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Veröffentlicht am 24.11.2019

Mehr Klischee geht eigentlich nicht mehr.

Blood Orange - Was sie nicht wissen
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Mit „Blood Orange. Was sie nicht wissen“ legt Harriet Tyce ihr gelobtes Debüt als Thrillerautorin vor. Der Diana-Verlag brachte diesen 384-seitigen Roman im Oktober 2019 in deutscher Übersetzung heraus.
Alison ...

Mit „Blood Orange. Was sie nicht wissen“ legt Harriet Tyce ihr gelobtes Debüt als Thrillerautorin vor. Der Diana-Verlag brachte diesen 384-seitigen Roman im Oktober 2019 in deutscher Übersetzung heraus.
Alison ist eine erfolgreiche Londoner Anwältin. Als ihr das Mandat in einem Mordfall übertragen wird, bedeutet dieses einen weiteren Schritt auf der Karriereleiter: Madeleine soll ihren Mann umgebracht haben, doch Alison ist von ihrer Schuld nicht überzeugt. Ihre Recherchen fördern immer mehr Parallelen zwischen dem Leben dieser beiden Frauen zutage. Zeitgleich kämpft Alison aber auch mit privaten Problemen: Der Spagat zwischen ihrer beruflichen Karriere und ihrer Rolle als Mutter fällt ihr schwer, sie verliert sich in Alkoholexzessen und einer Affäre mit ihrem Kollegen. Als sie dann noch anonyme Nachrichten erhält, die ihr mit Enthüllung drohen, spitzt sich die Lage für die Anwältin zu.
Um es vorweg zu schreiben: Überzeugen konnte Harriet Tyce mich mit ihrem Thriller, der eher einem Spannungsroman gleicht, leider nicht, und die durchaus positiven Resonanzen sind für mich ganz und gar nicht nachvollziehbar.
Positiv sei angemerkt, dass sich dieses Buch flüssig lesen lässt, insgesamt ein Rundes, Ganzes ergibt, und juristische Fragen, die den Roman durchziehen, von guter Recherche zeugen; Letzteres ist allerdings auch nicht verwunderlich, wenn man bedenkt, dass die Autorin einige Jahre als Prozessanwältin praktizierte. Diese Punkte sind dann auch der Grund, weshalb ich diesem Buch zwei von fünf Lesesternen „verleihe“.
Inhaltlich konnte ich dem Buch indes nichts abgewinnen: Die Autorin spielt zu sehr mit Klischees, die sich am Ende bestätigen: Die Frauen in diesem Roman begehen zwar alle mehr oder weniger kleine Fehler, zumindest erscheinen diese im Lichte der Verfehlungen der Männer so, stehen aber am Ende des Romans als Opfer ihrer dominanten, gewalttätigen Männer da. Hier werden eindeutig althergebrachte Rollenklischees, die durchaus eine wahre Basis haben, transportiert. Verstärkt wird dieser Eindruck auch durch die Charaktereigenschaften, die den Figuren zugordnet werden: Die Frauen sind naiv, voller Selbstzweifel und lassen alles mit sich machen, ohne auch nur, bis kurz vor Schluss, sich zur Wehr zu setzen. Und auch die „Flucht“ aus ihrer Opferrolle hinterlässt einen mehr als bitteren Beigeschmack, denn Mord oder unterlassene Hilfeleistung können und dürfen keine Option sein, dieser Rolle zu entfliehen. Somit entlässt der Thriller auch in dieser Hinsicht Leserinnen und Leser mit moralisch zweifelhaften Lösungen.
Über weite Strecken habe ich mich gefragt, wie Alison und ihre Kolleg/innen es schaffen, ihren Berufsalltag erfolgreich zu meistern, scheinen doch Alkohol und Affären fast einen größeren Raum einzunehmen als saubere juristische Arbeit.
Die Verbrechen an sich werden am Ende zufriedenstellend aufgeklärt, jedoch entbehren die Ermittlungsarbeiten, die zugegebenermaßen nicht im Zentrum des Thrillers stehen, jeglicher Professionalität. Am Ende stand ich vor der Frage, ob Untersuchungen überhaupt stattgefunden hatten.
Schließlich stellt sich die Frage, für wen dieser Thriller eigentlich geschrieben wurde: meiner Meinung nach für Frauen, die sich selbst in der Opferrolle sehen und vermeintlich einfach, eindimensionale Lösungen suchen. Einblicke in das Sexualleben der Protagonistin befriedigen zudem voyeuristische Gelüste.
Auf mich wirkt das Buch insgesamt eher „billig“, sodass ich es zur Lektüre nicht weiterempfehlen kann – zumindest nicht dann, wenn man von einem Roman mehr als Sex, Crime und Klischeedenken erwartet.

