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Veröffentlicht am 30.10.2020

Interdiziplinärer Erklärungsversuch

Teilhabe und Raum
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Wieso bringen sich einige Menschen mehr in den Sozialraum und das Gemeinwesen ein als andere? Aus welchen Gründen werden in urbanen und ländlichen Räumen tendenziell unterschiedliche Formen von Teilhabe ...

Wieso bringen sich einige Menschen mehr in den Sozialraum und das Gemeinwesen ein als andere? Aus welchen Gründen werden in urbanen und ländlichen Räumen tendenziell unterschiedliche Formen von Teilhabe genutzt? Welche Rolle spielen in diesem Zusammenhang strukturelle Rahmenbedingungen wie Größe des Sozialraumes, sozioökonomische Hintergründe der dort lebenden Menschen, das vorhandene Repertoire von Mechanismen der Teilhabe für die tatsächliche Teilnahme? Wieso fühlen wir uns an einigen Orten wohl und an anderen eher nicht?

Diese Fragen lassen sich nicht ausschließlich auf der individuellen Ebene beantworten, sondern bedürfen einer interdisziplinären Betrachtungsweise. Die Herausgeberinnen des vorliegenden Sammelbandes nehmen in diesem Zusammenhang politische, kulturelle, pädagogische, soziale und symbolische Aspekte (S. 7) von Raum und Teilhabe explizit in den Blick. Ziel der Herausgeberinnen ist es, die von ihnen identifizierte Forschungslücke zu schließen. Der vorliegende Hand soll einen Beitrag zu leisten, die Relevanz des `Räumlichen` für politische, soziale und individuelle Teilhabe herauszuarbeiten.

Ein fokussierter Blick auf die Quellen des interdisziplinären Ansatzes macht deutlich, dass verschiedene Bezugswissenschaften unterschiedliche Begriffe zur strukturellen Ermöglichung und zur praktischen Förderung von Teilhabe verwenden. So finden sich Ansätze nicht nur in der Sozialgesetzgebung (z.B. SGB I, IX), sondern auch in den (Landes-)Baugesetzen sowie (Bundes-)Förderprogrammen wie Soziale Stadt. Auf der Metaebene wird dabei der Begriff Teilhabe durch Partizipation ersetzt bzw. diesem gleichgestellt (S. 9). Dies hat nicht nur semantische Folgen, sondern nimmt so nicht nur die Teilhabe sowie die Teilnahme der jeweiligen Zielgruppen aktiv in den Blick. Nicht nur der Tatbestand der situativen (punktuellen) Teilhabe, sondern der Prozess der individuellen Teilnahme auf Akteursebene sowie das Machtgefüge rücken damit in den Fokus. Konkret: Es geht um die Identifikation von Rahmenbedingungen wie bspw. strukturellen Netzwerken, architektonischen Gegebenheiten, infrastrukturellen Rahmenbedingungen, sozialräumlichen Faktoren, Position der betrachteten Gruppe im Sozialgefüge, die (konstruierte) Gruppenzugehörigkeit u.v.m., welche inkludierend oder exkludierend an bestimmten Orten (Territorialisierung, Place-Making, Networking und Scaling, vgl. S. 10), in Sozialräumen, im Gemeinwesen oder auf der individuellen Ebene wirken.

Teilhabe und Teilnahme am öffentlichen Leben stehen im Zentrum der zusammengestellten Beiträge von Meier und Schlenker. Die Herausgeberinnen üben sich am Versuch eines Querschnitts an alltäglichen – in den Niederlanden und Deutschland lokalisierten - Aktionsräumen und beleuchten diese in 12 zusammengestellten Beiträgen.

May, bezugnehmend auf Fraser, Lefebvre und Freire, skizziert als Einstieg in den vorliegenden Sammelband eine partizipative Sozialraumorientierung, die spiralförmig sich dynamisch entwickelnde Interessen von einzelnen Gruppen in den diskursiven Prozess, um die Maximierung von Teilhabe und Teilnahme an Gemeinschaft, aufnimmt.
Im ersten inhaltlichen Beitrag widmet sich Buckow dem Anschlag auf den Bürgermeister der Kleinstadt Altena. Er analysiert die Geschehnisse und führt diese insbesondere auf „nationale Erzählungen“ fußend auf rassistischen Grundzügen zurück. Dabei versuchen die Akteur
innen die real existierende Diversität und Migration zu negieren, was zu einer alltäglichen Kontradiktion im Leben der Bewohnerinnen führt.
Was macht Architektur mit Menschen? Schlenker wendet sich ebenfalls dem urbanen Raum zu. Sei Referenzrahmen ist jedoch der leibphänomenologische und architektonische. Im Mittelpunkt steht die individuelle Gefühlsebene und ihre Interdependenz zur stadträumlich konstruierten Atmosphäre.
Auch bei Müller und Reichmann, bezugnehmend auf das architektorsoziologische Theorie-Modell von „Fried-Egg“ (2015), steht die Architektur im Mittelpunkt: die aktive Teilhabe und Teilnahme wird hier aktiv auf städtebauliche Entscheidungen zurückgeführt, welche ausgrenzend oder einbeziehend wirken kann. Die ihren Analysen zugrunde liegenden Parameter sozialer Kontext, Raum, Materialität und Architektur werden an ausgewählten Praxisbeispielen plastisch gemacht.

Gruppenspezifisch gehen hingegen Herz und Munsch vor. Sie widmen sich in ihrem Beitrag auf die aktive Raumherstellung und Raumaneignung in und durch mehrere deutsch-türkische Gemeindezentren. Theoretischer Reflexionsrahmen sind dabei das relationale Raumkonzept von Löw (2009) und Denets Aneignungskonzept (2009). Herausgearbeitet wird von den Autor
innen dabei insbesondere die Bedeutung von Nutzungsverhalten und Handlungsdruck vor dem Hintergrund sich verändernder Rahmenbedingungen (u.a. Nutzungsverhalten, Bedürfnisse der Gemeinschaft) sowie die daraus erwachsenden Möglichkeiten aktiver Aneignung durch proaktive Mitgestaltung.
Nahtlos schließt sich der Beitrag von Reichstein an. Auch er widmet sich einer spezifischen Zielgruppe: Menschen mit Behinderung in Wohneinrichtungen im ländlichen Raum. Möglichkeiten und Fallstricke der dezentralen Unterbringung stehen dabei im Mittelpunkt seiner Analyse zum Einfluss der folgenden Faktoren: Grad der Vernetzung im sozialen Umfeld (inter- und intrapersonelle Aspekte), infrastrukturelle Parameter, räumliche Parameter sowie Vorurteilsbehaftung seitens des sozialen Umfeldes.

Mit Vorurteilen beschäftigt sich auch der folgende Beitrag zum (urbanen) Nürnberger Stadtteil Werderau, in welchem sich Meier mit Industriearbeitenden beschäftigt. Dem Beitrag liegen biografische Erzählungen zu Sichtweisen auf Zugewanderte - damals und heute - sowie die sich verändernden Rahmenbedingungen für ein „Etablierten-Außenseiter-Gefüge“ (S. 14) zugrunde. Meier legt soziale und kulturelle Differenzlinien offen, die ihrerseits zu inklu- und exkludierenden Sozialpraktiken beitragen und sozial und räumlich Strukturen reproduzieren, welche Auswirkungen auf tagesaktuelle Raum(re-)konstruktion mit sich bringen.

Zurück im urbanen Raum widmet sich Ullrich dem Bonner Projekt MITWIRKEN, mit welchem Geflüchtete - trotz fehlender Bürgerinnenrechte – dabei unterstützt werden sollen, aktive Mitglieder einer Gemeinschaft (doing citizenship) zu werden. Konkret geht es dabei der Frage nach, welche inter- und intrapersonellen Kriterien vorliegen bzw. gefördert werden sollten, damit aktive Bürgerinnenschaft gelingen kann. Ernüchternd kommt die Autorin zu dem Schluss, dass es weitgehend unklar bleibt, wie mittel- und langfristige Sichtbarkeit und politische Teilhabe indiziert und sichergestellt werden könnten.
Im Beitrag von Haartsen / Strijker wird die staatlich lancierte, auf Ehrenamtlichkeit fußende, Partizipationsgesellschaft im ländlichen Raum in den Niederlanden in den Blick genommen. Untersucht werden die Auswirkung von geografischen, infrastrukturellen und soziokulturellen Parametern. Die Autorinnen arbeiten neben Fragen nach der Kontinuität von angestoßenen Projekten, welche wichtige Dienstleistungen im sozialen Feld übernommen haben, die Gefahr der Re-Produktion von Ungleichheit und Ausschluss von marginalisierten Gruppen ohne große Lobby in den ehrenamtlichen Netzwerken heraus. Der Umgang mit beiden Aspekten bleibt am Ende offen.
Dem Themenfeld Stadtteilplanung wenden sich Eckardt/Werner in ihrem Beitrag am Beispiel Erfurt zu. Dabei nehmen sie Akteure, Steuerungsformen, Netzwerke und Narrative in den Blick. Ernüchtert stellen sie fest, dass das Potential von Empowerment in der Teilhabe zu Gunsten einer Teilnahme-Demokratie im betrachteten Beispiel aufgegeben und dominante Narrative auf Kosten weniger präsenter Narrative verstärkt werden, wodurch Marginalisierung verstärkt wird.
Im abschließenden Beitrag widmet sich Schwarz am Beispiel von Busgeschichten alltäglichen Praxis von Ein- und Ausschlussmechanismen (z.B. Platz frei halten). Sie kommt zu dem Schluss dass es keinen Raum ohne Teilhabe und Machtausübung geben kann. Abschließend bleibt für sie die Frage, wie alltäglich-allgegenwärtige intersubjektive und interobjektive Praxen sichtbar und damit besprechbar gemacht werden können.

Die Herausgeber
innen leisten mit der Zusammenstellung einen Beitrag zur Vergegenwärtigung alltäglicher politischer, kultureller, pädagogischer, sozialer und symbolischer Rahmenbedingungen der Ermöglichung(-sgrenzen) von Teilhabe im räumlichen Kontext. Interessierte Leserinnen finden im vorliegenden Sammelband eine Bandbreite an interdisziplinären Perspektiven zur Betrachtung von Teilhabe und Raum. Der Band regt zur Identifikation und Reflexion eigener alltäglicher Praxen - (un-)abhängig vom wissenschaftlichen Kontext – des Ein- und Ausschlusses von Mitmenschen an.
Der vorliegende Sammelband kann nur der erste Schritt auf dem Weg zu einer intensiveren Betrachtung und Auseinandersetzung mit Teilnahme und Teilhabe ermöglichenden und blockierenden Aspekten sein. Im Grunde fordern die Herausgeber
innen (in-)direkt Praktikerinnen, Entscheidungsträgerinnen, Multiplikator*innen usw. insbesondere an disziplinären Schnittstellen auf, sich an einen Tisch zu setzen und über die Auswirkungen der Gestaltung von Raum auf Individuen und/oder Bevölkerungsgruppen ins Gespräch zu kommen – im Sinne eines demokratischen Gemeinwohls.

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