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Veröffentlicht am 28.02.2022

Happy End für Außenseiter

Nordlichtträume am Fjord
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Wie der Titel bereits andeutet, ist Norwegen der Schauplatz der romantischen Geschichte, die Julie Larsen ihren Leserinnen in dem hier zu besprechenden Roman erzählt. Norwegen in der Gegend um Trondheim, ...

Wie der Titel bereits andeutet, ist Norwegen der Schauplatz der romantischen Geschichte, die Julie Larsen ihren Leserinnen in dem hier zu besprechenden Roman erzählt. Norwegen in der Gegend um Trondheim, um genau zu sein, einer überwältigend schönen Landschaft, in der die Protagonistin Annabell aus Hamburg landet, um dort auf dem Hof der Familie Solberg für eine Weile zu arbeiten. Auf eine Stellenanzeige hatte sie sich beworben, nicht ahnend, dass es ganz sicher nicht die Besitzerin des Hofes mit ehemaliger Spinnerei war, die ihren Arbeitsvertrag online unterschrieben hatte, und die von Annabells Ankunft genauso überrascht war wie Annabell enttäuscht von der Tatsache, dass es keinen Arbeitsplatz für sie geben sollte. Zurück nach Hamburg? Unmöglich, denn vor ihrem Leben dort – und vor sich selbst, wie die Leser erfahren werden – war die schicke junge Frau geflohen, nachdem sie nicht nur ihre Arbeit verloren hatte sondern zu ihrem Entsetzen auch noch schwanger geworden war nach einer Nacht mit einer Zufallsbekanntschaft. Zum Glück ist Berit Solberg zwar eine schnell aufbrausende, aber eben auch eine patente Frau mit dem Herz auf dem rechten Fleck und findet nach der ersten rechtschaffenen Empörung flugs eine Beschäftigung für die aus den Bahnen ihres geregelten und kontrollierten Lebens geworfenen Annabell, die in ihren Designerklamotten und großstädtischem Auftreten so gar nicht in die raue Gegend hoch oben im Norden passen will, zu ihrer eigenen Überraschung aber sehr bald Gefallen findet an ihrer leicht chaotischen, doch überaus toleranten Gastgeberin nebst Familie und der ungezwungenen Freundlichkeit, die ihr entgegengebracht wird. Und als sie dann auch noch dem zurückhaltenden, gar menschenscheuen Schafbauern und Sonderling Bjarne, der seine eigenen Geheimnisse hütet, näherkommt und überdies ihre organisatorischen Fähigkeiten als Marketingfachfrau, als die sie in Hamburg erfolgreich war, gefragt sind für die Bildung einer Kooperative, von der die kreativen Bewohner des Örtchens Elvasund träumen, um die Traditionen zu wahren und ihnen Zukunft zu geben, beginnt Annabell allmählich, nicht nur die Scherben, in die ihr bisheriges Leben vermeintlich zerfallen ist, aufzusammeln, sondern sich gleichzeitig auch mit sich selbst und der Person, die sie glaubte zu sein, auseinanderzusetzen – und schließlich an eine Zukunft zu glauben, für die es allerdings den Mut braucht, über den eigenen Schatten zu springen....
