Profilbild von EmmaWinter

EmmaWinter

Lesejury Star
offline

EmmaWinter ist Mitglied der Lesejury

Melde dich in der Lesejury an, um dich mit EmmaWinter über deine Lieblingsbücher auszutauschen.

Anmelden

Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 24.03.2023

Eine unpersönliche Autobiografie

Die Jahre
0

Da mich "Der Platz" erst kürzlich beeindruckt hat, habe ich nun auch "Die Jahre" gelesen und es hat mir sogar noch besser gefallen. Der spröde, eher sachliche Ton im Schreibstil bleibt, dennoch schwingt ...

Da mich "Der Platz" erst kürzlich beeindruckt hat, habe ich nun auch "Die Jahre" gelesen und es hat mir sogar noch besser gefallen. Der spröde, eher sachliche Ton im Schreibstil bleibt, dennoch schwingt immer Melancholie und ein wenig Nostalgie mit. Ernaux schreibt sich durch die Jahrzehnte ihres Lebens, sieht und beschreibt Fotos von sich selbst. Welche Gefühle, Wünsche und Hoffnung damals in ihr steckten, wie sich dies in die jeweilige Zeitstimmung und die gesellschaftliche Entwicklung einfügte. Ihre individuellen Erinnerungen sind oft Kleinigkeiten oder alltägliche Begebenheiten, die aber konzentriert betrachtet werden und mit dem großen Ganzen, der französischen Geschichte und dem politischen Weltgeschehen verschmelzen. Filme, Bücher und Musik, die Ernaux und ihre Altersgenoss*innen zu bestimmten Zeiten geprägt haben, werden ebenso genannt, wie die voranschreitende Emanzipation. Nie spricht die Autorin von "ich", sondern sie nimmt sich selbst im "man" und "wir" zurück und schreibt daher die Erinnerungen einer ganzen Generation.

"Etwas von der Zeit retten, in der man nie wieder sein wird." (S.256)

Das Buch muss in Frankreich noch stärker beeindruckt haben, weil es viel Allgemeingültiges enthält. Wenn Ernaux z.B. über die Schullektüre schreibt, mit denen Kinder seit Jahrzehnten in bestimmten Altersstufen traktiert werden, dann betrifft das ganz Frankreich, den dort ist das Bildungssystem zentralistisch geregelt.

Mir haben diese Erinnerungen sehr gut gefallen. Trotz der episodenhaften Anlage liest es sich flüssig und es war viel zu schnell zu Ende. Ich werde es sicherlich noch öfter zur Hand nehmen. Große Leseempfehlung!

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 24.03.2023

Das Karussell des Lebens

Wellenflug
0

Mit dem Romantitel spielt die Autorin auf das Kettenkarussell an, das durch die zusätzliche Neigung den Fahrgästen einen wellenförmigen Flug bietet. Und so liest sich auch der Roman: Die Geschichte einer ...

Mit dem Romantitel spielt die Autorin auf das Kettenkarussell an, das durch die zusätzliche Neigung den Fahrgästen einen wellenförmigen Flug bietet. Und so liest sich auch der Roman: Die Geschichte einer jüdischen Unternehmerfamilie, die sich im Berlin der Kaiserzeit ansiedelt und zunächst mit dem Handel von Stoffen zu Vermögen kommt. Die Handlung ist in zwei Teile untergliedert, in jedem Teil steht eine Protagonistin im Mittelpunkt. Im ersten Teil, der in der Zeit von 1864 bis 1905 spielt, steht Anna im Zentrum. Das kleine Mädchen, dessen Familie von Schlesien nach Leipzig und schließlich nach Berlin zieht, entwickelt sich zur Patriarchin der wohlhabenden weitverzweigten Verwandtschaft. Daher ist es für sie unfassbar, als sich ihr Sohn Heinrich in die Garderobiere Marie verliebt. Als sich die Wege der zwei Frauen kreuzen, wird die Handlung im zweiten Teil aus Maries Sicht (1905-1957) weitererzählt.

Mir hat der Roman sehr gut gefallen, er liest sich flüssig und die Handlung ist durchgehend interessant. Der erste Teil rund um Anna hat mich aber mehr angesprochen. Der Aufstieg der Familie, die sich bewußt in die Berliner Gesellschaft integrieren will, hat mich fasziniert und Anna fand ich als Charakter sehr berührend. Im zweiten Teil war mir der Lebemann und Spieler Heinrich sehr unsympathisch. Es hat sich mir auch nicht ganz erschlossen, was er und Marie so stark aneinander gebunden hat. Dennoch habe ich auch den zweiten Teil sehr schnell gelesen.

