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Veröffentlicht am 30.10.2021

Verbrechen hinter schöner Fassade

Tod am Canal Grande - Ein Fall für Jackie Dupont
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Jackie Dupont, die Protagonistin des hier zu besprechenden Krimis oder Cosy Crime oder Mischung aus Krimi und Spionageroman, sehr wahrscheinlich aber eher einer nicht ernst gemeinten Persiflage auf letztere, ...

Jackie Dupont, die Protagonistin des hier zu besprechenden Krimis oder Cosy Crime oder Mischung aus Krimi und Spionageroman, sehr wahrscheinlich aber eher einer nicht ernst gemeinten Persiflage auf letztere, ist sicherlich eine ungewöhnliche Frau. Überhaupt und speziell für die Zeit, in der die Autorin ihre turbulente Geschichte spielen lässt. Wir schreiben nämlich das Jahr 1921 – und derart eigenwillige und unabhängige Frauen, die sich weder vor Tod und Teufel, noch gar vor der mit allen Rechten ausgestatteten Männerwelt fürchteten, waren damals dünn gesät, wurden, wenn sie sich schon erdreisteten, ihr eigenes, selbstbestimmtes Leben zu führen, nicht ernst genommen und trafen allenthalben auf Mauern der Indignation.
Nicht so Jackie, draufgängerische Privatdetektivin mit unwiderstehlichem Hang zu Juwelen und darüber hinaus mit unklarer Vergangenheit! Die macht gerade, was sie will und zeigt den Männern, wo es lang geht, oder, um sich eines hübschen Bildes zu bedienen, wo Barthel den Most holt. Durchweg! Es gibt nichts, worin sie es nicht zur Meisterschaft gebracht hätte, nichts, was sie nicht besser wüsste oder beherrschte, auf jeden Fall aber zumindest genau so gut wie die zwar präpotenten, aber eigentlich – bis auf eine Ausnahme freilich, wie der Leser früh genug herausfinden wird - schwächlichen Männer, mit denen sie es zu tun hat! Unheimlich, eine solche Frau, nicht wahr? James Bond und Sherlock Holmes, ein bisschen auch Hercule Poirot, in Personalunion – und keine Spur von der zwar möglicherweise blitzgescheiten, aber nach außen hin devoten, sich an die gesellschaftlichen Normeln und Verhaltensregeln ihrer Zeit haltenden üblichen Vertreterin ihres Geschlechts!
Liest man ihre, immer wieder in die Handlung eingestreuten, Tagebucheinträge, so wird mehr als ersichtlich, falls es dazu noch einer Bestätigung bedürfte, dass die – natürlich unwiderstehlich attraktive und schicke! - Heroine vor Selbstbewusstsein nur so strotzt! Also sollte, um endlich zu dem Roman, wie ich ihn der Einfachheit halber nenne, zu kommen, die Aufklärung eines, vorerst nur vermuteten Mordes an einer zu fettem Wohlstand gekommenen Engländerin mit zweifelhafter, auf alle Fälle aber recht elender Vergangenheit, und schließlich der tatsächlichen Tötung einer der wichtigeren Charaktere der Handlung, eigentlich ein Klacks sein. Ist es natürlich auch, wie man sich bald überzeugen kann, nachdem eine irritierende Nebenhandlung, die vom Wesentlichen ablenkt und für gehörige Unruhe unter den Beteiligten sorgt – eben jener Spionagepart -, endlich als das entlarvt wird, was sie ist, nämlich von Anfang bis Ende ein einziger Fake, wie man so gerne auf Neudeutsch sagt, ins Spiel geworfen von jemandem – wer das ist, muss man dann schon selbst herausfinden – aus purer Langeweile, wie mir scheint, oder als cleverer Schachzug, woran ich denn doch zweifle, oder einfach, um Unruhe zu stiften. Ein gewisser Menschenschlag, genauso, wie ein einschlägiger Berufsstand, tut das ja gerne....