Einen gefühlvollen Roman mit insgesamt liebenswerten Charakteren hat die Autorin mit ihren „Nordlichtträumen“ geschrieben, den ich mit geringen Abstrichen gern gelesen habe. Sie vermittelt durch das gerade richtige Maß an immer wieder wie zufällig eingestreuten, dankenswerterweise niemals episch ausgedehnten Landschaftsschilderungen, auch denjenigen unter den Leserinnen (denn es ist ganz gewiss ein Frauenroman, dem ich hier ein paar Gedanken widme), deren Weg sie nie hinauf in den Norden Europas geführt hat, einen bildhaften Eindruck des ob seiner Naturschönheiten als Urlaubsziel so beliebten skandinavischen Landes, das durch den Ölboom vor wenigen Jahrzehnten aus seinem Dornröschenschlaf gerissen wurde und nun eines der europäischen Länder mit dem höchsten Lebensstandard ist. Doch was noch wichtiger ist – ihre Charaktere sind so gezeichnet, dass sie nicht austauschbar sind, man sie nur in einer Geschichte finden kann, die eben in Norwegen spielt. Kurz und gut – sie sind authentisch in ihrer gelassenen Fröhlichkeit und Freundlichkeit, ihrer Unkompliziertheit und Bereitschaft, das Leben so zu nehmen, wie es kommt, entschlossen, ihm in jeder Lebenslage etwas abzugewinnen, das beste aus jedem Tag zu machen.
Die Figur der Annabell ist das genaue Gegenteil zu den Menschen, die sie vorurteilsfrei aufnehmen und deren Freundschaft sie sich schon bald wünscht. Oberflächlich betrachtet ist sie eine typische Vertreterin ihrer Generation, ihres Landes und ihres Berufsstandes: erfolgreich, dynamisch, unabhängig und reichlich selbstbezogen. Dass viel mehr in ihr steckt, lernt sie im Laufe der Geschichte – durch die Begegnung mit einer Welt, die der eigenen so gar nicht ähnelt, mit Menschen, die alles andere als oberflächlich sind, die in ihrer unkomplizierten Schlichtheit begriffen haben, worum es im Leben geht.
So schön, so gut! Allerdings ist auch die sich wandelnde Annabell eine eher schwache Protagonistin, nicht so ganz glaubwürdig, nicht fassbar (und als sehr störend empfand ich, dass sie in nicht einmal zwei Wochen Norwegisch so gut gelernt haben will, dass sie sich schon vom ersten Tag an flüssig über alle anfallenden Themen unterhalten kann! Das ist des Guten denn doch zuviel, sogar wenn man über eine außergewöhnliche Sprachbegabung verfügt!). Sie ist bedauerlicherweise niemand, dem ich mich tiefer annähern konnte. Und das gilt auch für den eigentlich sympathischen Bjarne, dessen Seelenleben jedoch so überaus kompliziert ist und dessen ihn ständig aufs Neue überfallenden Selbstvorwürfe im letzten Drittel des Romans ermüdend waren. Was verbindet die beiden, habe ich mich immer wieder gefragt. Ihre Einsamkeit, ihr Außenseitertum? Es muss wohl so sein! Sie scheinen einander genau das zu geben, was der jeweils andere braucht. Aber so recht überzeugen will mich das nicht...
Doch sei's drum! Ob der vielen klugen Gedanken, mit denen man des öfteren überrascht wird und nicht zuletzt den liebevoll geschilderten Details, den sichtbaren wie auch unsichtbaren, den häufig zu lesenden Andeutungen einer reichen Sagenwelt, die zum Alltag der ländlichen Bevölkerung im schönen Norwegen gehören, betrachte ich Julie Larsens Roman als wirklich lesenswert. Perfekt für die Romantiker unter den Leserinnen, denen eine Liebesgeschichte, die sich zart entfaltet und nach einigen Hindernissen direkt ins Happy End mündet, über alles geht!

