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Veröffentlicht am 22.12.2022

Das Glück zerrinnt zwischen den Fingern

Über Carl reden wir morgen
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Anton und Rosa Brugger sind Geschwister und leben in einem eher abgelegenen Tal in Österreich in der Hofmühle. Während Anton in der Mühle bleibt, geht Rosa nach Wien und lernt ein ganz anderes Leben kennen. ...

Anton und Rosa Brugger sind Geschwister und leben in einem eher abgelegenen Tal in Österreich in der Hofmühle. Während Anton in der Mühle bleibt, geht Rosa nach Wien und lernt ein ganz anderes Leben kennen. Jahre später geht Antons Sohn Albert zur Kriegsmarine und bleibt insgesamt 12 Jahre fort. In der Mühle, die das Zentrum der Handlung ist, treffen er und seine Tante wieder aufeinander. Über mehrere Jahrzehnte und Generationen spannt sich der Bogen dieser Familiengeschichte. Immer wieder brechen Familienmitglieder aus dem engen Leben in der Mühle aus, das zieht sich durch den gesamten Roman. Neben den dörflichen Tragödien spielt vor allem der 1. Weltkrieg eine wichtige Rolle innerhalb der Familie Brugger.

Es stehen immer zwei Personen im Mittelpunkt der verschiedenen Abschnitte. Hatte man die zwei liebgewonnen, ging es schon in der nächsten Generation weiter. Einige wichtige Erklärungen werden erst nach und nach eingeflochten, so entsteht ein dichtes Handlungs- und Personengewebe.

Trotz der vielen Schicksalsschläge, die die Familie zu überstehenden hat, habe ich das Buch sehr gerne gelesen. Es ist spannend, dramatisch, traurig und tragisch, denn von vielen Protagonisten muss man sich innerhalb der Handlung verabschieden. Es tat schon weh zu lesen, wie das Glück den Figuren immer wieder durch die Finger rinnt. Die Charaktere haben mir in ihrer Vielfalt sehr gut gefallen, einzig Eugen war in meinen Augen als Getriebener etwas überzeichnet. Die Handlung nach Ende des Krieges hatte zudem leichte Züge eines Boulevardstückes.

Die Autorin kann sehr gut erzählen, da wird ein riesiges Panorama an Personen und Geschehnissen aufgebaut, das die Jahrzehnte der k.u.k. Monarchie Österreich-Ungarn widerspiegelt. Ein Familienroman, der mich sehr gefesselt hat. Gut, dass ich den Klappentext nicht gelesen hatte, er verrät wieder einmal (völlig unnötig) viel zu viel.


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Veröffentlicht am 01.12.2022

Was ist Heimat?

Jahre mit Martha
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Eine Anziehung, die keiner richtig erklären kann: Martha Gruber, 40 Jahre und Professorin - Željko alias Jimmy, 15 Jahre, dessen Familie aus der Herzegowina stammt und dessen Mutter bei Frau Gruber putzt. ...

Eine Anziehung, die keiner richtig erklären kann: Martha Gruber, 40 Jahre und Professorin - Željko alias Jimmy, 15 Jahre, dessen Familie aus der Herzegowina stammt und dessen Mutter bei Frau Gruber putzt. Jimmy erledigt während der Sommerferien einige Arbeiten in Haus und Garten. Bei Grubers gibt es eine riesige Hausbibliothek, Jimmys Familie besitzt nur zwei Bücher. Für den Jungen liegt hier der Unterschied zwischen seiner Familie und den Grubers, nicht in Haus, Pool und Auto. Der Zugang zu Bildung scheint ihm die universelle Lösung zu sein.

"Ganz gleich, wie viele Arbeitsstellen meine Eltern noch annehmen würden - hier sah ich alles, was ich von ihnen nie würde bekommen können. Hier in diesem Raum, das dachte ich damals, lag das verborgen, was die Voraussetzung dafür sein musste, ein kluger Mensch zu sein." (S. 52)

Als die Ferien vorbei sind, trennen sich die Wege der beiden. Jimmy beginnt nach dem Abitur ein Studium in München. Hier trifft er auf den umschwärmten Literaturprofessor Alex Donelli und wird durch einen Zufall sein Assistent. Er wird Martha wieder begegnen. Eine Reise in die Herzegowina und illegale Geschäfte stehen ihm bevor, ehe er endlich glücklich werden wird - anders als er es sich gedacht hatte.