Veröffentlicht am 17.11.2019

Les Archives de la Planète

Der Archivar der Welt
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Wir schreiben das Jahr 1940. Albert Kahn (1860 bis 1940), verarmter französischer Bankier und einst einer der reichsten Männer Europas, liegt im Sterben. An seiner Seite: sein Freund und Chauffeur Alfred ...

Wir schreiben das Jahr 1940. Albert Kahn (1860 bis 1940), verarmter französischer Bankier und einst einer der reichsten Männer Europas, liegt im Sterben. An seiner Seite: sein Freund und Chauffeur Alfred Dutertre. Gemeinsam lassen die beiden Männer anhand von Fotografien und Tagebucheinträgen ihr Leben Revue passieren. Erschienen ist Lia Tilons 272-seitiger Roman „Der Archivar der Welt“ über eine ungewöhnliche Männerfreundschaft und gewaltige Mission im September 2019 bei dtv.
Albert Kahn ist ein vielseitig interessierter Mensch. Mit Verbreitung der Fotografie und Entwicklung des Autochromverfahrens, also der farbigen Fotografie, entwickelt sich in ihm eine Vision: Anhand dieser technischen Neuerungen möchte er ein „Archiv des Planeten“ erstellen, eine Sammlung von Bilddokumenten mit dem Ziel, traditionelle Lebensweisen zu bewahren, die Welt den Menschen näher zu bringen und so einen Beitrag für den Frieden zu leisten. Die Aufgabe des Fotografierens überlässt er vor allem seinem Chauffeur, Dutertre, mit dem er gemeinsam die Welt bereist, um am Ende auf eine beachtliche Sammlung von über 72.000 Aufnahmen zurückschauen zu können, die auch heute noch im „Musée départemental Albert-Kahn“ nahe Paris zugänglich ist. Die Bildtafeln am Ende des Buches vermitteln ein beeindruckendes Bild von der Arbeit dieser beiden Männer und lassen das Gelesene lebendig werden.
Die Geschichte dieser beiden Männer wird auf zwei Ebenen erzählt: Die Rahmenhandlung bilden die letzten Lebenstage Albert Kahns zur Zeit des Zweiten Weltkriegs. Alfred Dutertre kümmert sich uneigennützig um den Sterbenden, gräbt immer wieder im Archiv und somit in gemeinsamen Erinnerungen. Hierbei blicken Leserinnen und Leser zurück auf die Geschichte dieser beiden Männer sowie die der Fotografie, unternehmen mit dem Chauffeur zusammen eine Reise in glanzvollere Zeiten und erfahren Wissenswertes über Kahns Motivation, seine Lebenswerk in Angriff zu nehmen.
Unterbrochen wird diese Rahmenhandlung immer wieder durch Dutertres Tagebucheinträge aus den Jahren 1908/09. Gemeinsam mit den Protagonisten reisen die Leser/innen in die USA, nach Japan und China. Neben Einblicken in den Reisealltag zur damaligen Zeit enthalten diese Abschnitte auch teils wunderschöne Beschreibungen von Land und Leuten.
Gut gewählt und gleichzeitig bedrückend ist, dass das "Archiv des Planeten" eine friedensstiftende Aktion sein sollte, und gerade jetzt vor dem Hintergrund des wohl grausamsten Krieges, den Europa und die Welt durchleben mussten, resümiert wird. Dieses bietet reichlich Stoff zum Nachdenken – für mich persönlich auch der Umstand, dass wir heute in einer Zeit leben, in der die Welt nicht nur dank der medialen Entwicklung näher zusammengerückt ist, wir aber von einem friedlichen Miteinander und Verständnis füreinander nach wie vor weit entfernt sind.
Nicht nur inhaltlich, auch sprachlich unterscheiden sich die beiden Handlungsstränge voneinander: Sprachlich ist die Szenerie rund um Kahns Tod ansprechend, einzelne Szenen werden sehr ausführlich, bildhaft beschrieben, sodass man beim Lesen förmlich Bilder vor Augen hat. Auf der anderen Seite steht Dutertres Tagebuch: Zwar gibt es auch hier plastische Beschreibungen, aber die oft kürzeren Sätze, die wie Notizen "hingeworfen" sind, lassen den Text authentisch werden. Insgesamt lässt sich das Buch flüssig und atmosphärisch dicht lesen.
Alles in allem präsentiert Lia Tilon mit „Der Archivar der Welt“ ein gut lesbares und beeindruckendes zeitgeschichtliches Dokument von ungebrochener Aktualität, aus dem ich viel lernen konnte und das ich gerne zur Lektüre weiterempfehle.