Veröffentlicht am 27.02.2022

Kontroverse Meinungen zu kontroversen Themen unserer Zeit

Ungeschminkt hält besser
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Einige Faktoren treffen in der Regel zusammen, die darüber entscheiden, ob ein Buch letztlich gelesen wird oder nicht! Autor, Titel, Inhaltsbeschreibung – aber auch der Gestaltung des Covers kommt sicher ...

Einige Faktoren treffen in der Regel zusammen, die darüber entscheiden, ob ein Buch letztlich gelesen wird oder nicht! Autor, Titel, Inhaltsbeschreibung – aber auch der Gestaltung des Covers kommt sicher eine nicht unerhebliche Bedeutung bei der Wahl eines Buches zu, vor allem dann, wenn es ein Blickfang ist, was bei dem Cover des hier zu besprechenden Buches von Lothar Beutin, „Ungeschminkt hält besser“ gewiss nicht der Fall ist. Sicherlich, es kommt stets darauf an, was zwischen den beiden Buchdeckeln zu finden ist – aber wäre vorliegender Titel nicht Gegenstand einer Leserunde gewesen, so wäre er mir vermutlich niemals aufgefallen beziehungsweise hätte ich bei meinen gelegentlichen Streifzügen durch die heimischen Buchläden nicht danach gegriffen. In der Tat habe ich mich auch nach beendeter Lektüre und also mehrfachem Auf- und Zuklappen des Buches nicht anfreunden können mit dieser, wie ich finde, etwas gruseligen Covergestaltung.
Sei's drum, denn wie schon erwähnt ist der Inhalt das Ausschlaggebende für die Bewertung eines Romans, ob Krimi, Thriller, Fantasy, Novelle oder, wie hier, eines Diskurses in vierzehn Kapiteln, und nicht die Verpackung. Eines fiktiven Diskurses, der jedoch jederzeit auch in der Realität stattfinden könnte, ja, von dem man sich wünschen möchte, dass er so oder ganz ähnlich vielfach und immer wieder stattfindet. Zwischen Gleichaltrigen, Gleichgesinnten oder Menschen, deren Meinungen divergieren oder die viele Lebensjahre voneinander trennen. In genau der Form, die der Autor gewählt hat und auf die ich noch zu sprechen kommen werde!
Lothar Beutin lässt zwei Menschen aufeinander stoßen, zwischen denen sich normalerweise kein längeres Gespräch entwickelt hätte, nicht jedenfalls in unserer Gesellschaft und in diesem unserem Lande, in dem, so scheint mir nur allzu oft, Berührungspunkte, gar Interaktionen zwischen den Generationen nicht (mehr) vorgesehen sind, wenn man einmal von dem familiären Bereich absieht, denn da kommen, freilich immer seltener, Großeltern und Enkel durchaus zusammen. Aber ob dabei ein derart intensiver Meinungsaustausch zwischen den Generationen Gepflogenheit ist wie derjenige, der sich zwischen den beiden Gesprächspartnern des Buches – dem Studenten Jakob und der Pensionärin Philomena – entwickelt, wage ich doch stark zu bezweifeln! Ein Umstand, den ich bedauere, denn, wie Jakob bald feststellt, sind die Alten nicht einfach nur schrullig, nicht mehr von dieser Welt, in der Zeit stehen geblieben und somit zu belächeln, sondern können sogar schwergewichtige Diskussionspartner sein, mit all den Erfahrungen, die das Alter nun einmal mit sich bringt.
Die vermeintlich verschrobene Alte, die Jakob in der Mensa der Universität antrifft und die ihn zunächst, so wie er das wahrnimmt, zudröhnt mit ihrem Monolog über all die unangenehmen und wenig appetitlichen Begleiterscheinungen, die das Alter mit sich bringt und wovon er sich eher abgestoßen als angezogen fühlt, ist, wie der selbstbewusste junge Mann sehr bald und durchaus wider Willen feststellt, eine blitzgescheite Dame, die ihren wachen Kopf zum Denken und Reflektieren benutzt und die unumwunden ihre eigene Meinung zu den relevantesten und gleichzeitig kontroversesten Themen der heutigen Zeit kundtut, Meinungen, die ganz gewiss überraschen mögen und sich, ohne sie werten zu wollen, unterscheiden von dem, was zu denken angesagt oder angeordnet ist. Nach der ersten Begegnung in der Mensa treffen sich die beiden ungleichen Gesprächspartner in der Folge immer wieder, mal im Café, mal im Restaurant, beim Spaziergang, oder sie reden am Telefon miteinander, als Philomena, von einem Urlaub in Schweden zurückgekehrt, die befohlene Quarantäne einzuhalten gezwungen ist.