Mir haben die ersten 110 Seiten wahnsinnig gut gefallen. Wie Jimmy über sein Leben reflektiert, die Zukunft, seine Familie, was es heißt "nicht deutsch" zu sein, das war in Verbindung mit der Sprache ganz großartig zu lesen. Der Roman ist in der Ich-Perspektive des Protagonisten im Rückblick verfasst, deswegen spricht und reflektiert der 15-Jährige wie ein Erwachsener. Als Martha erneut in "Jimmys" Leben tritt, hat sich der "Sound" der Geschichte irgendwie geändert und ich habe diese Passagen nicht mehr mit der gleichen Begeisterung gelesen. Die intime Beziehung der beiden empfand ich als - sagen wir mal - irritierend. Zum Ende hin hat es mir dann wieder besser gefallen, obwohl die Handlung nach dem ersten Drittel eher episodenhaft wurde und ich auch nicht mit allem etwas anfangen konnte. Was sollte z.B. die Szene im Heizungskeller? Die Stringenz ging für mich teilweise verloren und auch ein bisschen die Leichtigkeit.

Dennoch ist das Buch lesenswert. Es gibt so viele schlaue Sätze, die zum Nachdenken anregen. Über das Leben im Allgemeinen, über Glück und wie man sich fühlt, wenn man keine richtige Heimat mehr hat.

Und es gibt viele witzige Sätze in diesem Roman, der über weite Strecken sehr unterhaltsam ist und ich fand Jimmy und seine weitverzweigte Familie sehr sympathisch und ich habe mit ihnen mitgefühlt. Der Autor hat seine Figuren ganz liebevoll gestaltet und die Geschichte ist gespickt mit gut beobachteten Details. Die Lesewut, die nur durch die Altpapiercontainer gestillt werden kann, der Besuch beim BIZ, die Arbeit an der Uni und mit Donelli, die Begegnung mit der Reinigungsfrau bei CBM etc.

Jimmy versucht sein Glück (und seinen Weg heraus aus der Zwei-Zimmer-Wohnung seiner Familie) zu finden, aber er findet es nicht mit Martha und er findet es nicht mit Donelli. Dieses Beziehungsgeflecht, wer hier was von wem will und wer wen möglicherweise ausnutzt, fand ich sehr gelungen kreiert.

Ich möchte noch viel mehr schreiben, um die vielen Aspekte des Buches anzusprechen, das sollte aber bis hier her genügen, um neugierig zu machen, oder?


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Veröffentlicht am 01.12.2022

Poetische Reise ins winterliche Norwegen

Das Eis-Schloss
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Die Handlung ist in wenigen Sätzen zusammengefasst: Ein kleiner Ort in Norwegen. Das Mädchen Unn kommt als Waise zu ihrer Tante, hält sich von den anderen Kindern in der Schule aber scheu zurück. Eines ...

Die Handlung ist in wenigen Sätzen zusammengefasst: Ein kleiner Ort in Norwegen. Das Mädchen Unn kommt als Waise zu ihrer Tante, hält sich von den anderen Kindern in der Schule aber scheu zurück. Eines Tages gehen Blicke zwischen ihr und der elfjährigen Siss, der Anführerin, hin und her und schließlich verabreden sich die beiden Mädchen. Unmittelbar entsteht eine Verbundenheit, ein Verstehen, das für die Leser in seiner Tiefe nur zu erahnen ist. Diese eine freundschaftliche Begegnung reicht aus, um das Gefüge in der Klasse und dann auch im Dorf durcheinander zu wirbeln, denn am nächsten Tag verschwindet Unn. Ihre Abwesenheit reißt Siss in eine Trauer, die für die anderen unverständlich ist.