Noch ein paar Bemerkungen zu den Herren der Schöpfung, die wir hier antreffen: da ist zum einen der unverschämt gutaussehende und ebenso unverschämt reiche englische Adlige Christopher, genannt Kit, seines Zeichens der Verlobte oder gar Ehemann der Schönen, wie er selber vermutet, denn er hält die verwegene Jackie für seine angeblich mit der Titanic versunkene Angetraute Diana, deren immensen Reichtum er nach ihrem tatsächlichen oder nur gefakten (schon wieder dieses Unwort!) Tod erbte und dem seinen, ohnehin schon beträchtlichen, beifügte. Ein bisschen wirr, das Ganze, aber sei's drum! Christopher also hält sich derzeit in Venedig auf, soll dort, im Auftrag des Patriarchen der Lagunenstadt, dem schönen und gar nicht so reinen und unbefleckten Kardinal Truffino, einem weiteren Protagonisten, ein wertvolles Gemälde restaurieren. Man sieht, auch Christopher hat neben seinem Reichtum und überdies einer unrühmlichen Vergangenheit, derer er sich aber, um ihm Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, aufs Ehrlichste schämt, noch gewisse andere Talente!
Aber zurück zu den restlichen Männern, von denen vor allem der brandgefährliche, skrupellose und brilliante Laszlo Baron von Drachenstein eine Rolle spielt, dereinst auf mysteriöse Weise mit Jackie verbandelt, und bei dessen Erscheinen Kit in Gedanken nach einem Bildhauer ruft, so schön und perfekt proportioniert ist er! Ja, der Deutsche wird dem guten Duke noch schwer zusetzen.... Genauso übrigens wie Jackies Onkel Daniel, der andere Teil der Detektei Dupont & Dupont, vordergründig jovialer Amerikaner, der aber selbstredend einiges zu verbergen hat und still und heimlich sein eigenes Süppchen kocht. Und wenn Christopher gehofft hatte, aus ihm die wahre Identität Jackies/Dianas herauskitzeln zu können, wird er noch seine blauen Wunder erleben....
Nicht vergessen werden sollte der englische Konsul in Venedig, Sir Alfred Purcell, bei dem Duke Christopher Quartier bezogen hat. 'Very british' ist er, doch, man ahnt es schon, in keiner Weise derjenige, den man hinter seiner aufrechten, zwar charmanten, aber doch stocksteifen Fassade vermuten würde. Sir Alfreds Gefährtin, eine exilierte russische Baronin oder Prinzessin, und seine beiden, seelisch wohl nicht recht ausbalancierten, Kinder müssen ebenfalls erwähnt werden, denn auch sie spielen ihre Rolle in dem Durcheinander, das sich vor den Augen des Lesers entfaltet und nach vielen gefährlichen Zwischenfällen schließlich doch noch entwirrt wird. Dies auf eine Art und Weise, die, man kann es nicht leugnen, in Atem hält, der es an Tempo und unvorhersehbarem Hakenschlagen nicht mangelt.
Die Lösung des Rätsels ist so überraschend wie weithergeholt und mich überhaupt nicht überzeugend – doch, eingedenk der starken Vermutung, dass die Autorin (auch?) in ihrem dritten Band um Jackie Dupont gewisse Genres auf die Schippe nimmt und gelegentlich ins Absurde treibt, wohl in Ordnung. Unterhaltend und mit viel Situationskomik gespickt ist „Tod am Canal Grande“ allemal, und gewinnt nicht nur durch einnehmende Schilderungen der venezianischen Lokalitäten, sondern nicht zuletzt durch einen sympathischen kleinen Protagonisten namens Sargent, dem cleveren Hündchen und Detektivpartner der so bezaubernden wie undurchsichtigen, Juwelen liebenden Detektivin und Superfrau, der vermeintlichen Jackie. Wie gesagt, was Genaues weiß man nicht. Es wird auch nicht aufgeklärt. Ist wohl so etwas wie ein running gag.... Jedenfalls, Sargent einzubauen war eine nette Idee, sorgt für heitere Momente und gibt der Geschichte unter zu vielen Reichen und Schönen mit ihren Luxusproblemen, fern von jeglicher, ziemlich sicher nicht rosaroten Realität der Zeit, in der sie spielt, ihre besondere Note!