Jakob fühlt sich längst angezogen von der klugen älteren Frau, die ehemals als Biologin arbeitete und sich als solche eine fundierte Meinung gebildet hatte zu den Lügen und Halbwahrheiten und Verschleierungen, die ihres Erachtens von der hohen Politik verbreitet werden – in Bezug etwa auf das Virus, das die Welt seit bereits mehr als zwei Jahren im Klammergriff hält und darüber hinaus. Die Gründe dafür liefert sie gleich mit... Er teilt viele von Philomenas Ansichten nicht, wirkt oft eine Spur zu gutgläubig, zu blauäugig, was ich als Leserin, die ihm aufmerksam folgt, vor allem auf sein junges Alter und damit konsequenterweise auf den Mangel an Lebenserfahrung zurückführe, denn informiert ist er schon, hat auch eine Meinung zu den meisten Punkten, die ihn der Autor mit Philomena diskutieren lässt. Er blendet für ihn – noch – nicht Relevantes bequemerweise aus oder lässt die Hoffnung, dass es schon nicht so sei, wie Philomena lapidar verkündet, obsiegen. Divergierende Meinungen, sehr unterschiedliche Sichtweisen – und diese werden auch so stehengelassen! Gelegentlich nähern sie sich an, aber häufiger noch endet ein Diskurs, ohne dass man einen Konsens gefunden hätte.
Dies aber ist auch gar nicht nötig, denn das Entscheidende ist für mich – und wohl auch für die beiden Freunde, als die ich sie im Laufe der Handlung, die nur durch die Gesprächsthemen lose geknüpft wird, betrachte -, dass man einander zuhört, aufmerksam, ohne dem jeweils anderen ins Wort zu fallen, dass man zwar miteinander diskutiert, die so unterschiedlichen Meinungen aber akzeptiert, nicht versucht, einander von der eigenen als der allein richtigen und gültigen zu überzeugen. Das ist Gesprächskultur, ist die Basis für einen ehrlichen Umgang miteinander und gleichzeitig auch der Ausgangspunkt für die Suche nach Lösungen aus verfahrenen Situationen. Die Herrschaften, die an den Schalthebeln der Macht sitzen und ihr eigenes, eigennütziges, gar zu oft verlogenes Süppchen kochen und meinen, dass ihre Manipulationen nicht durchschaut werden, womit sie bei der großen Masse der Bevölkerung ja auch ganz richtig liegen, sollten sich daran ein Beispiel nehmen....
Und was habe ich selbst aus dem Diskurs der beiden ungleichen Gefährten mitgenommen? Nun, bei manchen Ansichten, die Philomena Jakob darlegt, mal ruhig und gelassen, mal mehr oder minder stark erregt bis aufgewühlt, musste ich schon mal schlucken, gar oft schienen sie mir einen Anklang an die gängigen Verschwörungstheorien zu haben, die von einer Horde leicht oder ganz und gar Verblendeter in Umlauf gebracht werden. Da ich selbst nicht annähernd so vertraut bin mit nicht nur biologischen Themen zum Beispiel, worunter das Virus ja fällt, das für eine Spaltung der Gesellschaft gesorgt hat, wie es Philomena sehr offensichtlich ist, kann ich ihr weder zustimmen noch dagegenhalten. Das gilt auch für andere, in den vierzehn Kapiteln angesprochene Problempunkte. Noch, denn um sich eine eigene Meinung bilden zu können reicht es nicht, nur kritisch zu sein, sondern muss man vielmehr Informationen besitzen, und dies nicht nur aus einer einzigen Quelle. Das Exklusivwissen, über das Philomena verfügt, wird mir aller Wahrscheinlichkeit nach nicht zugänglich sein – hinreichend informiert jedoch kann ich, können wir alle sein. Und dies ist die Voraussetzung dafür unsere eigenen Ansichten hinterfragen, überdenken, korrigieren, revidieren oder ganz neu bilden zu können, um sie dann auf ebenso zivilisierte Weise wie Philomena und ihr junger Freund mit anderen zu teilen, sofern diese denn bereit sind zuzuhören....