Veröffentlicht am 16.11.2019

Im Trüben fischen

Winteraustern
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Zum dritten Mal ermittelt Luc Verlain in Alexander Oetkers „Winteraustern“; dieser 320-seitige Kriminalroman ist im November 2019 bei Hoffmann und Campe erschienen.
Winterzeit ist Austernzeit. Und gerade ...

Zum dritten Mal ermittelt Luc Verlain in Alexander Oetkers „Winteraustern“; dieser 320-seitige Kriminalroman ist im November 2019 bei Hoffmann und Campe erschienen.
Winterzeit ist Austernzeit. Und gerade als die Austernzüchter Hochkonjunktur haben, unternimmt Luc Verlain mit seinem totkranken Vater, einem ehemaligen Austernzüchter, einen letzten Ausflug zu den Austernbänken. Retten sie zuerst einen Züchter, der überfallen wurde, vor dem Tod, treffen sie kurze Zeit später auf die zu Schau gestellten Leichname zweier junger Männer. Mit seiner Kollegin und Freundin, Anouk, macht Luc sich daran, diesem Mordfall auf den Grund zu gehen … und stellt schließlich fest, dass des Rätsels Lösung schwerer zu ergründen ist, als anfangs vermutet.
Obgleich es sich hierbei um den dritten Band einer Kriminalserie handelt und ich die Vorgängerbände nicht kenne, fiel es mir von Anfang an leicht, dem Geschehen zu folgen, da der Fall an sich abgeschlossen ist. Die schon bekannten Charaktere werden detailliert beschrieben und Vorwissen ist so in das aktuelle Geschehen so eingeflochten, dass sich auch Neueinsteiger/innen schnell zurechtfinden. Leider kommt es dabei das eine oder andere Mal zu Doppelungen, was den Lesespaß und –fluss ein wenig hemmte, wenn z.B. die schwere Krankheit von Lucs Vater oder Lucs schwieriges Verhältnis zu seinem Kollegen Etxeberria mehrfach Erwähnung finden.
Das Geschäft mit den Austern ist hart umkämpft. Das erfahren Leserinnen und Leser schon zu Beginn des Romans. Als sich dann auch noch herausstellt, dass die Ermordeten unbescholten und allgemein beliebt waren, scheint das Mordmotiv rasch gefunden: Krieg unter den Austernzüchtern. Über weite Strecken des Romans suchen Ermittler/innen und Leser/innen dann auch in diesem Umfeld nach dem Täter. Umso überraschender ist entsprechend die Lösung des Falls, die in einen völlig anderen Bereich führt und dennoch logisch erscheint. Insofern ist Oetker hier ein