Veröffentlicht am 30.10.2021

Schwierige Ermittlungen mit Überraschungen

Unbezähmbare Gezeiten
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Von Zeit zu Zeit, freilich nicht oft, stoße ich auf ein Buch, das mich innehalten lässt, von dem ich schon nach wenigen Seiten weiß, dass es des Lesens wert ist, dass es auch über die Lektüre hinaus bei ...

Von Zeit zu Zeit, freilich nicht oft, stoße ich auf ein Buch, das mich innehalten lässt, von dem ich schon nach wenigen Seiten weiß, dass es des Lesens wert ist, dass es auch über die Lektüre hinaus bei mir bleibt. Das ich deshalb langsam und mit Bedacht lese, weil es kein schnelles Durchlesen und dann Abgehaktwerden verdient. „Unbezähmbare Gezeiten“ ist so ein Roman, ein kluger, ein langsamer, ein im besten Sinne altmodischer Krimi, mit einem Ermittler, der ganz allmählich ein Gesicht bekommt, dessen nachdenkliche und ganz und gar unspektakuläre Herangehensweise an einen Fall, der zu Anfang überhaupt keiner zu sein scheint, ich mag.
Er ist ein unauffälliger Mann, dieser Jörgensen aus Kiel, der bereits seiner Verrentung entgegen geht, niemand, der sich durch waghalsige Aktionen auszeichnet oder seine eingebildeten Supermannqualitäten, mit denen ihn der Autor dankenswerterweise auch nicht ausgestattet hat, beweisen muss, niemand, bei dem die Gedankenblitze Funken sprühen. Dafür überzeugt er mich durch seine Menschlichkeit, seine Höflichkeit im Zusammenspiel mit den Personen – allesamt gut gelungen in ihrer Unterschiedlichkeit, ihrer Individualität, ob sympathisch oder nicht -, mit denen er es im Laufe seiner bedächtigen Ermittlungen zu tun bekommt, und nicht zuletzt durch seinen liebevollen Umgang mit seiner Frau Sabrina, die man am Rande ein wenig kennenlernt, denn ein Blick ins Privatleben des ruhigen Polizisten wird dem Leser auch gewährt. Gerade genug, um den Protagonisten auch abseits seiner beruflichen Arbeit wahrzunehmen. Und da gibt es, so darf man feststellen, keinen Bruch zwischen dem Kommissar und dem Privatmann Jörgensen, der Mann ist einfach authentisch – hier wie dort!
Eine ganz wunderbare Figur hat der Autor mit diesem seinem Kieler Kommissar geschaffen - durchaus dem soliden, stets auf dem Boden bleibenden Inspektor Battle der Meisterin Agatha Christie vergleichbar -, von dem man sich wünscht, ihm wiederzubegegnen. An einen wie ihn kommt keiner der heldenhaften und draufgängerischen, in der Regel auch noch spektakulär gut aussehenden Inspektoren, Kommissare, Privatermittler, oder wie auch immer sie sich nennen, mit ihrem hyperaktiven Gerenne und Gehaste heran, die mich in viel zu vielen der Krimis, die heutzutage ersonnen oder vielmehr zusammengeschustert werden, langweilen oder sogar richtig ärgern!
Bei aller Unaufgeregtheit, die nicht nur dem Kommissar sondern der gesamten Geschichte eigen ist, ist der Krimi doch spannend und rätselhaft, von Anfang an, genauer gesagt, nachdem klar ist, dass der vermeintliche Drogentod des Studenten und Sohn eines stadtbekannten, hochgeachteten Wohltäters und einer beherrschten und immer verständnisvollen Pastorin, Johannes Gilmer, in Wirklichkeit Mord war, spürt man eine unterschwellige Gefahr, von der man lange nicht mit Gewissheit sagen kann, von wem sie ausgeht und wem sie gilt. Die Nebel beginnen sich erst dann langsam zu lichten, als eine zweite Leiche gefunden wird, mit der weder Jörgensen noch der Leser rechnen konnte. Die schließliche Auflösung kam für mich überraschend, obwohl sie, hätte ich genauer hingeschaut, zu vermuten gewesen wäre! Doch auch der Kommissar hat die Hinweise, auf die er in der Wohnung des getöteten jungen Mannes gestoßen ist, nicht als solche deuten können, nicht einmal, nachdem ihm seine gebildete Ehefrau eines der beiden Bücher, mit denen sich Gilmer junior allem Anschein nach intensiv beschäftigt hatte, Platons 'Politeia', genauer erklärt hatte.... Damit nicht genug, hätte das zweite Buch, T.S.Eliots 'Murder in the Cathedral', den entscheidenden Hinweis liefern können, hätten denn ich als Leser und Jörgensen selbst die richtigen Schlüsse gezogen – und in Zusammenhang gebracht mit dem, was man zu diesem Zeitpunkt bereits über Johannes Gilmer wusste. Was freilich wenig genug war und bis zum Ende, das nicht recht befriedigend, aber realistisch ist und somit haargenau zu dem Rest des Krimis passt, auch nicht viel mehr wird. Der unglückselige junge Mensch, auf der Suche nach sich selbst, dessen kurzes Leben so abrupt beendet wurde, der keine nachdrücklichen Spuren hinterlassen hat und dem niemand wirklich nachzutrauern scheint, bleibt ein Unbekannter. Und das, sehen wir es positiv, lässt viel Spielraum für eigene Interpretationen! Letzteres tut, so möchte ich behaupten, im Übrigen der gesamte Krimi mit dem kryptischen Titel, den der Leser allerdings, hat er denn die Geschichte aufmerksam gelesen und darüber hinaus mitgedacht, durchaus in Beziehung zur Handlung setzen kann.
D.H.Ambronn traut, das muss man schon sagen, dem Leser einiges zu, serviert ihm nichts auf dem silbernen Tablett, führt ihn nicht am Gängelband durch seinen Roman und scheint vielmehr davon auszugehen, dass er seinen eigenen Weg findet, dabei den gelegentlichen Wegweisern folgt oder sich seine eigenen zimmert. Nichts ist plakativ an der Geschichte, das offensichtlich Erscheinende kann täuschen und man muss schon sehr genau hinschauen auf seiner Reise durch diesen nicht umfangreichen, aber dennoch sehr komplexen und gescheiten Kriminalroman, der in seiner auf den ersten Blick einfachen und gemächlichen Art tiefgründiger ist als die immer gleiche Krimikost mit ihren Blendeffekten, hinter denen sich gähnende Leere verbirgt, die man heutzutage – oft aufs Geschickteste vermarktet - vorgesetzt bekommt. Und so wünsche ich den „Unbezähmbare(n) Gezeiten“ eine geneigte Leserschar, einer solchen, die der plumpen und atemlosen Action überdrüssig und eher dem feinen, subtilen Kammerspiel zugeneigt ist!