Veröffentlicht am 27.02.2022

Morden, um Leben zu retten?

Die Schreie am Rande der Stadt
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Als Kriminalroman wird Stefan Barzs hier zu besprechendes Buch bezeichnet. Und auch, wenn man während der Lektüre ins Zweifeln kommt, so ist er doch genau das! Ein Kriminalroman erzählt die Geschichte ...

Als Kriminalroman wird Stefan Barzs hier zu besprechendes Buch bezeichnet. Und auch, wenn man während der Lektüre ins Zweifeln kommt, so ist er doch genau das! Ein Kriminalroman erzählt die Geschichte eines Verbrechens, egal in welcher Zeit und unter welchen Umständen es sich ereignet hat, eines Verbrechens, das all die Faktoren beleuchtet, die einen Krimi ausmachen. Wie und warum konnte die im Zentrum der Geschichte stehende Tat geschehen? Aus welchen Gründen werden Menschen überhaupt zu Verbrechern? Wie ist schließlich ihre Schuld „vor dem Hintergrund von psychologischen und gesellschaftlichen Aspekten zu bewerten“? Ebenso werden, wie das bei einem guten Vertreter seines Genres sein sollte, die Ereignisse streng chronologisch erzählt – sieht man einmal von dem Prolog ab, der natürlich vorgreift, aber nicht zu sehr, als dass man lange nach einer Verbindung zur Handlung suchen müsste -, im Rückblick freilich, denn der Roman spielt sich auf zwei Zeitebenen ab, zwischen denen 60 Jahre liegen. Das Verbrechen hat sich auf der ersten Zeitebene, im Jahre 1933, ereignet, in jenem unseligen Jahr, das mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten begann, dem Jahr also, das eine zwölf Jahre währende Schreckensherrschaft einläuten sollte, und das bereits in diesem frühen Stadium der Hitler-Diktatur alle Merkmale aufwies, die ein Terrorregime braucht, um zu voller, zu schrecklicher Blüte zu verderben.
Ein Verbrechen wie dieses, das sich in jenem August – Hitler war erst ganze sechs Monate im Amt – zutrug, konnte nur in dieser schlimmen Zeit begangen werden, in der eine Gleichschaltung mit Macht und mit brutaler Gewalt vorangetrieben wurde, in der eine Gesellschaft mit den perfidesten Mitteln verhetzt und gespalten wurde und die Angst regierte. „Wer nicht für mich ist, ist gegen mich“, lautete die tumbe Devise, wer nicht das angesagte Lied singt, wer also nicht laut genug die hirnlosen Naziparolen grölt und die Anständigen und Aufrechten zum Schweigen bringt, der wird einkassiert, eingesperrt, zusammengeschlagen und ermordet. Und Mord war in letzter Konsequenz immer der Ausgang für die Andersdenkenden; die als Arbeits-, vielfach auch als Umerziehungslager zynisch-euphemistisch apostrophierten Konzentrationslager waren staatlich sanktionierte Tötungsanstalten, wie wir alle längst wissen und wie, so muss ich hinzufügen, die Mehrheit der geblendeten oder blind sein wollenden Bevölkerung bereits damals und während des gesamten Dritten Reichs wusste.
All dies muss man sich vor Augen halten, um den Mord, auf dessen Spuren sich der Journalist Martin Tesche im Jahre 1993 begibt, einordnen und bewerten zu können. Johannes Tesche, Martins Vater, den der Sohn nur als hochanständigen, integren und ehrenwerten Menschen kennengelernt hatte, hinterließ bei seinem Ableben Tagebücher aus dem Jahr, das alles verändern und eine ganze Nation zu Mördern machen sollte – immer unter dem Aspekt der Kollektivschuld, als deren Vertreter ich mich bekenne! Vielleicht, so kommt der Gedanke, hätte Martin davon Abstand nehmen sollen, einen Blick in zutiefst private Aufzeichnungen zu werfen, die Tagebücher nun einmal sind. Schlafende Hunde wären nicht geweckt worden, zumal die aus Martins Nachforschungen resultierenden Erkenntnisse niemandem mehr nutzten, genauso, wie sie niemandem mehr Schaden zufügen konnten. Aber nun, Martin Tesche hatte die Büchse der Pandora geöffnet und die Ereignisse mussten jetzt ihren Gang nehmen. Was den Journalisten umtreibt, ist zuvörderst die Reinwaschung des Andenkens an den geliebten Vater, denn der emeritierte Literaturprofessor hatte in den Tagebuchaufzeichnungen einen Mord erwähnt – und seine eigene Beteiligung an dieser Schandtat! Wie weit diese reichte hatte er offen gelassen – und gerade dies ließ Tesche junior von nun an keine Ruhe mehr. Als Journalist wusste er natürlich, wie man Nachforschungen anstellt, und so wurde er alsbald fündig in der Heimatstadt des Vaters, in Wuppertal, wohin Johannes Tesche nach seiner Emigration gleich nach dem Mord, dem Dreh- und Angelpunkt der Geschichte, nie wieder zurückgekehrt war und auch dem Sohn hatte er weder von der Stadt seiner Kindheit erzählt noch sie ihm jemals gezeigt. Es war geradeso, als hätte es Tesche seniors Leben vor 1933 nie gegeben. Mit der anfangs nur mit Widerwillen geleisteten Hilfe Gerda Steinjans jedoch, einer engen Jugendfreundin seines Vaters, die er in Wuppertal ausfindig gemacht hatte, näherte er sich Schritt für Schritt der Auflösung des Mordfalls, die ihn schließlich zwar befreit, aber verstört und nachdenklich zurücklassen würde....
Wie den empathiefähigen Leser, möchte ich hinzufügen, denn das, was der fiktive Martin Tesche in Stefan Barzs intensivem, zutiefst beunruhigendem, geradezu schlaflose Nächte verursachendem Kriminalroman aus der bösen, bösen braunen Zeit herausfindet, ist alles andere als fiktiv! Es zeigt nicht nur anhand der Figur desjenigen, der später das Mordopfer werden sollte, welch kleiner Schritt es war von einem anständigen Jungen mit Gewissen und Moral zu einem begeisterten Hitlerjungen, der beides ohne größere Bedenken und quasi von heute auf morgen über Bord warf und sich nahtlos in die 'festgeschlossenen Reihen' der Brutalos einfügte, ja der sogar Gefallen daran fand, wehrlose Menschen zu prügeln, zu treten und auch nicht aufzuhören, wenn sie bereits halbtot auf dem Boden lagen. Es gibt auch einen Einblick in das nicht lange, dafür aber um so nachdrücklicher existierende Konzentrationslager Kemna in einem Wuppertaler Stadtteil, bei dem man sich nur mit Schaudern und tiefer Betroffenheit abwenden mag. Und hier sind wir beim Punkt, genau hier: man wendet sich ab, weil man das Schreckliche nicht ertragen kann. Man wendet sich ab, weil man Angst um das eigene armselige Leben hat. Oder, und das ist das bei Weitem Schlimmste, man wendet sich aus Gleichgültigkeit ab, es geht einen ja schließlich nichts an, nicht wahr? Wenn man den Faden weiterspinnt, dann kommt man unweigerlich zu zweierlei Erkenntnis: wir Menschen sind in der Mehrzahl schwach und feige und beeinflussbar und verführbar und selbstbezogen. Daran hat sich auch in vielen tausend Jahren, in denen die Krone der Schöpfung bereits die Erde unsicher macht, nichts geändert. Daraus resultiert, dass in Kenntnis dieser Schwäche, dieses Makels jeder Diktator der Welt leichtes Spiel hat – wie wir damals exemplarisch sehen konnten und wie es auch heute in all den Krisen-, den Kriegs- und Bürgerkriegsgebieten unseres verwundeten blauen Planeten geschieht.
Um aber meine Ausschweifungen zu beenden, zu denen meine Lektüre des Krimis „Die Schreie am Rande der Stadt“ Anlass gibt, möchte ich schließlich noch eine kleine Bemerkung einfließen lassen zu dem, was ich bereits vorhin erwähnt habe: In seinem Nachwort sagt der Autor in unmissverständlicher Deutlichkeit, dass „die Kriminalhandlung den Rahmen bilden“ sollte, „um die Geschichte des Kemnaer Konzentrationslagers zu erzählen“. In der Tat nimmt der Aufenthalt des jungen Johannes Tesche im Juli des Jahres 1933 in der ehemaligen Putzwollfabrik Kemna breiten Raum in dem Kriminalroman ein. Dennoch sehe ich die Kriminalhandlung nicht als bloßen Rahmen an, dazu wird die Vorgeschichte zu ausführlich erzählt, lernt man die handelnden Personen – neben Johannes und Gerda noch die drei Freunde Friedrich, Henri und Georg – zu genau kennen, was dazu führt, dass man alsbald starken Anteil an ihnen nimmt. Und dies über den Roman hinaus.
Zusammenfassend möchte ich Stafan Barz hohes Lob zollen für diese Kriminalgeschichte, die durchweg spannend ist, die nie langweilt, nie auf der Stelle tritt und sich folgerichtig auf ihre Auflösung hinbewegt – die nur diese eine sein konnte. Die schwierige, Emotionen provozierende Thematik wurde mit dem gebotenen Respekt behandelt und vermittelte sich durch die neutrale, sachliche, manchmal lapidare Erzählweise des Autors auf eine besonders intensive und eindringliche Weise. Auch beinahe 90 Jahre nachdem die dunkelste Epoche der neueren deutschen Geschichte ihren Anfang nahm, erachte ich es als essentiell, die Erinnerung wach zu halten, um selbst wachsam zu bleiben, in immerwährender Bestrebung, auch den kleinsten Anfängen zu wehren. Stefan Barzs Roman leistet dazu seinen eindrucksvollen Beitrag!

