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Veröffentlicht am 03.04.2018

Nur irgendein weiteres Buch über Mata Hari

Die Spionin
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Paulo Coelho erzählt die Höhepunkte des Lebens der berühmten Tänzerin und Spionin Mata Hari auf 171 Seiten in drei Teilen, denen ein Prolog vorangestellt ist. Alle Teile werden mit einer Fotografie eröffnet, ...

Paulo Coelho erzählt die Höhepunkte des Lebens der berühmten Tänzerin und Spionin Mata Hari auf 171 Seiten in drei Teilen, denen ein Prolog vorangestellt ist. Alle Teile werden mit einer Fotografie eröffnet, die Mata Hari im entsprechenden Lebensabschnitt zeigen und dem Text eine dokumentarische Anmutung verleihen, der dadurch verstärkt wird, dass die beiden ersten Teile aus einem letzten Brief Mata Haris bestehen, der letzte aus einem Brief ihres Anwaltes.

Der Prolog paraphrasiert eine Zeitungsmeldung über die Erschießung der wegen Spionage verurteilten Mata Hari. Im ersten Teil berichtet die Protagonistin von ihrem Leben als Margaretha Zelle im niederländischen Leuwaarden, ihren Wiener Jahren, der Hochzeit mit einem Offizier, dem sie nach Niederländisch-Ostindien folgt, wo sie in Kontakt mit den fernöstlichen Tanztraditionen kommt. Zurück aus Java, entflieht sie dem einengenden Heim der Kleinfamilie in Amsterdam, indem sie einer Eingebung folgend nach Paris aufbricht. Sie nimmt hier spontan den Künstlernamen Mata Hari (= Auge des Tages) an und setzt zum ersten Mal ihre Wirkung auf Männer ein, um ihr Ziel zu erreichen. Der zweite Teil eröffnet mit Schlagzeilen über Mata Haris Bühnenerfolge: Sie hat Erfolg mit ihrem exotischen Tanz und lernt einflussreiche Personen der Pariser Gesellschaft kennen. Eine davon ist Madame Guimet, mit der Mata Hari der Wille zur Unabhängigkeit verbindet. Sie erkennt sich wieder in einem Monolog der Älteren über die fesselnde und niederreißende Kraft enttäuschter Liebe, und Mata Hari ist davor gewarnt. In wenigen Schritten durchmisst der Roman zwölf Jahre und bringt Mata Hari in die Zeit des Ersten Weltkrieges. Sie hat an Popularität erheblich eingebüßt, Jüngere machen ihr die Bühnenpräsenz streitig und Mata Haris Gönner werden weniger. Einem Angebot folgend, reist sie nach Berlin, das sie allerdings bei Kriegsausbruch sofort wieder verlässt, um erneut in Amsterdam der Langeweile zu erliegen und der wirtschaftlichen Not entgegenzusehen. Sie lässt sich zunächst von den Deutschen, anschließend von den Franzosen zur Spionage anwerben und reist über England nach Paris, alle Hinweise missachtend, dass die Geheimdienste sie im Auge haben und Ihre Tätigkeiten beobachten. Im dritten Teil richtet ihr Anwalt Maître Clunet das Wort an Mata Hari und schildert, wie es zu ihrer Verhaftung kommen konnte: Heer und Geheimdienst Frankreichs benötigten Erfolge, um die öffentliche Meinung wieder gewogen zu stimmen, und setzen dafür auf einen Prozess gegen die schillernde Figur der verruchten Tänzerin, die als halbseidene Dame der Gesellschaft, als internationale Grenzgängerin und als Nonkonformistin eine hervorragende Zielscheibe abgibt. Mata Hari begreift die Komplexität der Anschuldigungen nicht und wird schließlich auf Basis dürftiger Beweise wegen Hochverrats zum Tode verurteilt und 41-jährig 1917 in Vincennes hingerichtet.

