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Veröffentlicht am 17.01.2024

Spannender Unterhaltungsroman für Bibliophile

Die Bibliothek im Nebel
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REZENSION – Auf den Tag genau ein Jahr nach seinem Bestseller „Die Bücher, der Junge und die Nacht“ (2022) erschien im November wieder im Knaur Verlag mit „Die Bibliothek im Nebel“ ein zweiter bibliophiler ...

REZENSION – Auf den Tag genau ein Jahr nach seinem Bestseller „Die Bücher, der Junge und die Nacht“ (2022) erschien im November wieder im Knaur Verlag mit „Die Bibliothek im Nebel“ ein zweiter bibliophiler Roman des Schriftstellers Kai Meyer (54), dessen Handlung zum Teil wieder im Graphischen Viertel in Leipzig spielt, der historischen Heimat Hunderter Verlage, Druckereien und Buchhandlungen, wenn auch 20 Jahre früher als der erste. Man kann also, wenn man einen Zusammenhang zwischen beiden Romanen herstellen will, diesen zweiten in gewisser Weise als Vorgeschichte zum ersten sehen, zumal wir jetzt erst erfahren, wie und warum der Russe Grigori zum Gehilfen des Buchhändlers im Leipziger Antiquariat Montechristo wurde. Doch ist dies auch schon die einzige Gemeinsamkieit beider Romane, so dass „Die Bibliothek im Nebel“ völlig unabhängig vom früheren Band als eigenständiger Roman gelesen werden kann.
In einer „Mischung aus historischem Roman, Liebesgeschichte, Familiensaga und Krimi“, wie der Verlag diesen neuen Roman Meyers bewirbt, tauchen wir ein in das vorrevolutionäre Russland und lernen in Sankt Petersburg die wohlhabende Familie Kalinin kennen sowie deren Tochter Ofeliya und ihren ebenfalls im Haus lebenden Cousin, den jungen Bibliothekar Artur. Noch genießt die Familie ihren Wohlstand und verbringt viele Urlaubswochen im Luxushotel Château Trois Grâces an der Cote d’Azur – dort gemeinsam mit der deutschen Druckerei- und Verlegerfamilie Eisenhuth aus Leipzig. Doch nach Ermordung der Eltern und Tochter Kalinin durch Schergen des allmächtigen Geheimdienstes des Zaren, flieht Artur als einziger Überlebender nach Deutschland. In Leipzig hofft er seine heimliche Liebe Mara wiederzutreffen, die vor Jahren von den Kalinins aufgenommen worden war, seit einiger Zeit aber als Verlobte eines Eisenhuth-Sohnes in Leipzig lebt. Zehn Jahre später (1928) findet die kleine Liette auf dem Dachboden des Hotels Château Trois Grâces in zurückgelassenen Reisekisten der während der Revolution ermordeten Russen ein altes, mit Schloss gesichertes Buch. Weitere 30 Jahre später (1957) bauftragt Liette – inzwischen Alleinerbin und Direktorin des Hotels, den deutschen „Gentleman-Ganoven“ Thomas Jansen mit der Suche nach Mara, der früheren Eigentümerin dieses Buches und Erbin der neben dem Hotel stehenden und seit dem Ersten Weltkrieg verfallenden Villa der Eisenhuths mit ihrer gelegentlich im Nebel versinkenden Bibliothek.
Auch wenn der Roman sehr eindringlich den Alltag von Arm und Reich im vorrevolutionären Sankt Petersburg schildert, ebenso das scheinbar unbelastete Jetset-Leben der Reichen und Schönen an der Cote d’Azur, während an den Fronten der Erste Weltkrieg tobt, ist „Die Bibliothek im Nebel“ kein typischer historischer Roman. Die Historie liefert allenfalls die Kulisse für einen spannenden Unterhaltungsroman, der vielmehr durch seine geheimnisvolle, stellenweise sogar unheimliche Atmosphäre und Szenerie besticht. Meyer schreibt sehr authentisch wirkend, schreibt auch recht lebhaft, lässt uns gelegentlich erschauern, löst dann aber wieder die düstere Stimmung durch amouröse Szenen auf, in denen er die Verliebtheit Arturs mit der von einem unergründlichen Geheimnis umgebenden Mara einfließen lässt oder auf anderer Zeitebene das sich zu einem Liebesverhältnis langsam wachsende Vertrauen zwischen Liette und Thomas.
Einem direkten Vergleich mit dem früheren Band „Die Bücher, der Junge und die Nacht“ hält dieses neue Buch nur bedingt stand: Der leider viel zu häufige Szenen- und Zeitenwechsel zwischen den Jahren 1917, 1928 und 1957 ist manchmal so verwirrend, dass es nach Lesepausen schwerfällt, sich spontan wieder in der Handlung zurechtzufinden. Es empfiehlt sich also zügiges und pausenloses Lesen. Vor allem aber enttäuscht: Während der Roman doch gerade von seiner unterschwellig und stellenweise unheimlich düsteren Atmosphäre lebt, gleitet das Buch gegen Ende durch die unnötige „Parade“ vieler grausam zugerichteter Toter leider auf das Niveau eines schlechten Krimis ab. Wer sich davon nicht stören lässt, für den bleibt „Die Bibliothek im Nebel“ ein absolut spannender und abwechslungsreicher Unterhaltungsroman vor historisch interessanter Kulisse.