Veröffentlicht am 27.02.2022

Neubeginn mit Hindernissen

Eine Liebe in Regensburg
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Die Geschichte, die in „Eine Liebe in Regensburg“ erzählt wird, geht genau da weiter, wo „Rückkehr nach Regensburg“ aufgehört hat – ein Grund, warum man besagten ersten Band gelesen haben sollte, bevor ...

Die Geschichte, die in „Eine Liebe in Regensburg“ erzählt wird, geht genau da weiter, wo „Rückkehr nach Regensburg“ aufgehört hat – ein Grund, warum man besagten ersten Band gelesen haben sollte, bevor man sich an die Lektüre des hier zu besprechenden Büchleins macht! Dennoch haben wir eine neue, eine eigenständige Novelle vor uns, denn es beginnt etwas unverhofft Neues auf der Walhalla, dem Ort, an dem wir Richard und Dana verlassen haben.
Ohne Zögern und Zaudern, mit absoluter Gewissheit, dass sie das Richtige tun, jetzt, nach so vielen Jahren der Trennung, während derer jeder von beiden ein Leben aufgebaut hatte, das mit dem des jeweils anderen keine Berührungspunkte hatte, sagen Richard und Dana Ja zueinander! Den letzten Abschnitt ihres Lebens wollen sie gemeinsam gehen, alle Höhen und Tiefen miteinander teilen! Dass derer gar viele ihrer harren sollten, konnten sie in diesem Moment der Glückseligkeit nicht ahnen, und selbst wenn sie es getan hätten, wären sie gewiss überzeugt gewesen, alle Hürden gemeinsam nehmen zu können, denn bekanntlich kann Liebe Berge versetzen!
Es gehört Mut zu einem Neuanfang, und je älter man wird, umso eingefahrener ist man gewöhnlich in den alten, ewig gleichen Geleisen, auf denen man sich mehr oder minder komfortabel, vielleicht auch resigniert, eingerichtet hat. Dass aber Richard sein Leben in Frankfurt von einer Sekunde auf die nächste aufgeben würde, und dies offensichtlich leichten Herzens, erstaunt und spricht gleichzeitig von der Einsamkeit, in der er nach dem Tode seiner Frau Eva gefangen war. Er weiß die Chance zu nutzen, die sich ihm mit dem Wiederfinden seiner nie vergessenen Jugendliebe Dana in Regensburg geboten hat.
Dana ihrerseits – nun, es will mir auch in dieser zweiten Geschichte der Novellen-Trilogie nicht gelingen, tiefer in sie hineinzuschauen! Dank dem finanzkräftigen Richard und dem Dritten im Bunde, seinem Freund Christian, dem Anwalt und Notar, der auch nicht eben am Hungertuch nagen muss, kann sie sich – ohne dass, wie im Laufe der Erzählung klar wird, Berechnung im Spiel ist, die man angesichts der doch sehr überstürzten Eheschließung vielleicht mutmaßen mag – einen Traum verwirklichen, für dessen Umsetzung sie bereits einen beinahe lückenlosen Plan erstellt hat: die Eröffnung eines kleinen Hotels mit qualitativ hochwertiger Gastronomie in einem renovierungsbedürftigen, aber bezaubernden Altbau am Brückenkopf in Regensburg. Schwierigkeiten sind vorprogrammiert, allzumal die drei Partner Neulinge sind auf dem Gebiet, dem sie sich künftig mit Leib und Seele widmen wollen – und wenn man darüber liest, wird einem unwillkürlich mulmig zumute. Man ahnt Ungemach, was durch den Paukenschlag, mit dem diese zweite Novelle der Trilogie endet, bestätig wird. Soweit die Handlung, die, wie bei einer Literatursorte dieser Art üblich, sehr überschaubar ist – und dennoch Stoff für einen ganzen Roman liefern könnte!
Charme hat sie unbestreitbar, diese Novelle. Voller Warmherzigkeit ist sie, voller Menschenfreundlichkeit, Mut und Hoffnung. Ein Büchlein für die Verzagten, für die Einsamen, genauso wie für die Tapferen und Wagemutigen unter den Lesern und diejenigen, die sich insgeheim einen Neuanfang wünschen, sich aber nicht trauen, ihn in die Tat umzusetzen. Und nicht zuletzt für jene Leser, die selbst einen Neuanfang gewagt haben und genau wissen, dass dies nicht so einfach ist, dass es nicht damit getan ist, sich aus dem alten Leben herauszuwagen. Denn das ist nur der erste Schritt, dem viele weitere folgen müssen, immer wieder auch auf steinigem Gelände. Wohl dem, der diese Schritte nicht alleine tun muss! Richard, Dana und Christian sind einander eine Stütze; Meinungsverschiedenheiten werden auf besonnene, stets zivilisierte Art und Weise gelöst. Das ist wunderbar zu lesen!
Beeindruckt war ich nicht nur von dem Optimismus der drei Neu-Unternehmer ohne einschlägige Erfahrungen, sondern dann vor allem von Richards Haltung seinem Sohn gegenüber, der, um sein Erbe fürchtend, den nicht mehr wiederzuerkennenden Vater entmündigen lassen möchte. Für gar viele Väter wäre dieses Verhalten Grund für einen Bruch mit den gierigen Anverwandten – nicht so freilich für Richard, der seinen uneinsichtigen Sohn schließlich aufsucht und um eine Unterredung bittet, voller Verständnis für den Verirrten, und voller Liebe. Nach wie vor und trotz allem. Diese Größe erstaunt und beschämt gleichzeitig – und macht die kurze, für meinen Geschmack etwas zu dialogreiche Geschichte zu etwas ganz besonderem!
Freuen wir uns also auf ein Wiedersehen mit den Protagonisten und hoffen wir, dass das Glück am Ende mit den Tapferen sein möge!

Veröffentlicht am 26.02.2022

Reise mit Überraschungen

Rückkehr nach Regensburg
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Um es vorweg zu sagen: ich habe ein Faible für Novellen! Und in der Literaturgeschichte gibt es einige großartige Beispiele dieser Textsorte, die der Textgattung Epik zughörig ist. Denken wir nur einmal ...