Erzählkonzept

Coelho lässt in seinem Roman drei Stimmen zu Wort kommen: Die zeitgenössische Journaille, Mata Hari selbst und ihren Anwalt. Das gibt Coelho die Gelegenheit, viele Zeugnisse, Quellen und Egodokumente der Zeit in den Text einfließen zu lassen: „Ich bin eine Frau, die im falschen Jahrhundert geboren wurde. Ich weiß nicht, ob sich in der Zukunft jemand an mich erinnern wird, aber wenn doch, dann möchte ich nicht als Opfer gesehen werden, sondern als eine Frau, die mutig ihren Weg gegangen ist und furchtlos den Preis dafür gezahlt hat.“ (S. 24). Verurteilt worden sei Mata Hari wegen des Verbrechens, "in einer von Männern beherrschten Welt eine emanzipierte, unabhängige Frau zu sein." (S. 22) Das ist das Versprechen des Romans, das Coelho allerdings nicht einlöst (s.u.).

Die Erzählperspektive hätte eigentlich bedeuten können, dass den Lesenden der Blick in Mata Haris Gedanken und Motivationen gewährt, dass der Mythos der Kurtisanen-Spionin literarisch verarbeitet und erzählerisch durchdrungen werden würde. Stattdessen erhält der Text einen Anstrich retrospektiver Zusammenfassung, eines Berichtes, in dem die Dinge immer schon geschehen sind und nicht geschehen. Der Leser ist selten dabei, wenn etwas passiert, sondern er erfährt es nur, und sei es aus erster Hand. Dass Coelho hier die literarischen Möglichkeiten des Romans verschenkt, wird umso deutlicher, wenn der dritte Teil Maître Clunet sprechen lässt und die Lektüre plötzlich viel mehr über Mata Hari und ihre Handlungen erfahren lässt als zuvor, als sie selbst berichtete. Die Erzählhaltung gibt dem ganzen Text etwas Chronikhaftes, Berichtendes, Referierendes, das kaum Emotionen weckt, kaum zweite Erzähl- und Bedeutungsebenen öffnet und der historischen Figur Mata Hari keine Facetten entlockt, die über das historisch-faktische Lexikonwissen hinausgehen. Der Prolog, der einen zeitgenössischen Zeitungsartikel paraphrasiert, ist folgerichtig der am atmosphärischsten erzählte Teil des Buches. Weitere ebenfalls an Handlung, Atmosphäre und Geschwindigkeit reiche Szenen sind ihr erster (und im Text einziger!) Tanz der Schleier und die Flucht aus Berlin.

Die immer wieder eingestreuten Fremdtexte (oder sind sie von Coelho verfasste, nur scheinbar fremde Texte?) bringen selten einen erzählerischen Mehrwert; das trifft auch die Bibelzitate. Der auf S. 111 präsentierte Brief des Deserteurs Jörn bleibt Einsprengsel und folgenlos.

Widersprüche

Beim Lesen stört der Eindruck, dass Coelho vieles nicht zu Ende gedacht hat und sich deshalb in konstruktive und sprachliche Widersprüche verstrickt. Auch fehlt für manche Behauptung das erzählerische Fundament; dieser Behauptungscharakter, der vielen historischen Äußerungen Mata Haris innewohnt, die es mit der Wahrheit nicht so genau nahm, hinterlässt einen schalen, enttäuschenden Geschmack.

- Wenn die Liebe eine so große Macht hat und die Fähigkeit besitzt, ein Menschenleben zu zeichnen - so oder so -, warum erfahren wir dann nicht einmal den Namen ihrer einzigen wahren Liebe? Wegen der Parallelität zur präsentierten, gesichtslosen griechischen Sage, die wie ein Fremdkörper wirkt? Da die "einzige wahre Liebe" genau zwei Seiten währt (126 f.), wird der ganze, nur scheinbar zentrale Monolog Madame Guimets ad absurdum geführt: Liebe hat für das Verständnis von Coelhos Mata Hari gar keine Bedeutung.
- Mata Haris Selbstauskunft über ihre Verurteilung erscheint ebenfalls wertlos: Einmal glaubt sie das Schicksal Frankreichs und des Weltkriegs in der Hand zu haben (S. 123), im nächsten Moment ist sie eine Frau mit der Sünde, "einen freien Geist" zu besitzen, dessentwegen sie verurteilt wird. Entweder hat sie also Bedeutung, dann wird die Anklage auch politisch logisch; oder sie wird wegen ihrer modernen Frauenrolle angeklagt, dann kann nicht ihr Spionin-Einfluss Gewicht gehabt haben.
- Sprachlich ist es immer wieder unbefriedigend. Ein Beispiel, S. 159: "[N]ur eine Gruppe [...] Soldaten zieht singend zur Gare d'Austerlitz und ahnt nicht, welch grausames Schicksal sie an der Front erwartet. Die Gerüchte lassen niemanden ruhig schlafen." Was denn nun? Wenn alle die schlimmen Gerüchte gehört haben, warum stellt uns Coelho dann die Soldaten ahnungslos vor?
- Das am Anfang scheinbar über das Leben Mata Haris gestellte Narrativ der emanzipierten, unabhängigen Frau, die wegen dieses Verbrechens von der Männerwelt verurteilt wird (S. 22), passt - literarisch! - wenig zu den Hintergründen, dass der französische Geheimdienst und das Heer ein Exempel statuieren mussten, um öffentliches Vertrauen zurückzugewinnen. Da wird nämlich deutlich, dass Mata Haris besonderer Lebensstil nicht die Ursache für ihre Verurteilung war, sondern das Werkzeug: Sie war damit angreifbar. Schade, denn der Topos der "gefährlichen Frau" hätte hier ein schönes Stück Literatur bekommen können.