Veröffentlicht am 13.01.2024

Obwohl nur Roman-Fragment, absolut lesenswert

Die daheim blieben
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REZENSION – Auch nach 120 Jahren kennen viele Leser die Titel der einstigen Bestseller „Jettchen Gebert“ (1906) und „Henriette Jacoby“ (1908), auch wenn der Autor längst in Vergessenheit geraten und sein ...

REZENSION – Auch nach 120 Jahren kennen viele Leser die Titel der einstigen Bestseller „Jettchen Gebert“ (1906) und „Henriette Jacoby“ (1908), auch wenn der Autor längst in Vergessenheit geraten und sein Name heute kaum noch bekannt ist. Umso mehr ist es dem Wallstein Verlag hoch anzurechnen, vor drei Jahren eine Neuausgabe der Werke von Georg Hermann (1871-1943), dem man nach seinem literarischen Vorbild schon zu Lebzeiten den Ehrentitel „jüdischer Fontane“ gegeben hatte, gestartet und die Reihe im September mit seinem letztem, im Jahr 1939 begonnenen und nun dank der Herausgeberin Godela Weiss-Sussex wenigstens als Fragment erstmals veröffentlichten Roman „Die daheim blieben“ als fünften Band fortgesetzt zu haben.
In diesem eigentlich auf vier Kapitel angelegten, aber nach den ersten beiden unvollendet gebliebenen und deshalb bisher auch unveröffentlichten Roman beschreibt der „Chronist deutsch-jüdischen Lebens“ das Schicksal der assimilierten jüdischen Familie Simon in Berlin unter der Schreckensherrschaft der Nationalsozialisten. Im ersten Kapitel treffen sich die Angehörigen dreier Generationen der wohlhabenden bildungsbürgerlichen Familie des Berliner Papiergroßhändlers Heinrich Simon an einem Sonntagvormittag im März 1933 in dessen Haus, um das 75-jährige Bestehen des Familienunternehmens zu feiern.
Das familiäre Leben innerhalb der Mauern des Hauses Simon scheint von politischen Veränderungen noch unbelastet. „Ich habe mich mein Lebtag nie um Politik gekümmert … und so werde ich es auch den Rest meines Daseins machen“, ist Heinrichs Devise. Doch während man in den Zimmern und Salons das üppige Büffet genießt, als hätte sich das Leben für Juden in Deutschland überhaupt nicht verändert, marschieren jugendliche SA-Trupps durch das Villenviertel: „Und sie sangen Lieder voll heldischen Geistes dazu. Denn der deutsche Mann kann zwar nicht singen, aber er tut es dennoch laut und ergiebig und gern, weil es ihn am Denken hindert.“
Doch der Schein der Unberührtheit trügt: In einer engen Kammer treffen sich der Patriarch und seine Brüder heimlich, um über die eventuelle Notwendigkeit der Emigration zu sprechen. Es zeigt sich, dass die junge Generation diese längst plant, während die Alten noch zögern, das von Vorfahren Erarbeitete und Erreichte kampflos aufzugeben. Sie trösten sich damit, dass der Nazi-Spuk doch sicher bald vorbei sein werde.