Bemerkenswert ist, dass die Autorin die Geschichte ihrer eigenen Familie verarbeitet hat. Ebenso bemerkenswert war für mich, dass meine Tante, die seit den 70er Jahren in Berlin wohnt, in der Rauchstraße am Tiergarten wohnt, genau gegenüber von der Hausnummer 21, wo einst Julius Reichenheim für seine Frau Anna ein wunderschönes Palais erbauen ließ.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 24.03.2023

Bewerbungsgespräch der besonderen Art

Etage 13 - Es gibt kein Entkommen, und deine Zeit läuft ab
0

Der Klappentext klang so interessant, aber leider konnte mich der Thriller nicht überzeugen.

London, im Foyer eines hypermodernen Bürogebäudes: Kate Harding wartet auf Amanda Palmer, die PR-Chefin von ...

Der Klappentext klang so interessant, aber leider konnte mich der Thriller nicht überzeugen.

London, im Foyer eines hypermodernen Bürogebäudes: Kate Harding wartet auf Amanda Palmer, die PR-Chefin von Edge Communications, die mit ihr ein Bewerbungsgespräch führen soll. Doch dann wartet in der 13. Etage Joel White auf sie, extra eingeflogen aus dem New Yorker Büro. Aber bei dieser ersten Irritation bleibt es nicht. Als die Fragen immer verstörender werden, nimmt das Vorstellungsgespräch einen völlig anderen Verlauf, als gedacht. Und plötzlich ist die 13. Etage leer, bis auf Kate und den Mann, der unbedingt etwas von ihr erfahren möchte und das ist nicht: Wo sehen Sie sich in fünf Jahren?

Der Klappentext klang ungewöhnlich und ich hatte mich auf einen entsprechend ungewöhnlichen Thriller gefreut. Allerdings ist die Spannung rasch von der 13. Etage heruntergefahren. Ich konnte mich weder mit der Protagonistin, noch mit ihrem Verhalten anfreunden. Teilweise drehte sich die Handlung im Kreis und ging nur schleppend voran. Tatsächlich hätte man den Text extrem kürzen können.

Der Autor schreibt flott und man konnte die Geschichte gut lesen, das macht es aber nicht spannender. Die wirklich sehr kurzen Kapitel verleiten dazu, doch noch schnell ein bisschen weiterzulesen. Allerdings haben diese kurzen Kapitel auch für viel Leerstand auf den Seiten gesorgt.

Wer noch nicht so thrillererfahren ist, wird sicherlich an einigen Stellen im Buch überrascht werden. Daher sehe ich hier auch eher das Zielpublikum. Für alle anderen bietet der Thriller nicht so viel Neues, sondern eher viele bekannte Versatzstücke. Ärgerlich fand ich die fehlende Logik im Gesamtkonstrukt. Wer das Buch durchgelesen hat, muss sich fragen: Warum um alles in der Welt musste das jetzt in Etage 13 in Form eines Bewerbungsgespräches stattfinden?

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 20.03.2023

Von Ostfriesland nach Paris

Der Traum vom Leben
0

Luise ist 1,86 m groß, füttert morgens um kurz nach fünf die Kühe auf dem elterlichen Hof und fährt dann mit dem Rad zum Frisörladen von Gitte, in dem sie arbeitet. In ihrem kleinen Dorf in Ostfriesland ...

Luise ist 1,86 m groß, füttert morgens um kurz nach fünf die Kühe auf dem elterlichen Hof und fährt dann mit dem Rad zum Frisörladen von Gitte, in dem sie arbeitet. In ihrem kleinen Dorf in Ostfriesland ist es Anfang der 1990er Jahre noch recht beschaulich. Größter Aufreger sind die geplanten Windräder auf dem Acker des Nachbarn. Als Luise jedoch in Bremerhaven eine Platzierung beim Preisfrisieren erreicht, wird jemand auf sie und ihr Talent aufmerksam. Udo Hammer, ein bekannte Coiffeur, will sie als seine Assistentin mit nach Paris zu den Prét-à-porter-Shows nehmen. Und tatsächlich verläßt Luise den kleinen Hof in Ostfriesland, um sich für eine Woche in ein Abenteuer zu stürzen und um eine Liebe zu vergessen.

