangenheit zu jeder Zeit gegenwärtig ist. Auch wechselt dadurch ständig die Erzählperspektive und bleibt nicht ausf jeder Ebene in sich konsistent. Das ist anstrengend zu lesen und nicht immer nachzuvollziehen. Vásquez variiert das Erzähltempo mit den Zeiten und zieht etwa die Ermordung General Uribes unnötig in die Länge. Mit dem Eintritt in Anzolas Binnenerzählung längt sich überhaupt der ganze Roman, weil man beim Lesen nicht darauf vorbereitet wurde, dass Uribes Attentat dieses Gewicht und diesen breiten Raum erhalten würde. Das Attentat an Gaitán erscheint zum Ende hin fast nur wie ein Tor, durch das man zu Uribes Mord scheiten musste, fast. Einzelne Figuren, die anfangs wichtig erschienen, bleiben hingegen völlig auf der Strecke. Das bleibt unverständlich und erscheint mir eine Fehlkonstruktion des Romans - oder eine Entscheidung zugunsten der Arbeitsökonomie, um nämlich den Roman nicht über noch mehr Seiten zu dehnen.

Der Roman ist dennoch unbedingt lesenswert, auch wenn er Längen und Schwächen hat, weil er nämlich auf einem erzählerischen Niveau Macken hat, das andere Romane niemals erreichen. Vásquez‘ zentrales Thema - was nämlich die historische Wahrheit ist - beschäftigte ihn schon in „Die Reputation“ und in „Die Informanten“, und es ist immer noch nicht verbraucht. Im Gegenteil! Auch die Geschichtswissenschaft arbeitet sich an der historischen Wahrheit seit Thukydides ab, da alle historische Deutung … Fiktion ist. Dass Verschwörungstheorien, die „das Establishment“, „das System“ oder den „Deep State“ hinter monströser Geschichtsfälschung vermuten, ihren unbestreitbaren Charme haben, zeigt die Faszination, die von Carballos und Anzolas Beispielen ausgeht. Dass die offizielle Wahrheit Fehlstellen hat, die beunruhigen, ist ebenso unbestreitbar. Dazwischen bewegt sich der Mensch, bewegt sich Vásquez mit den Mitteln des Romans und regt zum Nachdenken und Mitdenken an. Wie tief das gehen kann, zeigt sich, wenn man den Titel des Romans betrachtet: „Die Gestalt der Ruinen“.

Die als Ruinen bezeichneten Gegenstände im Roman sind Knochen. Überreste der beiden Attentatsopfer Uribe und Gaitán. Sie stehen für den Rest Lebendigens im Tode, wie auch in allen Ruinen der Rest der Unversehrtheit steckt, „die Vergangenheit ist in der Gegenwart enthalten“ (S. 176) - oder mit William Faulkners Worten: „The past is never dead. It'‘s not even past.“ Ruinen sind aber die Zeugen dafür, dass die Zeit an nichts vorübergeht, ohne ihre Spuren zu hinterlassen, bis nur noch Ruinen bleiben. Im Gegenwärtigen steckt also die Ruine von morgen. An Carballo und Anzola kann man gut ablesen, wie sie von den Ereignissen ihrer Gegenwart aufgesaugt und ruiniert werden. Sie sind ruinöse Gestalten, die aus der Gewalt ihres Lebens entstanden sind.

Vor allem aber fordern uns Ruinen stets auf, uns ihrer ursprünglichen Form zu erinnern: Wie passt Uribes Kalotte in seinen Schädel? Wie der Wirbel Gaitáns in seinen Körper? Jeder Ruine wohnt die Aufforderung inne: Stell dir vor, wie ich früher ausgesehen habe! Das kennt jeder, der einmal eine Burgruine oder Reste römischer Thermen besucht hat: Welche Gestalt mochten sie gehabt haben? Sich mit Ruinen zu beschäftigen, überbrückt die Zeiten und stellt eine Verbindung von ursprünglicher Gestalt zum gegenwärtigen Zustand her, birgt also auch stets den Prozess vergehender Zeit: Wie wurde die Ruine eigentlich durch die Zeit umgestaltet? Warum verlor sie ihre ursprüngliche Form? Und endlich: Was wäre, wenn dieses oder jenes nicht auf die heutige Ruine eingewirkt hätte?

Wie sähe Carballo ohne die Attentate aus? Wie Kolumbien? Vásquez eröffnet mit dem Nachdenken über den Titel womöglich einen Schlüssel für den Roman, in dem es auch um emotionalen Schaden geht, den das historische Erbe der Heimat über einen bringt, und um die Frage nach einer Alternative, zumindest für die Zukunft.

Und darum ist „Die Gestalt der Ruinen“ lesenswert.