Fazit

Mehr als 250 Bücher wurden über Mata Hari geschrieben, denn ihr Mythos fasziniert die Zeitgenossen wie die Nachgeborenen: Die in einer Person verknüpfte Erotik, Exotik und Agentenwelt erschafft ein aufregendes Bild, das durch Mata Haris Geltungssucht, ihr ambivalentes Verhältnis zur Wahrheit und die Propaganda der Zeit noch gesteigert wird. Dahinter steht eine Frau, die mit einer bürgerlichen Existenz, dem Schwinden von Ruhm und Jugend und den Mächten, mit denen sie spielte, nicht umgehen konnte und die keinen realistischen Blick auf sich und ihre Mitmenschen hatte.
Daran ändert Coelhos Buch gar nichts. Er fügt dem Mythos auch keine neue Facette, keine neue Interpretationsmöglichkeit und nicht einmal einen schönen Text hinzu, sondern nur ein weiteres von mehr als 250 Büchern über eine ungewöhnliche Frau.

1 Stern und einen halben, weil der Diogenes-Verlag schöne Bücher macht.

Veröffentlicht am 03.04.2018

Naturgewalt vs. Mensch

Terror
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Dan Simmons Roman erzählt die Geschichte von Sir John Franklins letzter Arktisexpedition auf der Suche nach der Nordwestpassage mit den Schiffen „Erebus“ und „Terror“, deren Verlauf und Ende nahezu unbekannt ...

Dan Simmons Roman erzählt die Geschichte von Sir John Franklins letzter Arktisexpedition auf der Suche nach der Nordwestpassage mit den Schiffen „Erebus“ und „Terror“, deren Verlauf und Ende nahezu unbekannt sind. Das nutzt Simmons zu seiner Version der Geschichte, wie sich das Schicksal der 129 Expeditionsteilnehmer im ewigen Eis erfüllt. Die Geschichte ist kapitelweise aus Sicht der Reisenden erzählt, wobei diese „Point of View Characters“ gleichzeitig meist zentrale handelnde sind, hier insbesondere Kapitän Francis Crozier und Dr. Harry Goodsir.
Die Hauptrolle spielt die Arktis selbst: die menschenfeindliche Ödnis, das grausame Packeis, die tödliche Kälte, die erbarmungslosen Stürme, die Drangsal ewig scheinender Finsternis. Auf diesen Gegner glaubte die Expedition dank modernster Ausrüstung gewappnet zu sein, doch eine Dampfmaschine von 22 PS reichte nicht, das Packeis zu brechen, die Konserventechnik war knapp 30 Jahre nach ihrer Erfindung nicht zuverlässig, zumal wenn die Admiralität am falschen Ende spart. Die Hybris des Menschen zeigt sich im unbegründeten Vertrauen auf die Technik und in seinem Traum, die Erde bis in den letzten zugefrorenen Winkel erforschen und vermessen zu wollen. Hierin scheitern John Franklin und seine Begleiter. Sie wagen sich zu weit in den falschen Sund, frieren auf Jahre an der Westküste des King-William-Landes fest und werden durch die unbarmherzige Naturgewalten dezimiert. Der Mensch bleibt auch in der Polarregion des Menschen Wolf: Der Heimtücke fallen ebenfalls einige Expeditionsteilnehmer zum Opfer, und Heimtücke verhindert auch die Rettung durch Eskimos.
Naturgewalt, menschliche Hybris und allzumenschlicher Hass sind ausreichend, um die Geschichte zu erzählen, die sich im Übrigen einer vorzüglichen Sprache bedient und merklich guter Recherche in Reiseberichten der Zeit bedient. Simmons erfindet jedoch leider noch ein Eisbärurzeitmonster, dessen Lauern in der Dunkelheit und am Rande des Gesichtskreises die ganze Geschichte gerade des Mittelteils dominiert und auf das Niveau eines Horrorromans bringt. Zwar wird die Bestie am Ende in die Mythenwelt der Ureinwohner gebettet und erfährt so eine Erklärung, die in den Kontext des Widerstreites von Mensch gegen Natur passt, doch das Horrorelement stört erheblich.
Fazit: Großartiger Roman mit eiskaltem Klima, dessen fünfter Stern jedoch den stahlharten Fängen des Eismonsters zum Opfer gefallen ist.