eher ruhiger, aber nichtsdestotrotz spannender Kriminalroman gelungen, auch wenn ich persönlich mich am Ende gefragt habe, wie zeitgemäß diese Auslösung ist. Letztendlich tut dieser (persönliche) Zweifel dem Lesevergnügen allerdings keinen Abbruch. Der dem eigentlichen Romangeschehen folgende Epilog legt eine Fortsetzung dieser Reihe nahe.
Als Leser/in erfährt man in diesem Werk viel Wissenswertes über Austernzucht und –handel. Mit dem Einfluss, den der Klimawandel auf dieses Gewerbe hat, greift Oetker zudem auf ein sehr aktuelles Thema zurück. Gleichfalls brisant und zeitgemäß ist die Gesellschaftskritik, die der Autor anhand des jungen Migranten Karim ins Feld führt: Hier wird aufgezeigt, wie schwer die Integration (nicht nur) in Frankreich fällt, die Beschreibung des mondänen Paris im Gegensatz zu den heruntergekommenen Trabantenstädten hinterlässt ein ungutes Gefühl.
Sehr gut gelungen ist dem Verfasser die Beschreibung der winterlichen Aquitaine. Die Kälte und die Unwirtlichkeit kann man beim Lesen förmlich spüren. Überhaupt sprüht der Roman vor Lokalkolorit, was an sich positiv ist, allerdings könnte der Autor in Zukunft mit dem Einflechten französischer Begriffe ein wenig vorsichtiger sein: Zwar erschweren sie das Verständnis nicht, aber an einigen Stellen erschienen sie mir doch gekünstelt und zu viel des Guten. Ansonsten ist Oetkers Sprache flüssig und leicht zu lesen, sodass man bei der Lektüre flott vorankommt.
Insgesamt präsentiert Alexander Oetker mit „Winteraustern“ einen ansprechenden Kriminalroman, der durchgehend spannend ist, mit der Austernzucht und der winterlichen Aquitaine in einem eher ungewöhnlichen Ambiente spielt und aufgrund seiner Thematik zeitgerecht ist. Mir jedenfalls hat das Werk einige unterhaltsame Lesestunden beschert, weshalb ich dieses Buch Freundinnen und Freunden der Kriminalliteratur mit dreieinhalb von vier Lesepunkten gerne zur Lektüre weiterempfehle.

Veröffentlicht am 02.11.2019

Sie wollte einfach nur glücklich sein.

Der Fund
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„Der Fund“ war mein erster und bestimmt nicht letzter Roman von Bernhard Aichner. Erschienen ist dieser 352-seitige Thriller im August 2019 bei btb.
Die 53-jährige unbescholtene Verkäuferin Rita ist vom ...