Im zweiten Kapitel macht der Autor einen Zeitsprung von zwei Jahren: Am 15. September 1935, an dem die Nazis ihre Rassengesetze verabschieden, kommen die wenigen noch in Deutschland verbliebenen Familienmitglieder wieder im Haus der auf sieben Zimmer halbierten Wohnung des Patriarchen zusammen. Während jetzt auch die letzten Angehörigen ihre Auswanderung in Angriff nehmen, will der alte Simon mit Ehefrau Agnes in Berlin zurückbleiben. Georg Hermann schildert sehr authentisch die sich innerhalb von nur zwei Jahren radikal veränderte Lebenssituation dieser deutsch-jüdischen Oberschicht, für die das Tragen einer Kippa ein „Rückfall in die Prähistorie“ ist. Dennoch ist man in diesen Kreisen stolz, nicht nur Deutscher, sondern auch Jude zu sein. Denn was wäre die deutsche Kultur ohne die vielfältigen Beiträge jüdischer Wissenschaftler, Dichter und Denker?
Es sind vor allem die „leise“, fast im Plauderton gehaltene Erzählweise mit gelegentlichen ironischen Spitzen sowie die Szenerie dieser zwei Kapitel, die das Buch so lesenswert machen. Hermann beschränkt das Geschehen in beiden Fällen ausschließlich auf die Wohnung des Patriarchen, als könne man Politik und die wachsende Bedrohung aussperren und von der Familie fernhalten. Doch erfahren wir vor allem in den intellektuell gewichtigen und spannend zu verfolgenden Gesprächen dieser humanistisch gebildeten Familie fast beiläufig von der immer bedrohlicher werdenden Gefahr.
Ebenso lesenswert wie das Roman-Fragment ist auch das Nachwort von Herausgeberin Godela Weiss-Sussex. Darin erzählt die Germanistik-Professorin nicht nur die Geschichte ihrer literarischen „Fundsache“, sondern gibt uns, die wir vielleicht gerade noch die Romantitel „Jettchen Gebert“ und „Henriette Jacoby“ kennen, einen vergleichenden Überblick über das Gesamtwerk des Schriftstellers, der nicht wie sein Protagonist Heinrich Simon in Berlin „daheim blieb“, aber dennoch im Alter von 72 Jahren von den Nazis aus seinem holländischen Exil deportiert und 1943 im Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau ermordet wurde.

Veröffentlicht am 19.12.2023

Unterhaltsame Mischung aus Fakten und Fiktion

Die Erfindung des Lächelns
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REZENSION – Wohl jeder kennt das Anfang des 16. Jahrhunderts von Leonardo da Vinci gemalte Porträt der „Mona Lisa“ mit ihrem vieldeutigen Lächeln. Kunstkenner wissen zudem, dass dieses Gemälde im August ...