Veröffentlicht am 29.10.2021

Falsche Fährten

Ankertod
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Der Journalist Joost Bookmeyer war ein aufgeschlossener Mann! Er schrieb an einem Buch über Verschwörungsmythen, in dem er vor allem den Gründen nachging, aus denen Menschen an immer absurdere Theorien ...

Der Journalist Joost Bookmeyer war ein aufgeschlossener Mann! Er schrieb an einem Buch über Verschwörungsmythen, in dem er vor allem den Gründen nachging, aus denen Menschen an immer absurdere Theorien glauben wollen, die die Realität in Frage stellen, und sich ihre eigene zimmern. Für ihn waren diese Vorstellungen eine verzweifelte Flucht aus einer immer komplexer werdenden Welt, die sie zunehmend weniger verstehen und die ihnen Angst macht. Er nahm sie ernst, all diejenigen, die an Ufos glauben, an Außerirdische wie die Aldebaraner, die angeblich der Erde bereits einen Besuch abgestattet haben und von deren Wiederkunft als Retter sie überzeugt sind, an reptoloide Echsenwesen, die die Menschheit unterwandern, die der Hohlwelttheorie zugeneigt sind, mit Aluhüten umherlaufen und dergleichen mehr. Er verstand ihre Ängste vor 5-G-Masten, vor Chemtrails, davor, zu Impfungen aller Art gezwungen zu werden, ohne sie zu den seinen zu machen. Niemanden griff er an, niemanden verhöhnte er, machte sich schon gar nicht über sie lustig.
Warum also wurde er ermordet und auf einem Feld an der Nordsee, wohin er zu Recherchezwecken gereist war, nackt aufgefunden, mit einem seltsamen Zeichen auf der Brust, das alsbald als das Symbol für das Sternzeichen des Stiers identifiziert wurde? Und warum, mit Verlaub gefragt, wird der komplett durchgeknallte Gastwirt Hajo Rutkat, ein überzeugter Jünger all des Unsinns, den die Verschwörungstheoretiker so von sich geben und gerade der Mann, wegen dem der Journalist aus seinem Domizil Osnabrück hoch ans Meer gekommen ist, der ihm Wichtiges zu erzählen oder zu zeigen hatte, wenig später ebenfalls ermordet und seine Leiche auf die gleiche Weise zur Schau gestellt, wie die Bookmeyers?
Die beiden ermittelnden Kommissare, Tilmann Baer und Kira Jensen, stehen jedenfalls vor einem Rätsel! Und da Ermittlungen eben nicht, wie in den einschlägigen Krimis in Buch- und Filmform suggeriert wird, durch eine Aneinanderreihung von Geistesblitzen bestehen, genausowenig aus Enthusiasmus und übermotivierter Planlosigkeit, sondern vielmehr aus mühevoller Kleinarbeit, bei der man besser einen kühlen Kopf bewahrt, aus viel Geduld, ganz wie beim Schachspiel, so erläutert der Hauptkommissar sein Vorgehen seiner jungen Kollegin, dauert es eine ganze Weile, genauer gesagt bis kurz vor dem Ende des Küstenkrimis mit dem für mich völlig unersichtlichen Titel, bis sich die Nebel lichten, bis das kunstvolle Gebilde aus falschen Fährten und Spuren, die ins Leere laufen, entwirrt ist und die beiden Morde, bei denen es im Übrigen nicht bleiben wird, von den beiden Kommissaren aufgeklärt und der Mörder schließlich dingfest gemacht werden kann.