„Der Fund“ war mein erster und bestimmt nicht letzter Roman von Bernhard Aichner. Erschienen ist dieser 352-seitige Thriller im August 2019 bei btb.
Die 53-jährige unbescholtene Verkäuferin Rita ist vom Leben gebeutelt: Früh schon verlor sie ihre Eltern, der Traum einer Schauspielkarriere zerplatzte, das einzige Kind starb bei einem Unfall, zurück blieben nur sie und ihr alkoholkranker Mann. Beim Entpacken von Bananenkisten macht sie einen ungewöhnlichen Fund. Sie wittert ihre Chance auf einen Neuanfang … und ahnt anfangs noch nicht, dass sie sich damit in Teufels Küche bringt.
Der Roman ist m.E. eher ein Spannungsroman als ein Thriller, nichtsdestotrotz bietet er ein rasantes, skurriles und abwechslungsreiches Lesevergnügen. Nur mit der Realitätsnähe sollte man es nicht allzu ernst nehmen.
Obwohl das Grundthema des Buches, in dem u.a. die Mafia eine Rolle spielt, etwas anderes vermuten lässt, kommt dieser Roman unblutig daher, ja einige Stellen erscheinen sogar sehr bizarr, sodass man als Leser/in das eine oder andere Mal mit dem Kopf schütteln muss und kaum fassen kann, was man dort liest. Er punktet mit einer ungewöhnlichen Auflösung, die in mir persönlich dann doch einige moralische Bedenken geweckt hat, einem interessanten Aufbau und einer kurzweiligen Sprache.
Erzählt werden die Ereignisse auf zwei Ebenen: Auf der einen Seite stehen die ca. drei Wochen in Ritas Leben, die sich ganz um den Fund drehen. Auf der anderen befragt ein namenloser Kommissar Zeug/innen. Auch wenn man direkt nur sehr wenig über den Polizisten erfährt – gerade die Frage, warum er sich so für Ritas Schicksal interessiert, bleibt bis zum Ende offen - , hat Aichner mit ihm die meiner Meinung nach überzeugendste Figur dieses Buches geschaffen. Er erinnert, wie eine Zeugin auch im Roman treffend formuliert, ein wenig an Columbo: Seine Fragen scheinen harmlos, er ist nennt und freundlich, lässt sich dem Anschein nach auch den einen oder anderen Bären aufbinden … bis er dann durchblicken lässt, dass er die anderen sehr wohl durchschaut. Ein wenig kritisch blicke ich auf Rita, da sie zum großen Teil doch sehr naiv handelt und es mir deshalb – trotz ihres an sich schlimmen Schicksals – schwerfiel, mit ihr mitzuleiden oder –fiebern.
Die einzelnen Kapitel sind recht kurz, die Zeugenbefragungen bestehen praktisch nur aus wörtlicher Rede, sodass man beim Lesen rasch vorankommt. Aichners Sprache unterstützt diese Geschwindigkeit: Mit knappen, teils fragmentarischen Sätzen – ein Stil, dem ich in letzter Zeit des Öfteren begegne – und einer leicht zu lesenden Ausdrucksweise, die allerdings gerade deshalb gut zu den Charakteren passt, stellt der Autor an Leserinnen und Leser eher geringe Ansprüche. Gerade dieses aber führt dazu, dass man dieses Buch wirklich an einem (regnerischen) Nachmittag verschlingen kann.
Für mich fällt dieses Buch unter die Kategorie „leichte Unterhaltungslektüre“. Es lässt sich flüssig lesen und unterhält auf angenehme Art und Weise, bietet aber wenig Anreiz, sich darüber hinaus mit Thematik oder Charakteren auseinanderzusetzen. Dennoch hat mich der Roman auf andere Werke des Autors neugierig gemacht, und mit dreieinhalb von fünf Punkten empfehle ich es gerne weiter.

Veröffentlicht am 01.11.2019

Zwischen den Fronten

Entführung
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Bei „Entführung“ handelt es sich um den vierten Band aus Petra Ivanovs Meyer- und Palushi-Reihe. Dieser 384-seitige Justizkrimi ist im August 2019 im Unionsverlag erschienen.
Die junge Studentin Lara Blum ...

Bei „Entführung“ handelt es sich um den vierten Band aus Petra Ivanovs Meyer- und Palushi-Reihe. Dieser 384-seitige Justizkrimi ist im August 2019 im Unionsverlag erschienen.
Die junge Studentin Lara Blum wurde entführt. Der muslimische Täter wurde gefasst. Doch er schweigt. Wo ist Lara? Welche Beweggründe stecken hinter der Tat? Der Anwalt Pal Palushi wird zum Verteidiger ernannt und gerät dabei in einen Gewissenskonflikt. Gemeinsam mit seiner Freundin, der Ex-Polizistin Jasmin Meyer, versucht er, den Hintergründen für die Tat auf die Spur zu kommen – Hintergründe, die die dunklen Seiten unserer Gesellschaft offenbaren und einmal mehr zeigen, dass die Welt komplizierter ist, als viele es sich wünschen.
Obwohl dieses der erste Band dieser Reihe ist, den ich gelesen habe, fiel es mir von Anfang an leicht, dem Geschehen zu folgen: Die Charaktere sind plastisch und menschlich gezeichnet, alle wichtigen Details über die Vorgeschichte der Protagonist/innen sind in den aktuellen Fall integriert. Jasmin Meyer, selbst einst Entführungsopfer, kämpft nachvollziehbar mit inneren Dämonen, schafft es aber auch, mit ihrer Geschichte Zugang zu den Eltern des Entführungsopfers zu finden, die ihrerseits auf der einen Seite verständlicherweise betroffen sind, andererseits aber auch nur mangelhaft kooperieren. Pal Palushi, Moslem aus dem Kosovo, kämpft gleich an mehreren Fronten: Als Pflichtverteidiger eines überführten Täters hat er es ohnehin nicht leicht, wird ihm doch vorgeworfen, einen Verbrecher zu schützen und mit ihm gemeinsame Sache zu machen. Als Moslem sagt man ihm mangelnde Distanz nach, ja man wirft ihn sogar in einen Topf mit den Islamisten. Seine Verteidigung ist ein Balanceakt zwischen dem Wunsch, Lara zu finden, und der Aufgabe, seinen Klienten nicht unnötig zu belasten. All diese Schwierigkeiten werden noch angefacht durch die Hetze der Medien. Doch auch privat hat er seine Nöte: Sein Neffe, Rinor, distanziert sich mehr und mehr von der Familie und sucht Halt in islamistischen Kreisen.
Die Geschichte wird aus verschiedenen Perspektiven erzählt, was sie komplex macht und die Leser/innen vor einige Fragen stellt. Immer wieder kommt es zu unverhofften Wendungen und neuen Erkenntnissen, sodass man beim Lesen das Buch kaum zur Seite legern mag – und das, obwohl die Handlung an sich eher ruhig verläuft. Das Ende führt dann lose Fäden zusammen, ist sehr überraschend und dennoch logisch nachvollziehbar - genau der Schluss, den ich von einem guten Kriminalroman erwarte.
Mit dem Thema „Islam“ hat Petra Ivanov ein heißes Eisen angefasst. Ihre Darstellung verschiedener islamischer Strömungen und Praktiken sowie ihr Nachspüren der Frage, warum sich in einem demokratischen Land junge Männer (und auch Frauen) teils extremistischen Organisationen anschließen, zeugen von guter Recherche, berühren teils existenzielle Fragen („Warum lässt Allah so viel Elend zu?“) und bergen bestimmt auch streitbares Potenzial in sich. Jedenfalls kann ich mir gut vorstellen, dass die Autorin mit ihren Ansichten auch oft auf wenig Gegenliebe stößt. Zudem zeigt das Buch auch, wie oben schon erwähnt, das Dilemma eines Strafverteidigers auf und hinterfragt die Rolle der allgegenwärtigen Medien. Alles in allem also ein Kriminalroman, der über eine spannende Handlung hinaus noch viel zu bieten hat.
Ivanovs Sprache und Stil sind flüssig und schnörkellos zu lesen. Die Autorin findet genau die richtige Mitte zwischen Liebe zum Detail und Offenheit, die es Leserinnen und Lesern ermöglicht, in die Geschichte einzutauchen und doch noch Raum für eigene Vorstellungen zu haben.
Insgesamt legt Petra Ivanov mit „Entführung“ einen spannenden Krimi vor, der reichlich Stoff zum Nachdenken sowie Überdenken festgefahrener Denkstrukturen bietet und einen kritischen Blick auf unsere Gesellschaft wirft. Von mir gibt es mit viereinhalb von fünf Punkten eine klare Leseempfehlung.