REZENSION – Wohl jeder kennt das Anfang des 16. Jahrhunderts von Leonardo da Vinci gemalte Porträt der „Mona Lisa“ mit ihrem vieldeutigen Lächeln. Kunstkenner wissen zudem, dass dieses Gemälde im August 1911 vom italienischen Handwerker Vincenzo Peruggia (1881-1925) aus dem Pariser Louvre gestohlen und von ihm erst im Dezember 1913 in Florenz dem Direktor der Uffizien ausgehändigt wurde. Aber hatte es Peruggia wirklich die ganze Zeit nur bei sich versteckt gehabt? Ist das seitdem wieder im Louvre zu besichtigende Gemälde tatsächlich das echte oder doch nur eine perfekte Kopie von Pablo Picasso?
Diesen Fragen geht Schriftsteller Tom Hillenbrand (51) in seinem im September beim Verlag Kiepenheuer & Witsch veröffentlichten Roman „Die Erfindung des Lächens“ nach. Zum Glück kennt niemand die genaue Antwort, was dem Autor ausreichend Gelegenheit gibt, auf 500 Seiten nach Herzenslust in einer unterhaltsamen Mischung zwischen Fakten und Fiktion zu schwelgen. Erleichtert wird ihm dies durch die Tatsache, dass der Raub der „Mona Lisa“ in Paris gegen Ende der Belle Époque stattfand – jener Zeit, in der sich in Paris, dem Zentrum der europäischen Welt, Lebenskünstler und bildende Künstler aller Länder in Künstlercafés auf dem Montmartre und der Opéra Garnier oder zu dekadenten Grandes Fêtes im Bois de Boulogne und in absinthgetränkten Spelunken an der Place Pigalle trafen.
Diese wilde Zeit – „Normale Menschen sind langweilig. Verrückte hingegen haben immer etwas Sympathisches.“ – lässt Hillenbrand, den wir seit 2011 eher als Autor preisgekrönter Krimis um den Luxemburger Starkoch Xavier Kieffer oder ebenfalls prämierter dystopischer Science-Fiction-Romane wie zuletzt „Montecrypto“ (2021) kennen, nun in einem historischen Roman auf spannend zu lesende und zugleich amüsante Weise aufleben, während er uns die Spur der verschwundenen „Mona Lisa“ verfolgen lässt, die – zuvor im Louvre als nur eines unter vielen anderen Renaissance-Gemälden – tatsächlich erst durch ihr Verschwinden im Jahr 1911 weltbekannt wurde.