Tarjei Vesaas gilt als einer der bedeutendsten norwegischen Schriftsteller des letzten Jahrhunderts und wurde mehrfach für den Literaturnobelpreis nominiert. Das besondere an seinen Texte ist, dass er sie auf Nynorsk verfasste. Diese Sprache basiert auf westnorwegischen Dialekten. Inwieweit der spezielle Klang dieser Sprache in die Übersetzung einfließen konnte, vermag ich nicht zu sagen. Das Buch liest sich aber nicht wie ein klassischer Roman. Die Handlung ist recht übersichtlich, aber die Darstellung der Natur, vor allem des Eis-Schlosses, bei dem es sich um das kunst- und geheimnisvolle Gebilde rund um einen Wasserfall handelt, ist unglaublich poetisch beschrieben. Fast schon mystisch bewegen wir uns mit den Figuren durch den Wald, am Fluss entlang und bis zum Eis-Schloss. Es ist der zentrale Ort in dieser Geschichte, es ist Ziel, Unheil und Erlösung. Von Beginn an dröhnt immer wieder das Eis auf dem See und schafft eine bedrohliche Atmosphäre.

In kleinen Kapiteln, kurzen Sätzen und knappen Dialogen, die von der warmherzigen aber eher zurückhaltenden Dorfgemeinschaft zeugen, erschafft der Autor quasi ein literarisches Eis-Schloss, das alles in sich birgt, bis es der Frühling endlich wieder frei gibt.

Ich habe das Buch gerne gelesen, es passt hervorragend in diese Jahreszeit und regt zum Mit- und Nachdenken an.

Aus dem Norwegischen übersetzt von Heinrich Schmidt-Henkel.


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Veröffentlicht am 01.12.2022

Wenn die Worte fehlen

Dankbarkeiten
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Wie kann man sich vorstellen, dass Wörter einfach verschwinden? Sich verflüchtigen, nicht mehr greifbar sind; langsam aber sicher auf den Grund eines tiefen Sees gleiten, so tief, dass man sie nicht mehr ...

Wie kann man sich vorstellen, dass Wörter einfach verschwinden? Sich verflüchtigen, nicht mehr greifbar sind; langsam aber sicher auf den Grund eines tiefen Sees gleiten, so tief, dass man sie nicht mehr erreichen kann. So ergeht es Michka, die früher bei einer Zeitschrift gearbeitet hat. Als sie in ein Pflegeheim kommt, ersetzt sie immer öfter Wörter, die ihr nicht mehr einfallen wollen, durch solche, die ähnlich klingen. Die Gespräche mit ihr werden mit der Zeit kryptischer und kürzer. Ihr Logopäde Jérôme und ihre Ziehtochter Marie, sehen, wie Michka immer mehr von ihrer Eloquenz verliert. Beide wollen ihr unbedingt helfen, zwei Personen zu finden, bei denen Michka sich noch nicht bedankt hat. Diesem seit Jahrzehnten noch nicht ausgesprochenen Dank gilt ihre letzte Kraft.

Wunderschön und tieftraurig hat Delphine de Vigan diese Geschichte über den Verlust der Sprache geschrieben. Mir ist der kleine Roman wirklich ans Herz gegangen. Wirkt es zunächst noch humorvoll, wenn Michka sich mit ähnlich klingenden Vokabeln durch die Gespräche wurschtelt und dennoch von Marie und Jérôme verstanden wird, spürt man später die Verzweiflung, wenn selbst dies nicht mehr gelingt.

In ihren Träumen spricht Michka wie eh und je, das fand ich eine schöne Gegenüberstellung zu ihrem Wachzustand. Vieles wird nur in Andeutungen erzählt und bleibt offen, aber das passt sehr gut zu der Geschichte. Die titelgebenden Dankbarkeiten ziehen sich wie ein roter Faden durch das Buch. Es gibt nicht nur die unausgesprochene Dankbarkeit in der Vergangenheit, sondern auch die ausgesprochene in der Gegenwart, die Michka mit Marie und Jérôme verbindet.

Wir sollten es viel öfter sagen, selbst wenn es wie bei Michka anders klingt: "Dante".

Aus dem Französischen übersetzt von Doris Heinemann.

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Veröffentlicht am 01.12.2022

Die Kriegsreporterin im Schwanenteich

Die Gespenster von Demmin
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Larry trainiert, um einst in den Krisengebieten der Welt als Kriegsreporterin überleben zu können: Kopfüber vom Apfelbaum hängen oder die Hand bis zur Schmerzgrenze in eisiges Wasser tauchen. Larry ist ...

Larry trainiert, um einst in den Krisengebieten der Welt als Kriegsreporterin überleben zu können: Kopfüber vom Apfelbaum hängen oder die Hand bis zur Schmerzgrenze in eisiges Wasser tauchen. Larry ist 15 und lebt im kleinen Kosmos ihres Heimatortes Demmin; an der Peene gelegen, auf halber Strecke zwischen Stralsund und Neubrandenburg. Die Eltern leben getrennt, die Mutter arbeitet im Schichtdienst im Krankenhaus und sucht nach dem passenden Mann, der sie wieder glücklich machen soll. Neben ihrer Survivalausbildung und der lästigen Schule, jobbt Larry auf dem örtlichen Friedhof. Dort unterstützt sie die betagte Verwalterin Frau Ratzlow, die sich als einzige für ihr Trainingsprogramm interessiert. Larrys beste Freundin Sarina ist ständig verliebt, derzeit in Timo, der bei Netto Regale einräumt. Und dann ist da noch die alte Frau Dohlberg, die im Haus nebenan wohnt und sich mit ihren Gespenstern auseinandersetzen muss.

Den Roman habe ich so, so gerne gelesen. Larry ist ein ganz toller Charakter, der seinen Platz im Leben sucht, umgeben von Trauer, Verlust und Einsamkeit. Unglaublich witzig und gleichzeitig mit ganz viel Tiefgang erzählt Verena Kessler die Geschichte dieses Mädchens und der sie begleitenden Personen. Der Roman wird aus der Sicht von Larry in der Ich-Perspektive erzählt, was eine ganz starke Bindung an den Hauptcharakter schafft. Kleine Passagen werden aus der Sicht der Nachbarin Frau Dohlberg erzählt, jedoch aus der personalen Erzählperspektive. Neben der Sprache hat mich auch die geschickt kombinierte Handlung begeistert, in der ganz viele kleine Rädchen nach und nach ineinander fassen.

So wird der Massenselbstmord, der im Frühjahr 1945 über 900 Menschen in Demmin das Leben kostete, nur in wenigen Sätzen und in Andeutungen erwähnt. Dennoch ist die Handlung der Gegenwart vielfach damit verknüpft und zeigt Gemeinsamkeiten von Frau Dohlberg und Larry auf, die sich erst im Laufe der Handlung einstellen. Der Wunsch Kriegsreporterin zu werden und die Vergangenheit der Stadt sind dabei nur die offensichtlichste Verbindung. So findet sich der anstehende Umzug von Frau Dohlberg ins Altersheim und das Aussortieren und Packen von Kisten später bei Larry in der Räumung der Garage wieder. Dabei hat mich besonders fasziniert, dass die beiden während des ganzen Romans nicht miteinander sprechen, sie sehen sich nur von weitem.

Und wie in einer klassischen Novelle gibt es in diesem 238 Seiten langem Buch ein "Dingsymbol", das als Leitmotiv immer wieder auftaucht:

"Da drüben, vielleicht zehn Meter von hier, steckt ein Schwan im Eis. Er scheint festgefroren zu sein. Mit seinem freien Flügel flattert er, als würde er mir winken." (S. 68)

Ich kann dieses Buch nur aus vollem Herzen empfehlen, es gibt so viel zu entdecken und es liest sich ganz wunderbar. Die Szenen im Netto-Markt oder auf dem Friedhof - ein Traum an Witz und Ironie, bei aller Bitterkeit und Traurigkeit, die sich im Roman finden.

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