„Ankertod“ ist kein umfangreicher Krimi, doch ist er bis zum Rand vollgepackt mit Geschehnissen, mit Themen, mit Handlungssträngen, die man nicht so leicht durchschaut, deren Verbindungen erst ganz allmählich ersichtlich werden. Ein rechtes Puzzle, eines von der kniffligen Sorte, und die Geduld, die Baer von Jensen fordert, muss auch der Leser aufbringen, um durchzublicken. Kein Krimi zum Mitraten, denn der Autor hat nicht, nach Art des klassischen „Whodunnit“ a la Agatha Christie, versteckte Hinweise in die Handlung eingebaut, die dem cleveren Krimileser, selbst oft ein halber Detektiv, den Weg weisen. Lange blieb mir überdies unverständlich, was der zweite Handlungsstrang, in dem eine gewisse, reichlich verhuschte Eilika die Hauptrolle spielt, mit der Mordgeschichte um den Journalisten zu tun hat, was die Niedergeschlagenheit einer jungen Frau, die mit ihrem Café, dem Traum von der Selbständigkeit, gescheitert ist und das Ende der Welt gekommen sieht, zum Fortgang der Haupthandlung beiträgt. Nunja, beide Stränge werden schließlich zusammengeführt, denn beide sind sehr wohl miteinander verflochten, und zwar von Beginn an! Dennoch betrachte ich die Eilika-Geschichte als Schwachpunkt des für meinen Geschmack etwas zu vielschichtigen Romans, bei dem ich eine klare Linie vermisse. War die Haupthandlung alles in allem stimmig, so gilt das nicht für den Teil, in dem Eilika Trübsal bläst und deren Weinerlichkeit und Selbstmitleid nicht recht nachvollziehbar sind und die wirklich lernen muss, dass Niederlagen zum Leben gehören. Und, nebenbei gesagt, welchen Leuten man trauen kann und von welchen man sich besser fernhält....
Ersteres hingegen hat die Kommissarin Kira Jensen, sicher nicht viel älter als Eilika und mit viel mehr Berechtigung depressiv zu sein, verstanden. Sie wurde, wie man am Rande erfährt, als Kind vom eigenen Vater missbraucht, hat natürlich ein Trauma zu verarbeiten, sucht sich aber Hilfe und ist stets bemüht, ihr Leben im Griff zu behalten. Kira verdient jeden Respekt, auch wenn man ihre Tendenz zu Alleingängen, die zu Konflikten mit dem Vorgesetzten Baer führen, mit Skepsis betrachten kann.
Und damit komme ich zu dem stärksten Teil des verzwickten und verschlungenen Krimis mit der arg konstruierten Auflösung, nämlich zu dem Team Baer/Jensen! Team? Davon kann bis weit nach der Mitte der Handlung nicht die Rede sein! Sowohl der skeptische und schweigsame Baer als auch die sich um jeden Preis beweisen wollende Jensen sind Einzelgänger, zwar mehr oder minder zähneknirschend zur Zusammenarbeit bereit, aber eben nicht aus Überzeugung, zumal beider Herangehensweisen an die jeweiligen Fälle grundverschieden sind. Die Art und Weise, wie sie sich dennoch, nach einem gewaltigen Faux pas von Jensen, der es schwerfällt, sich an vereinbarte Regeln zu halten, allmählich zusammenzuraufen und schließlich gemeinsam an einem Strang ziehen, empfinde ich als glaubwürdig und überzeugend geschildert. Es sieht am Ende ganz danach aus, als könnten die beiden Polizisten zu einem richtig guten Team zusammenwachsen, bei dem jeder die Entscheidung des anderen mitträgt, selbst wenn sie eine Fehlentscheidung war, wie der zuerst uneinsichtigen Jensen von einem Kollegen erklärt wird, und was sie sich offensichtlich zu Herzen genommen hat. So gesehen bleibt zu hoffen, dass einer erfolgreichen Zusammenarbeit Kiras und Tilmans in weiteren Bänden nichts mehr im Wege stehen mag....

Veröffentlicht am 07.10.2021

Zur falschen Zeit am falschen Ort

Sieh dich nicht um
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Ende Januar des letzten Jahres ist sie in Florida verstorben, die zu Recht so genannte 'Queen of Suspense', Mary Higgins Clark, gebürtige New Yorkerin mit irischen Wurzeln, auf die sie ihr Talent als Schriftstellerin ...