Auch in Hillenbrands Roman stiehlt der Italiener Vincenco Peruggia das Gemälde aus dem damals nur nachlässig bewachten Louvre. Commissaire Juhel Lenoir bekommt den Auftrag, die „Mona Lisa“ wiederzufinden. Im Rahmen seiner Ermittlungen lernen wir den 30-jährigen Maler Pablo Picasso (1881-1973) während seiner kubistischen Phase und dessen aus Rom stammenden Freund Guillaume Apollinaire (1880-1918) kennen, wortgewaltiger Dichter und Kunstkritiker italienisch-polnischer Abstammung. Zeitweilig wurden tatsächlich auch diese beiden des Gemälde-Diebstahls verdächtigt. Gleichzeitig treibt in Paris die anarchistische Bonnot-Bande ihr kriminelles Unwesen, benannt nach ihrem Anführer Jules Bonnot (1876-1912), die nicht nur Banken ausraubt, sondern auch vor Mord und Totschlag nicht zurückschreckt. Man muss zwangsläufig einen Vergleich mit der organisierte Kriminalität unserer Tage ziehen, die, technisch auf höchstem Niveau ausgestattet, der Polizei immer weit voraus scheint, wenn man bei Hillenbrand liest: „Wieder hatten sich die Ganster eine Filiale der Société Générale ausgesucht, wieder flohen sie mit dem Auto. … Zwei Gendarmen nahmen die Verfolgung auf – einer auf dem Fahrrad, der andere auf dem Pferd.“ Im weiten Dunstkreis dieser Anarchisten bewegt sich unbewusst auch die amerikanische Isadora Duncan (1877-1927), die dem britischen Okkultisten und Satanisten Aleister Crowley (1875-1947) verfallen ist. Alle kommen sie bei Hillenbrand irgendwann in den zeitweiligen Besitz des gestohlenen Gemäldes.
Es macht nicht nur Spaß, den in lockerem Tonfall geschriebenen Roman „Die Erfindung des Lächelns“ als unterhaltsamen Krimi zu lesen und gleichzeitig viel über jene politisch, künstlerisch und gesellschaftlich turbulente Epoche in Paris voller Aufbruchstimmung in das neue, temporeiche Zeitalter unserer Moderne zu erfahren. Spaß macht es auch zu spüren, dass wohl selbst der Autor seine Freude am Schreiben gehabt zu haben scheint. „Alles in diesem Buch ist genau so passiert, abgesehen von den Dingen, die ich mir ausgedacht habe. …. Welche? Das müssen Sie schon selbst herausfinden“, schreibt er in seinem Nachwort. „Wenigstens Sie wissen nun ja, wie sich die Sache wirklich zugetragen hat“, will er uns weismachen. Doch tatsächlich kennt nur die „Mona Lisa“ die wahre Geschichte dieser zwei Jahre ab 1911. Ist es vielleicht ein wissendes Lächeln, das sie uns seit 1913 wieder im Louvre zeigt. Für uns gilt deshalb: „Wichtig ist nur die Legende, die durch das Bild geschaffen wird, nicht das Bild selbst.“ Aber lesen sollte man Hillenbrands Mischung aus gut recherchierten Fakten und phantasiereicher Fiktion dennoch unbedingt – und sei es auch nur zur besten Unterhaltung.