Veröffentlicht am 03.04.2018

Naiv und ärgerlich

Vom Himmel in die Traufe
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Die Story geht so: Arbeitsloser "fliegender Holzfäller" namens Hermanni Heiskari rettet reiche Ballonfahrerin und Unternehmerin Lena Lundmark nach einem Absturz. Sie verspricht ihm, ein Jahr lang alle ...

Die Story geht so: Arbeitsloser "fliegender Holzfäller" namens Hermanni Heiskari rettet reiche Ballonfahrerin und Unternehmerin Lena Lundmark nach einem Absturz. Sie verspricht ihm, ein Jahr lang alle Kosten der alltäglichen Lebensführung zu übernehmen, und verliebt sich in den Naturburschen. Als Schoßhund und Butler fungiert Lenas Onkel Ragnar, mit dem Hermanni nun auf eine zwölfmonatige Sause durch Finnland und die Welt geht. Zum Zeitvertreib - und weil Hermanni seit Jahren eh nichts anderes macht - planen sie den Aufstand der Arbeitslosen. Am Ende heiraten Hermanni und Lena, Ragnar bricht sich ein Bein und die Aufstandspläne stürzen aus dem Hochzeitsballon.
Der Klappentext (der auch Lundmark fälschlich Lundberg nennt) legte noch nahe, dass sich die Geschichte um den Naturburschen dreht, der auf dem Parkett der wohlanständigen Gesellschaft für herzhafte Peinlichkeiten sorgt. Es hätte also eine hübsche Eulenspiegelei werden können. Stattdessen entblödet sich der Autor nicht, seinen Holzfäller mit ausgefeilten, vollkommen idiotischen und nur den eingefleischten Pegida-Mitläufer in fromme Wallung versetzenden Aufstandsplänen auszustatten, nämlich einer Revolte der Arbeitslosen gegen das finnische und internationale Schweinesystem, damit sie endlich zu ihrem Recht kämen. Ragnar, dessen falscher Obristenrang am Ende gar keine humoristische Auflösung mehr erfährt, und Lena, die als gestandene Businessfrau viel zu hausmütterlich und passiv rüberkommt, reden Hermanni den Schwachsinn aber nicht aus. Im Gegenteil: Sie planen mit.
Abgesehen von diesem umstürzlerischen Zeitvertreib tun die Protagonisten Paasilinnas das, was Paasilinna seine Protagonisten immer tun lässt: Sie reisen. Warum? Weil nur die Fortbewegung von einem Ort zum anderen dem Buch den Anschein von Bewegung geben kann. Die Handlung ist nämlich stets eher kümmerlich. Mit dem ständigen Wechsel des Ausblicks durch unmotivierte, aber fortwährende Kulissenschieberei simuliert Paasilinna wenigstens eine Handlung. In „Vom Himmel in die Traufe“ begleiten wir Hermanni und Ragnar zunächst in jeden unaussprechlichen Ort Lapplands (die die Sprache kann man den Autoren nicht verantwortlich machen; umgekehrt mögen deutsche Ortsnamen dem Landesfremden genauso verwirrend vorkommen), wo gesoffen wird, was die Holzfällerleber aushält. Dann geht es in die weite Welt: Schweden, Irland (ein anderes Säufer-Dorado, wie es scheint), Tahiti und Portugal.
Die ganze Zeit hofft man auf witzige, entlarvende Begegnungen des natürlichen Menschen, der sich die unschuldige Einfalt bewahrt hat, mit der Zivilisation und ihren falschen Masken. Das passiert aber nicht: Es bleibt beim Wechsel der Kulissen wie im Reiseführer und dem geplanten Aufstand. Allen handelnden Personen ist zudem eine die Wirklichkeit verzerrende, unterkomplexe Naivität zueigen, die womöglich eine Grundhaltung des Autors darstellt. Auch die dialektische Diskrepanz zwischen dem intensiven Kriegsspiel und dem Lotterleben in Lundmarks Schlaraffenland wird nicht aufgegriffen, genutzt oder vorgeführt; wahrscheinlich von Paasilinna nicht einmal bemerkt, und das ist das Schlimmste!
Mir ist vollkommen schleierhaft, wie Paasilinna zu seinem Erfolg gekommen ist. Die immer wieder auftretenden, wirklich originellen und lustigen Details können den Mangel an Handlung, Literarität und Witz (!) nicht aufwiegen. Drei Romane von Paasilinna habe ich gelesen, dabei bleibt es.