Ende Januar des letzten Jahres ist sie in Florida verstorben, die zu Recht so genannte 'Queen of Suspense', Mary Higgins Clark, gebürtige New Yorkerin mit irischen Wurzeln, auf die sie ihr Talent als Schriftstellerin gerne zurückgeführt hat ('The Irish are born story tellers'). 56 Bücher hat sie hinterlassen, die allermeisten von ihnen fein ausgetüftelte Psychothriller, alle von ihnen Bestseller. Grund genug für mich, ihre Romane, die mich in den 45 Jahren ihres Schaffens begleitet haben, noch einmal zu lesen. Und tatsächlich haben sie nach all den Jahren keine Patina angesetzt, sind spannend wie beim Erstlesen, immer unter Beachtung des jeweiligen Jahres ihrer Entstehung, als, und das gilt für gut die Hälfte ihrer Krimis, noch nicht absehbar war, welchen Fortschritt die Technik machen würde, die wir heute als so selbstverständlich betrachten, dass gerade die jüngeren Leser sich kaum eine Zeit ohne Smartphone und Internet vorstellen können, und somit Mary Higgins Clarks Thriller aus den beiden letzten Jahrzehnten des vergangenen Jahrhunderts vielfach als hoffnungslos altmodisch, mühsam konstruiert und nicht rasant und grausam-blutig genug einstufen. Nun, Gewaltszenen sucht man bei der New Yorkerin vergebens, was auch für mehr oder minder ausufernde Sex-Szenen gilt und für unfeine Ausdrücke, derer sich so mancher zeitgenössische Autor mit Wonne, so scheint es, bedient. Diesem Zeitgeist hat sich Mary Higgins Clark niemals unterworfen, ist bis zum Schluss sich selbst treu geblieben, hat weiterhin ihre eleganten Thriller geschrieben - dabei jeder neuen Entwicklung, auch und vor allem der technischen, gegenüber außerordentlich aufgeschlossen, ihnen gerade in ihren Romanen, die im neuen Jahrtausend erschienen, viel Raum gebend -, mit viel Liebe für Details, mit geschickter Zeichnung ihrer Charaktere, die ihr mit nur wenigen Strichen aufs Vortrefflichste gelangen und mit stets genial ersonnenen Handlungen, deren Hintergrundfakten aufs Sorgfältigste recherchiert waren. Die Autorin überließ eben nichts dem Zufall!
In 'Sieh dich nicht um' (englischer Originaltitel: 'Pretend you don't see her') findet man alle Zutaten des Erfolgsrezepts der Amerikanerin – und in der Tat handelt es sich hier um einen ihrer besten Thriller, einem wahren 'Page Turner', der so spannend ist, dass man ihn kaum aus der Hand legen mag. Den Originaltitel hat sie, das sei am Rande erwähnt und ist eine Eigentümlichkeit von ihr, die auch auf einige andere ihrer Bücher zutrifft, einem Liedtitel entliehen, der ihr im Übrigen auch die grundsätzliche Idee für den hier zu besprechenden Roman gegeben hat, wie sie in ihrem, dem Thriller vorausgestellten, Dankeswort selbst schreibt.
Was nämlich geschieht mit jemandem, in vorliegender Geschichte der New Yorker Immobilienmaklerin Lacey Farrell, die Zeugin des Mordes an ihrer Klientin Isabelle Waring geworden ist und als einzige den Mörder identifizieren kann, und der ihr, eiskalter und völlig gewissenloser Killer, der er ist, erbarmungslos nach dem Leben trachtet? Nun, man steckt Lacey in das staatliche Zeugenschutzprogramm, gibt ihr eine neue Identität, verlangt von ihr, dass sie die alte abstreift, so also, als würde sie nicht mehr existieren, und transferiert sie an einen Ort, der nur der Bundespolizei bekannt ist, und setzt natürlich strikt voraus, dass sie sich, zu ihrer eigenen Sicherheit, an die strengen Vorgaben hält, durch die gewährleistet werden soll, dass der Killer sie nicht etwa doch aufspürt.
Die Situation, in die die Protagonistin mit engen Familienbanden da ohne eigenes Zutun und eben nur, weil sie zur falschen Zeit am falschen Ort war, geraten ist, ist für sie, was nachvollziehbar ist, kaum zu ertragen. Zudem lässt sie der Mord an Isabelle Waring nicht ruhen, die ihr, bereits sterbend, das Tagebuch ihrer bei einem Autounfall ums Leben gekommenen Tochter Heather anvertraut hatte, um es deren Vater, Isabelles Ex-Mann Jimmy Landi, und nur ihm, auszuhändigen. Zu Recht vermutet Lacey, dass darin Beweise dafür zu finden sind, dass Heathers vermeintlicher Unfalltod ein Mord war, wie Isabelle von Anfang an vermutet hatte.
Besagtes Tagebuch und sein seltsames Schicksal sind Dreh- und Angelpunkt der atemberaubend spannenden Geschichte, deren Ausgang überraschen dürfte, auch wegen der vielen Fußangeln, die die Autorin legt, und der geschickt eingestreuten Hinweise, die mal auf den einen, mal auf den anderen der zahlreichen Mitspieler des Thrillers zu deuten scheinen – als den Drahtzieher hinter den Morden. Denn der bösartige und gerissene Killer, ein wahres Raubtier, ist, das weiß man längst, nur ein willfähriges Instrument jenes großen Unbekannten, der alles zu verlieren hat, wenn die wahren Umstände von Heathers Tod ans Tageslicht kommen...
Hauptkritikpunkt vieler Rezensionen ist die Protagonistin selber, eine eigentlich kluge und sympathische junge Frau, deren Eigensinn und ja, auch Selbstherrlichkeit und Widerwille, mit den ermittelnden Institutionen zu kollaborieren, sie zu unklugen Handlungen hinreißen und mehr als nur einmal in akute Lebensgefahr bringen. Es stimmt, man kann sich schon ärgern über Lacey Farrell! Versetzt man sich aber in ihre Lage, überwiegt doch das Mitgefühl, in jedem Falle aber das Verständnis für ihre Handlungsweise. Und gerade weil die junge Frau, der es ganz sicher nicht an Mut mangelt, so imperfekt geschildert ist, voller Zweifel und Schwächen, ist sie glaubwürdig, wirkt im wahrsten Sinne des Wortes authentisch. Und wer von uns Leserinnen – denn die überwiegende Mehrheit derjenigen, die Mary Higgins Clarks Thriller mögen, sind nun einmal weiblich – könnte behaupten, in einer Ausnahmesituation durchgehend überlegen und überlegt zu handeln und stets das Richtige zu tun? Bleibt zu hoffen, dass wir das nie unter Beweis stellen müssen!