Veröffentlicht am 14.11.2023

Frage um Schuld und Sühne

Dünnes Eis
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REZENSION – Eine ungemein berührende, wirklich zu Herzen gehende Geschichte behandelt, ohne irgendwo in Klischees und Kitsch abzugleiten, der Roman „Dünnes Eis“ der deutschen Schriftstellerin Theres Essmann ...

REZENSION – Eine ungemein berührende, wirklich zu Herzen gehende Geschichte behandelt, ohne irgendwo in Klischees und Kitsch abzugleiten, der Roman „Dünnes Eis“ der deutschen Schriftstellerin Theres Essmann (56), im August erschienen beim Dörlemann Verlag. Es ist nach dem schmalen Lyrikband „Das Gewicht der Berührung“ (2002) und ihrer Novelle „Federico Temperini“ (2020) erst das zweite Prosawerk der als Poesietherapeutin mit Worten und Lauten, Gedanken und Gefühlen, mit Sinnen und Sinnlichkeit arbeitenden Autorin. Essmann verbindet in ihrer Romanhandlung das Schicksal gegenwärtiger Flüchtlinge mit den Erlebnissen und Erfahrungen ostdeutscher Flüchtlinge gegen Ende des Zweiten Weltkriegs. Es ist eine überaus ernsthafte Geschichte um Täter und Opfer, um Schuld und Sühne, um Trauer und Einsamkeit. „Dünnes Eis“ ist ein Roman, der uns zeigt, wie Kriege Menschen psychisch zerstören und auch nach ihrem offiziellen Ende ein Leben lang nachwirken. Zugleich zeigt der Roman aber auch Versuche der Versöhnung.
Wir lernen Marietta kennen, die fast 100-jährig zwar nicht allein, aber doch einsam in ihrer Seniorenresidenz lebt, nachdem ihre Zimmernachbarin und Freundin Gisela kürzlich verstorben ist. Ihr neuer Nachbar ist Herr Tacke – ein mürrischer und zurückgezogen wirkender Mann. Er sei ein alter Nazi, munkelt man. Nur langsam gelingt es Marietta, einen nachbarschaftlichen Kontakt zu ihm herzustellen. Eine Kontaktaufnahme anderer Art schafft sie in ihrer Begegnung mit dem kleinen Enis, einem Jungen aus der nahen Flüchtlingsunterkunft, der sie an ihren eigenen Sohn erinnert: Johann wurde damals (1945) als Sechsjähriger in Ostpreußen von russischen Soldaten erschossen. Beide Begegnungen zwingen die Seniorin, sich mit ihren im Innersten vergrabenen, doch auch nach Jahrzehnten nicht verwundenen Schuldgefühlen auseinanderzusetzen.
„Weil ich geschrien habe: Lauf weg! lief Johann weg. Weil Johann weglief, hat der Russe ihn erschossen.“ Zwar hatte der Russe geschossen, aber zeit ihres Lebens gab sich Marietta die Schuld am Tod ihres Sohnes. Doch hatte sie tatsächlich geschrien? Oder plagen sie falsche Erinnerungen? „Aber als ich hilflos mitansehen musste, wie Johann zu Boden ging, ist mein Herz zerrissen. Wie sollte ich damit weiterleben? Mit einem zerrissenen Herzen? Also habe ich versucht, den Riss zu flicken. Mit dem Faden des Verstandes. Ich musste mir erklären, warum mein Kind starb.“
Jetzt versucht sie, den kleinen Enis zu trösten, über den sie erfahren hat, dass er die Ermordung seiner beiden Eltern miterleben musste und seitdem traumatisiert und verstummt ist. „Heutzutage spricht jeder von Traumatisierung“, vergleicht Marietta mit 1945 unter sowjetischer Besatzung. „Damals, unmittelbar danach, fragten die Frauen sich gegenseitig: Und du? Musstest du auch ran? … Meistens aber sagte keine etwas. Und ich?“ Auch Marietta hatte geschwiegen und jeden Gedanken daran vermieden. Damals mussten die Opfer – ob Zivilist oder junger Soldat wie Herr Tacke – selbst sehen, wie sie mit ihren Schreckensbildern im weiteren Leben klarkamen. „Manchmal reicht ein Riss, dünn wie ein Haar, damit etwas Verhärtetes aufbricht.“ Zum Beispiel konnte Marietta die h-Moll-Messe von Bach nicht ertragen, die Lieblingsmusik ihres verstorbenen Mannes. „Sie zieht mich dorthin, wo ich nicht sein kann. …. Auf dünnes Eis?“
„Dünnes Eis“ ist ein in Sprache und Charakteren beeindruckender Roman voller Mitgefühl und Menschlichkeit, wie es heutzutage nur wenige gibt. Theres Essmann greift ein altes Thema auf und zeigt uns dessen ungebrochene Aktualität. Sie schafft es nachvollziehbar, in ihren Protagonisten die Grenzen zwischen Täter und Opfer aufzubrechen und die Frage nach Schuld aus wechselnder Perspektive zu stellen. „Dünnes Eis“ von Theres Essmann packt seine Leser und wirkt wohl bei allen noch recht lange nach.

Veröffentlicht am 01.11.2023

Über das Miteinander der Generationen

Vielleicht der schönste Sommer
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REZENSION – Vor zwei Jahren wurde der Debütroman „Sista sommaren“ von Eleonore Holmgren in Schweden zum Bestseller. Jetzt erschien bei der dtv Verlagsgesellschaft die ins Deutsche übersetzte Geschichte ...