Veröffentlicht am 03.04.2018

Von Heimat, Liebe und Sippe

Sophia oder Der Anfang aller Geschichten
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Rafik Schami erzählt eine ernste Geschichte: die Geschichte des syrischen Exilanten Salman, der vor dem Assad-Regime aus Damaskus fliehen musste und nach vierzig Jahren Exils zurückkehrt. Es ist auch Schamis ...

Rafik Schami erzählt eine ernste Geschichte: die Geschichte des syrischen Exilanten Salman, der vor dem Assad-Regime aus Damaskus fliehen musste und nach vierzig Jahren Exils zurückkehrt. Es ist auch Schamis eigene Geschichte, soweit es um den Verlust der Heimat und der Familie geht und um die Erkenntnis, dass die Stätten unserer Kindheit sich nicht wieder besuchen lassen, weil sie sich verändert haben und nur in der Erinnerung gleich geblieben sind.
Im ersten Teil des Romans erfahren wir die Lebensgeschichten von Salman, der mittlerweile mit seiner Frau Stella und seinem Sohn Paolo in Rom lebt, und die von Karim und Aida, einem in Damaskus lebenden Paar, die mit Mitte siebzig und Mitte fünfzig einen zweiten Frühling der Liebe erleben. Beiden Erzählsträngen ist die Erzähllust Schamis anzumerken, denn immer wieder schweift er in orientalischer Üppigkeit ab: in die Vergangenheit, zum Nachbarn, zum vorher Geschehenen oder einfach zum Mokka. Es ist das Damaskus der vergangenen vierzig Jahre, das dabei lebendig wird und das sich unter dem despotischen Druck der Diktatur durch das Assad-Regime ändert.
Verbunden werden die beiden Erzählstränge in der Gestalt Sophias, die einerseits Salmans Mutter und andererseits Karims erste Liebe ist. Als Salman den Amnestieversprechungen des Regimes glaubt und sein eigenes Heimweh nicht mehr aushalten kann, reist er nach Damaskus, findet Freund und Feind und die Familie verändert und doch gleich geblieben vor, wird aber alsbald vom Geheimdienst unter der fingierten Anklage des Mordes gejagt.
Dieser zweite Teil des Romans gerät spannend und reißt den zuweilen mäandernden Erzählstil der ersten Hälfte in einem rasanten Tempo mit. Hier wird auch das politische Anliegen Schamis sichtbar, der die Grausamkeiten der syrischen Diktatur bis heute herausstellt. Salman gelingt es, dem Regime ein Schnippchen zu schlagen und endlich bei Karim und Aida unterzukommen, womit die Erzählstränge vereint werden. Und es ist das Sophia in Jugendtagen gegebene Versprechen, weswegen Karim Salmans sichere Heimkehr organisiert.
Zwei Hauptthemen durchziehen die Erzählung: die zerstörerische und antimoderne Kraft der arabischen Sippe, die den arabischen Raum am gesellschaftlichen Fortschritt hindert und Despotien im Großen und Kleinen befördert; und die heilende und selig machende Kraft der Liebe, die Schami seinen durchweg modernen, aufgeklärten und unreligiösen Figuren gönnt. Karim erhebt die Liebe gar zu seiner wahren Religion.
Rafik Schami ist ein starkes Buch gelungen, dem man Zeit geben muss, um seine Geschichte zu entwickeln, deren Lektüre aber dann umso tiefer greift. Von der ersten bis zur letzten Seite schimmert Schamis Charme durch die Zeilen.