Veröffentlicht am 06.10.2021

Tragfähige Flügel aus Liebe, Toleranz und Vorurteilslosigkeit

Flug mit dem Wind
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Noch ist die Kashmir-Saga nicht zu Ende erzählt, doch weht über dem hier zu besprechenden vorletzten Band bereits der Hauch des Abschieds von den beiden Familien, die ich in den letzten Jahren begleiten ...

Noch ist die Kashmir-Saga nicht zu Ende erzählt, doch weht über dem hier zu besprechenden vorletzten Band bereits der Hauch des Abschieds von den beiden Familien, die ich in den letzten Jahren begleiten durfte – den Sandeeps aus Kashmir und den Sharmas aus dem indischen Shivapur – und deren Schicksal mich ungemein bewegt hat, mit denen ich geliebt, gelitten, getrauert, deren glückliche, aber auch schwere und dunkle Stunden, nicht selten voll abgrundtiefer Verzweiflung, ich geteilt habe. Schon bald werde ich sie ziehen lassen müssen, den alten Löwen Vikram mit den sprichwörtlichen neun Leben, von denen er die meisten schon verbraucht hat, seine Frau, die aus Irland stammende Ärztin und Traumatherapeutin mit indischen Wurzeln, Sameera, und ihren treuen Freund Raja, der am Ende dieser Geschichte ebenfalls nach Kashmir gezogen ist, den Vikram Bruder nennt und der sich oft genug als Fels in der Brandung, als Leuchtturm inmitten der tosenden Stürme erwiesen hat, die immer wieder nicht nur über die längst liebgewonnenen Protagonisten und ihre Familien, sondern auch über das märchenhaft schöne Tal im Himalaya, das als Spielball der Mächtigen viel zu viel Leid gesehen hat, hereinbrechen.
Leben bedeutet Veränderung, und es bedeutet auch, Abschied nehmen zu müssen, immer wieder aufs Neue und immer öfter, je länger man auf dieser Welt wandert. Man gewöhnt sich nie daran, immer lässt man einen Teil von sich zurück – doch diese Teile knüpfen ein Band der Erinnerung, das das Gestern mit dem Heute und dem Morgen verbindet, dessen leuchtende Spuren die Jahre überdauern, vielleicht sogar das eigene Erdenleben.
Vikram und die ihm Zugehörigen haben ein solches Band geknüpft, ein Band aus Stahl, um mich eines Buchtitels der Kashmir-Saga zu bedienen. Sie haben durch ihr segensreiches, altruistisches Tun, durch ihr Leben und ihren Einsatz für Frieden, Toleranz und Vorurteilslosigkeit riesige Fußstapfen hinterlassen, unübersehbare Spuren ausgestreut, weithin sichtbar, beileibe nicht von allen mit Wohlwollen betrachtet, sich Feinde geschaffen, die ihnen das Leben schwermachen, die vor nichts Bösem und Perfidem, geradezu Teuflischem zurückschrecken, wie wir auch in 'Flug mit dem Wind' erneut erfahren müssen.
Die beiden Autorinnen, grandiose Märchenspinnerinnen, Märchenweberinnen und Märchenerzählerinnen, wie ich nie müde werde zu betonen, haben ihren Helden nichts geschenkt, nichts erspart, sie immer wieder durch die Hölle gehen lassen, ihnen Narben an Leib und Seele zugefügt, die ihnen für den Rest ihres Lebens bleiben werden. Darüber zu lesen war oft kaum zu ertragen, verband aber den empathischen Leser noch stärker mit den Geschundenen, die das Gute verkörpern, das das Böse besiegt, oft nach langen Kämpfen und geradezu übermenschlicher Leidensfähigkeit - wiewohl auch sie Menschen mit Ecken und Kanten, und, wie man erfahren darf, auch mit Abgründen sind. Noch mal davongekommen, mag man denken, erleichtert, wenn wieder einmal eine Prüfung bestanden war, gleichzeitig aber der nächsten entgegenbangend.