REZENSION – Vor zwei Jahren wurde der Debütroman „Sista sommaren“ von Eleonore Holmgren in Schweden zum Bestseller. Jetzt erschien bei der dtv Verlagsgesellschaft die ins Deutsche übersetzte Geschichte einer ungewöhnlichen Freundschaft zwischen einer 86-Jährigen Witwe und einem 20-jährigen Kleinkriminellen unter dem Titel „Vielleicht der schönste Sommer“. Tatsächlich wird dieser Sommer auf der schwedischen Schären-Insel Lindö für beide aus unterschiedlichen Gründen zu einem Höhepunkt im Leben.
Der 20-jährige Adam wurde wegen seines Umgangs mit Kriminellen von seiner Mutter aus der Wohnung geworfen. Auch Freundin Sara und Kumpel Abbe wollen ihn, der ziellos und verantwortungslos durchs Leben stolpert, nicht aufnehmen. So streunt Adam über die Insel Lindö, steigt in kalter Frühlingsnacht in ein scheinbar leerstehendes Haus ein – und steht am nächsten Morgen unerwartet der Hauseigentümerin, der 86-jährigen Britta, gegenüber. Die wiederum hatte sich in den Kopf gesetzt, noch einmal einen Sommer in ihrem geliebten Landhaus verleben zu wollen, obwohl Tochter Susanne ihr dies nach dem letzten Sturz mit Knochenbruch ausdrücklich verboten hatte. Nach kurzem Kreuzverhör lässt Britta den jungen Mann bei sich wohnen. Allerdings muss er ordentlich anpacken, ihr im Haushalt helfen sowie Haus und Garten aufräumen: „Das war ein Gewinn, für sie beide. So hatte er Zeit, sich Gedanken zu machen, und konnte ihr bei einigen anstrengenden Sachen helfen, die im Haus erledigt werden mussten.“
Das Buch „Vielleicht der schönste Sommer“ ist nicht nur ein gut geschriebener Unterhaltungsroman, der dank seiner sommerlichen Atmosphäre uns Lesern in dunklen und kalten Wintermonaten „sonnige Lesemomente“ beschert, wie das Cover vorzugeben scheint. Hinter der herzerwärmenden Geschichte um die alte Britta und den jungen Adam verbirgt sich eigentlich eine tragische Erzählung um das heute oft schwierige Miteinander der Generationen.
Es geht einerseits um die Selbstverantwortung der Senioren und deren selbstständiges Leben, andererseits um die unbewusste, meist ungewollte Bevormundung durch deren berufstätige Kinder, die ihr schlechtes Gewissen durch übermäßige Absicherung des alleinlebenden Elternteils beruhigen wollen. So will Tochter Susanna eigentlich nichts Ungewöhnliches, sondern in der Stadtwohnung ihrer Mutter nur einen Notruf installieren und den Pflegedienst organisieren: „Aber Mama weigert sich, überwacht zu werden, wie sie sagt. Sie findet, dass ich mich einmische und sie wie ein Kind behandle. … Aber ich möchte mir einfach nicht länger Sorgen machen müssen. Nicht jedes Mal aufspringen müssen, wenn das Telefon läutet. Oder unruhig werden, wenn es nicht läutet.“ Auch als Adam nach einigen Tagen in Brittas Haus feststellt, dass die 86-Jährige sich nur von Fertigkost ernährt, und sie deshalb über die Bedeutung guten Essens für Senioren aufklärt, wird sie zornig: „Durfte man denn gar nichts mehr selbst bestimmen, wenn man alt wurde? Der eine meckerte wegen des Essens, die andere wollte bestimmen, wo sie wohnen sollte.“ Doch bald genießt sie gern Adams Kochkünste.
Das gut organisierte Zusammenleben der 86-Jährigen mit dem erst 20-Jährigen ist ein gegenseitiges Geben und Nehmen: Britta profitiert von Adams handwerklichem Geschick und seiner jugendlichen Kraft, während sie dem jungen Mann durch Übertragung von Aufgaben und Pflichten den richtigen Weg ins Erwachsenenleben zeigt und ihm die Übernahme von Verantwortung beibringt: „Als wir uns kennenlernten, warst du egoistisch und respektlos. Du hast keine Verantwortung übernommen, sondern die Schuld lieber bei anderen gesucht. … Du bist deutlich reifer geworden, Adam.“
Holmgrens Debütroman ist nicht nur ein angenehmer Unterhaltungsroman für dunkle Winterabende, sondern kann zugleich als freundschaftlicher Ratgeber gelesen werden, der uns hilft, noch einmal über den verantwortungsvollen Umgang mit unseren alten Eltern nachzudenken. Eine Fortsetzung hat Eleonore Holmgren unter dem Titel „Brittas Arv“ (Brittas Erbe) in Schweden bereits im Juni 2022 veröffentlicht.