Veröffentlicht am 03.04.2018

Wunderwunderbar!

Sophiechen und der Riese
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Sophiechen und der Riese ist ein Kinderbuch für alle, die schon immer ihre Furcht vor Menschenfressern besiegen wollten - oder gar vor Fleischfetzenfressern! Und für alle, die originelle Sprache haarscharf ...

Sophiechen und der Riese ist ein Kinderbuch für alle, die schon immer ihre Furcht vor Menschenfressern besiegen wollten - oder gar vor Fleischfetzenfressern! Und für alle, die originelle Sprache haarscharf am Erwachsenenton vorbei so richtig „kinderlich“ und „wunderwunderlich“ genießen wollen.
Sophiechen erspäht nachts einen Riesen durch das Dorf schleichen und wird von ihm erspäht. Er stibitzt sie aus ihrem Waisenhaus und entführt sie ins Riesenland, wo er sie in seiner Höhl aber nicht auffrisst. Im Gegenteil: Sophiechen und GuRie, der „Gute Riese“ freunden sich an und lernen viel voneinander. GuRie lernt etwas über Menschlinge und andere „Leberwesen“ und Sophiechen lernt viel über die neuen bösen Riesen, die allabendlich gemeinschaftlich ausziehen, um Leberwesen zu fressen: nach Spanferkel schmeckende Spanier, nach Thunfisch schmeckende Tunesier, nach „Mammilade“ schmeckende, gefüllte Berliner und so weiter. Die neun Riesen tragen unheilverkündende Namen - Kinderkauer, Knochenknacker, Mädchenmanscher etwa - und müssen gestoppt werden! Aber wie? GuRie ist der kleinste der Riesen und zudem gegen jedes Leberwesenfressen, weshalb er sich von Kotzgurke ernährt und von den anderen schikaniert wird. Aber er hat eine „ratzfetzige“, „klassegeile“ Mission: Er sammelt Träume in Glasbehältern, die er nächtens durchs Fenster den schlafenden Kindern einbläst. GuRies Fähigkeit, Träume zu erhören, zu fangen und zu mixen und Sophiechens ernsthafter Wille, weitere „Riesen-Knatterstrophen“ zu verhindern, indem man die englische Königin einschaltet, führen schließlich zum großen Finale. in dem beide Helden ihre Fähigkeiten einsetzen können.
Sophiechen ist ein charmantes, willensstarkes Mädchen, in dem sich kindliche Leser wiederfinden können. In Sophiechens Rolle geschlüpft, sind sie dem so kunterbunt daherredenden Riesen GuRie sprachlich überlegen und werden zu seinem behutsamen Ratgeber, ja wohlerzogenen und wohlerziehenden Fremdenführer in die Menschenwelt. GuRie ist ein moralischer Riese, der seinen Verzicht auf die Menschlinge damit bezahlt, sich ausschließlich von Kotzgurken ernähren zu können - zu diesem moralischen Entschluss gehört einiges!
Das Schreckliche, das Menschenverschlingende ist nur mit Humor zu ertragen, und dieser Humor steckt in der ganzen Geschichte, in den kunstvollen Zeichnungen von Quentin Blake wie im Detail: in er großartigen, blumenreichen Sprache, den Wortspielen und Satzfontänen, wie sie nur Fünfjährige, GuRie und Roald Dahl hervorbringen. Und Adam Quidam, der die Geschichte kongenial übersetzt hat.
Sophiechen und der Riese - gut gegen schlechte Laune und Magenbeschwerden, und zwar sofortissimo!