Das ist in Band 6 nicht anders! Auch hier wartet allerlei Ungemach auf Vikram und Sameera, während Raja, dem viel zu oft Geprüften, dem Leiderfahrenen, eine Ruhepause gegönnt wird, wobei er selbstredend nicht nur einmal als Retter in der Not fungiert – eine Rolle, die ihm wie auf den Leib geschneidert ist, die er beherrscht wie kein anderer. An spannenden und überaus emotionalen Szenen steht 'Flug mit dem Wind' seinen Vorgängern in nichts nach! Schwerpunkte verlagern sich zwar – logischerweise, denn die Handlung entwickelt sich wie im Zeitraffer über einen Zeitraum von mehr als zehn Jahren -, Vikram, Sameera und Raja rücken ein wenig aus dem Fokus und machen der jüngeren Generation Platz, den Kindern, viele davon schwer traumatisiert, die im Dar-as-Salam, dem Haus des Friedens, aufwachsen durften, für die die Sandeeps Mutter und Vater sind und Raja als geliebter Onkel verehrt wird.
Aus kleinen Kindern werden große Kinder, und dann ist der Weg ins Erwachsenenleben nicht mehr weit. Eines nach dem anderen verlassen sie das Nest aus Liebe, Fürsorge und großer Menschlichkeit – und nun muss sich zeigen, wie tragfähig die Flügel sind, die ihnen in diesem Paradies mitten in Gewalt und Willkür und ständig lauernden Gefahren gewachsen sind! Ihre Schicksale sind so unterschiedlich, wie die Kinder selbst; die einen gleiten sanft, werden vom Wind getragen, finden ihr Glück – oder glauben, es gefunden zu haben, denn noch ist nicht aller Tage Abend -, die anderen haben Startschwierigkeiten, werden von Schicksalsschlägen heimgesucht, stolpern und fallen, bis sie doch noch, zögerlich zunächst, abheben und ihren Platz finden. Doch alle wissen, dass sie, was immer geschehen mag, aufgefangen werden, dass das Fundament, das ihnen ihre Pflegeeltern geschaffen haben, ein solides ist.
Die Geschichten der Kinder, gleichsam als kleine Porträts eingestreut, die Handlung verbindend, von einem Handlungsstrang zum nächsten weisend, sind wunderschön geschildert, berührend zu lesen – und sie schenken Hoffnung. Denn es braucht Menschen wie diese, denen ganz unverhofft ein neues Leben geschenkt wurde mit ihrem Einzug ins Dar-as-Salam, wo sie erleben durften, dass sie wichtig sind und ihr Leben von Bedeutung ist, dass man sich um sie und dass man für sie sorgt und dass gegenseitige Hilfe und Unterstützung selbstverständlich sind, die eine friedlichere Welt aufbauen können, die aus Krisengebieten wie Kashmir wieder machen könnten, was sie einst waren, Paradiese von gewaltiger Schönheit, in denen Muslime, Christen und Hindus ohne Hass miteinander leben. Man hat ihnen schließlich im Haus des Friedens vorgelebt, wie das geht!
Auf solche Gedanken kann man kommen während der Lektüre dieses mitreißenden, bildgewaltigen Romans, der mit spürbarer Freude, gar Leidenschaft geschrieben ist, mich ganz und gar in seinen Bann gezogen und geradezu verzaubert hat. Er ist, wie die gesamte Kashmir-Saga, nicht nur eine wunderbare Erzählung mit unvergesslichen Charakteren und ein berauschendes Epos, sondern ein einziges und einzigartiges Plädoyer für Freundschaft und für wahre, niemals wankende Menschlichkeit inmitten einer unheilen Welt. Möge seine Botschaft auf fruchtbaren Boden fallen!