Um es vorweg zu sagen: ich habe ein Faible für Novellen! Und in der Literaturgeschichte gibt es einige großartige Beispiele dieser Textsorte, die der Textgattung Epik zughörig ist. Denken wir nur einmal an Stefan Zweig, der für mich der Meister schlechthin der Novelle ist. Die Messlatte liegt also hoch, zumal längst nicht jeder als solche apostrophierte Text tatsächlich die Merkmale einer Novelle aufweist. Derartige Beispiele bezeichnet man dann besser als Kurzromane, wenn sie schon den Kriterien einer Kurzgeschichte nicht entsprechen.
Durch viele Enttäuschungen vorbelastet begab ich mich also an die Lektüre von Rüdiger Marmullas erstem Band einer Trilogie, dem hier zu besprechenden „Rückkehr nach Regensburg“. Auch neugierig, denn bislang kannte ich aus seiner Feder nur „Der Abenteuergarten“, in dem er in kurzen Geschichten einen überraschend offenen Einblick in sein Leben und seine Persönlichkeit gibt – ein schmales Werk, das ich nur als sehr gelungen bezeichnen kann.
Meine Bedenken im Vorfeld – wie ich sie immer habe, bevor ich eine Novelle lese – waren, wie ich mir eigentlich hätte denken können, unbegründet! Das, was der Autor dem Leser vorlegt, ist nämlich in der Tat eine Novelle, genau wie aus dem Lehrbuch, wenn man sich klar macht, dass es sich bei den vermeintlichen Rückblenden, die in Novellen nicht vorgesehen sind, in Wahrheit um eine Binnenerzählung, eingebettet in eine Rahmenhandlung, handelt, eine beliebte Erzähltechnik der Novelle.
Novellen sind 'Neuigkeiten', haben also keineswegs eine ganz normale Alltagssituation zum Inhalt, sondern vielmehr etwas Außergewöhnliches, auch wenn dies in „Rückkehr nach Regensburg“ zunächst nicht den Anschein hat, denn das, was der Protagonist Richard mit seinem Freund Christian unternimmt, ist eine ganz normale Städtereise, nach Regensburg eben, der Stadt, in der Richard aufwuchs und die er seinem Freund zeigen möchte. Dass er damit eine Reise in die Vergangenheit macht und die Erinnerungen an Dana, seine erste, seine ganz große Liebe, die recht traurig endete, immer lebendiger werden – hier also haben wir unsere Binnenerzählung -, hat er nicht erwartet. Nach all den Jahren, die seit der unglückseligen Trennung von Dana vergangen sind und in denen er seine eigene Familie gegründet hatte, glaubte er, dass die schmerzende Wunde sich geschlossen hatte. Doch obschon er eine glückliche Ehe geführt hatte mit Eva, die drei Jahre zuvor von ihm gegangen war, war da immer noch Dana in seinem Herzen, die er – und nun bahnt sich der jeder Novelle zugehörige Wendepunkt an – in der Kellnerin eines Speiselokals, das er mit Freund Christian besucht, wiederzuerkennen glaubt, obgleich dies unmöglich scheint!
Doch Wendepunkte verändern nun einmal den Lauf einer Geschichte, geben ihr eine ganz neue, eine unerwartete Richtung. Das unmöglich Scheinende darf eintreten! Für den 68jährigen Richard, der etwas verloren, auf jeden Fall einsam wirkt und auch gesundheitlich nicht auf der Höhe ist, bietet sich nun ganz unverhofft eine zweite Chance auf eine gemeinsame Zukunft mit der nie vergessenen Liebe seines Lebens. Wünschen wir ihm, dass er sie ergreifen möge!
Im Gegensatz zu Thomas Mann, einem weiteren Meister der Novelle (was Wunder, denn alles, was er anpackte, brachte er zur Meisterschaft!), ist Rüdiger Marmulla dankenswerterweise ein Schriftsteller, der einen schnörkellosen Stil beherrscht, mit kurzen und klaren Sätzen, mit sozusagen 'unverpackten' Gedanken. Als nüchtern möchte ich seinen Erzählstil bezeichnen, als ausgewogen und besonnen. Und genau diesen Eindruck machen auch seine Charaktere – genaugenommen sind dies nur drei, und eine sehr begrenzte Anzahl von Personen ist ja schließlich ein weiteres Kriterium der Novelle! Wenn man nicht tiefer schaut freilich, denn gerade Richard ist starker Emotionen fähig, war es immer, wobei ich mir bei Dana noch nicht recht sicher sein kann, angesichts dessen, was man in der Binnenerzählung über sie erfährt.
Was sich aber ändern mag nach der Lektüre der beiden folgenden Novellen, die die Trilogie vervollständigen werden, die mir, nebenbei bemerkt, stark autobiographisch gefärbt zu sein scheint, wie ich in Kenntnis des „Abenteuergartens“ zu behaupten wage. Ein weiterer Grund, neugierig zu sein auf das, was das Leben beziehungsweise der Autor für die beiden Liebenden, die einander so unerwartet wiedergefunden haben, bereit hält. Aber halt – unerwartet? Rein zufällig? Ein Ereignis ohne kausale Erklärungen, wie das so oft eintritt im Leben eines jeden Menschen? Man könnte es auch anders sehen, so nämlich, wie es Albert Einstein formuliert hat: „Der Zufall ist Gottes Art anonym zu bleiben“. Belassen wir es einmal dabei!