Katharina Fuchs beschreibt das Dorf und den Hof in Ostfriesland ebenso detailfreudig, wie das schillernde Paris 1992/93, als die Supermodels alle Laufstege beherrschten und so bekannt waren wie Popstars. Es werden poppige und glamouröse Frisuren, Kleider und Shows der großen Designer beschrieben; das Nachtleben von Paris und die Arbeit von Modelagenturen. Überall begegnet Luise den weltbekannten Covergirls und Modeschöpfern. Dieser Einblick in die Model- und Designerwelt ist wirklich sehr interessant und lebendig, eine richtige Zeitreise. Die Geschichte liest sich wie ein modernes Aschenputtelmärchen und der Schreibstil der Autorin ist wunderbar flüssig und bildreich. Für die Einstimmung auf die Protagonisten hat sich Katharina Fuchs viel Zeit gelassen und das ist prima gelungen, so hatte man als Leserin eine sehr gute Vorstellung, wer da jetzt im Mercedes von Udo Hammer sitzt und mit nach Paris fährt. Aber gerade weil man Luise gut kennt, ging mir ihre Verwandlung dann doch etwas zu schnell. Besonders schwierig fand ich den Umgang mit der Sprachbarriere. In wenigen Tagen sein Schulenglisch derart aufpolieren zu können und sogar kleine Unterhaltungen in Französisch zu führen und Gehörtes wiedergeben zu können, fand ich schon sehr erstaunlich. In Paris scheint Luise ein ganz anderer Mensch zu sein. Scheinbar mühelos bewegt sie sich in dieser für sie absolut fremden Welt.

Ingesamt ein schöner Schmöker, der in einer wunderbaren Stadt und zu einer interessanten Zeit spielt. Und wenn man den Aspekt Märchen im Auge behält, kann man über die Logiklöcher hinwegsehen. Den Roman habe ich gerne gelesen, er konnte mich allerdings nicht so packen wie z.B. Lebenssekunden, der wirklich mitreißend war.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 08.03.2023

Der Platz im Leben

Der Platz
0

Mein erster Roman von Annie Ernaux. Ich hatte ein wenig Angst vor der Lektüre, vor der nobelpreiswürdigen Art, in der Ernaux schreibt. Erinnerungen an ihren Vater, Episoden aus dem Leben der Familie. Eine ...

Mein erster Roman von Annie Ernaux. Ich hatte ein wenig Angst vor der Lektüre, vor der nobelpreiswürdigen Art, in der Ernaux schreibt. Erinnerungen an ihren Vater, Episoden aus dem Leben der Familie. Eine besondere Art des autobiographischen Schreibens. Und doch liest sich der Roman wunderbar flüssig. Die Sprache ist klar, ohne Schnörkel. Ernaux beschreibt, wie es war, das Leben als Tochter einfacher Ladenbesitzer. Den Vater, der nun kein Arbeiter mehr ist und um jeden Preis die gesellschaftliche Stellung als Laden- und Cafébesitzer behalten möchte. Der soziale Aufstieg der Tochter durch den Besuch der höheren Schule ist ebenso ausdrücklich erwünscht, wie gleichzeitig gefürchtet. Es tut sich ein Graben auf, eine Entfremdung setzt ein, die niemand möchte, die aber nicht verhindert werden kann. Die Sprache innerhalb der Familie und außerhalb, in der Schule, ist dabei nur ein Punkt, der oft zum Zankapfel wird (S.54).

Relativ emotionslos schreibt die Französin. Sie reklamiert für sich und ihren Roman einen sachlichen Ton. Und dennoch erscheint es mir sehr zart, wie Ernaux den Blick zurück in die Vergangenheit wirft, nach Yvetot, in den kleinen Ort in der Normandie, in dem sie aufwuchs.

Mir hat das Buch sehr gut gefallen. Die vielen klugen Sätze, in denen mit wenigen Worten, so viel gesagt wird. Mein Exemplar des Romans ist voller Post-its. Der letzte klebt an dieser Stelle, an der deutlich wird, dass der soziale Aufstieg auch einen Verlust und Bedauern mit sich gebracht hat:

"Ich bin am Ende meines Vorhabens angekommen: das Erbe ans Licht holen, das ich an der Schwelle zur gebildeten, bürgerlichen Welt zurücklassen musste." (S. 93)

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere