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Veröffentlicht am 22.09.2023

Mikrokosmos Harlem

Die Regeln des Spiels
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Im zweiten Teil seiner Harlem-Trilogie begegnen wir vertrauten und lieb gewonnenen Figuren aus Harlem Shuffle wieder. Mehr oder weniger im Zentrum steht erneut Ray Carney, der sympathische Familienvater ...

Im zweiten Teil seiner Harlem-Trilogie begegnen wir vertrauten und lieb gewonnenen Figuren aus Harlem Shuffle wieder. Mehr oder weniger im Zentrum steht erneut Ray Carney, der sympathische Familienvater und Möbelhändler, der inmitten des kriminellen Chaos von Harlem in den 1970er Jahren nur eins will: mit seiner Familie gut über die Runden kommen. Aber man lässt ihn einfach nicht. Seine frühere Verbindung zu Munson, einem korrupten Cop, sorgt dafür, dass er schneller wieder in kriminelle Machenschaften verwickelt ist, als er bis drei zählen kann.

Die eigentliche Hauptfigur des Romans ist aber wieder der New Yorker Stadtteil Harlem, das Zentrum der afroamerikanischen Kultur. Allerdings werden wir gemeinsam mit Ray und seinem alten Kumpel Pepper Zeuge, wie Harlem langsam vor die Hunde geht. Kriminalität, Armut, Brände und Korruption auf allen Ebenen hinterlassen tiefe Narben in der Stadt und den Menschen. Whitehead nähert sich aus verschiedenen Perspektiven diesem Elend, über Ray/Munson, über einen Film, der in Harlem gedreht wird (u.a. in Rays Möbelgeschäft) und über die Korruption in städtischen Behörden gepaart mit einem unsinnigen Sanierungsprojekt. Dabei bedient sich der Autor eines besonderen Schreibstils, der viel Aufmerksamkeit erfordert und zudem voller trockenen Humors steckt. Ständig wechselt Whitehead zwischen Personen und Begebenheiten, erläutert Vergangenes und zieht Verbindungslinien kurz und quer durch den Stadtteil, dass einem schwindelig werden kann. Ein bisschen hat es mich an "Berlin Alexanderplatz" von Döblin erinnert, der die Stadt durch seine Montagetechnik zum Leben erweckt und zum Gegner des Helden macht. Wie der Titel schon sagt, muss man sich in Harlem an die Spielregeln halten, sonst geht man unter.

Mir hat das Buch sehr gut gefallen, es kommt aber nicht ganz an Harlem Shuffle heran. Es können hier nur ein paar der spannenden und signifikanten Themen erwähnt werden, die im Roman eine Rolle spielen: Black Panthers, Black Liberation Army, Knapp-Kommission, Frank Serpico, Blaxploitation-Horrorfilme, Jackson Five, warme Sanierungen, korrupte Politiker, Rassentrennung und Polizeigewalt. Wieder gibt es drei Hauptteile, die jeweils mit ein paar Jahren Abstand die Handlung weiterführen und immer bestimmte Blickwinkel auf Harlem haben. Insgesamt verfolgen wir die Vorgänge von 1971 bis 1976. Das Ende des Romans macht absolut neugierig auf den letzten Teil. Ein starkes und gleichzeitig unterhaltsames Stück amerikanische Geschichte.

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Veröffentlicht am 20.09.2023

Von Kleinen Dinge

Kleine Dinge wie diese
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Es braucht nicht viel, um alles zu verlieren. Dessen ist sich auch Bill Furlong bewusst, der als Kohle- und Holzhändler mit seiner Frau und fünf gut geratenen Töchtern ein zufriedenes und glückliches Leben ...

Es braucht nicht viel, um alles zu verlieren. Dessen ist sich auch Bill Furlong bewusst, der als Kohle- und Holzhändler mit seiner Frau und fünf gut geratenen Töchtern ein zufriedenes und glückliches Leben in Irland führt. Wir schreiben das Jahr 1985, es ist kurz vor Weihnachten und Furlong liefert die letzten Bestellungen vor dem Fest aus. Eine dieser Lieferungen ist für das örtliche Konvent bestimmt, bekannt und bliebt wegen seiner außerordentlich guten Wäscherei. Furlong sieht hier aber nicht nur die saubere Wäsche ...

In einer kleinen Geschichte von gerade mal 114 Seiten gelingt es der Autorin in einer ruhigen, gradlinigen und zurückhaltenden Sprache ein trauriges Kapitel der irischen Geschichte großartig zu thematisieren. Die Misshandlung und Ausbeutung von tausenden von Frauen und Mädchen, die durchgeführten Zwangsadoptionen von den in den Magdalenen-Heimen geborenen Kindern, das alles wird nur angerissen und angedeutet. Die Not und das Elend werden dennoch deutlich. Im Zentrum steht Furlong, selbst ohne Vater aufgewachsen und möglicherweise nur durch die Unterstützung einer freundlichen älteren Dame gemeinsam mit seiner Mutter dem Schicksal entkommen, ebenfalls in einem solchen Heim geboren zu werden. Die eher düstere Gesamtstimmung des Buches drückt auch auf Furlong, der sich entscheiden muss, ob er sich gegen das mächtige Konvent stellt, das übrigens auch die einzige gute Schule des Ortes unterhält, die bereits drei seiner Töchter besuchen, oder ob er wegschaut.

Durch einzelne kleine Sätze wird auf schreckliche Art deutlich, wie schlecht es denen geht, die nicht in gesicherten Verhältnissen leben: "And early one morning, Furlong had seen a young schoolboy drinking the milk out of the cat`s bowl behind the priest's House." (S. 13) Der Schreibstil hat mir sehr gut gefallen und ich habe an Kurzgeschichten von Kate Chopin denken müssen.

Ein wertvolles kleines Buch mit einer großen Botschaft.

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Veröffentlicht am 20.09.2023

Bücher und Menschen

Tage des Lesens
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Mit Textsammlungen ist es immer so eine Sache, manche Auszüge gefallen einem sehr, andere weniger.

Dieses Büchlein beginnt mit einem Textauszug von Marcel Proust "Tage des Lesens" oder eher dem Versuch ...

Mit Textsammlungen ist es immer so eine Sache, manche Auszüge gefallen einem sehr, andere weniger.

Dieses Büchlein beginnt mit einem Textauszug von Marcel Proust "Tage des Lesens" oder eher dem Versuch zu lesen, wenn einen die anderen denn lassen würden. Das kennt Ihr bestimmt auch. Es wird gesagt: "Lies doch ruhig was." Und tut man es dann: "Lass Dich nicht stören." Und dann geht's erst richtig los und man kommt natürlich nicht zum Lesen. Da hab ich mich sofort wiedererkannt und empfand es als einen sehr schönen Einstieg in das Buch. Dann folgt ein Auszug aus einem meiner Lieblingsbücher "Ein Baum wächst in Brooklyn". Es gibt eine wunderschöne Kurzgeschichte von Claire Beyer, die hat mich irgendwie auf dem falschen bzw. richtigen Fuß erwischt hat und ich hatte Tränen in den Augen. Es gibt noch Bezüge zu (der von mir sehr geliebten) Agatha Christie und zur brasilianischen Schriftstellerin Clarice Lispector, von der ich schon zwei Bücher und eine Biografie besitze - alles noch nicht gelesen. Aus dem mir bereits bekannten "Anton Reiser" gibt es eine Passage und sehr gefallen hat mir auch der Auszug aus "Das Papierhaus" von Domínguez. Diese Erzählung werde ich mir noch kaufen.

Insgesamt sind viele wirklich schöne Geschichten rund um das Lesen und Bücher hier versammelt. Ich habe immer mal wieder ein paar Texte gelesen und es hat mir Freude gemacht. Die für mich nicht so interessanten Auszüge waren in der Unterzahl.

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Veröffentlicht am 12.09.2023

Das Mammut im Moor

Als wir an Wunder glaubten
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Das Mammut, das im Unnenmoor in Ostfriesland sein Unwesen treibt, ist aus Stahl. Mit seinem riesigen Pflug wühlt es die Erde auf, um das Moor trockenzulegen. Es soll endlich vorangehen nach dem Krieg, ...

Das Mammut, das im Unnenmoor in Ostfriesland sein Unwesen treibt, ist aus Stahl. Mit seinem riesigen Pflug wühlt es die Erde auf, um das Moor trockenzulegen. Es soll endlich vorangehen nach dem Krieg, nach der Vertreibung, nach all der Unordnung und Ungewissheit, nach all dem Leid und Mangel. Edith, Annie und ihre Kinder haben die Höfe versorgt und warten auf die Rückkehr der Männer aus der Gefangenschaft. Ob doch noch jemand aus dem Zug steigt? Jahre nach Kriegsende? Als es bei einer Familie bergauf geht, die andere aber vom Pech verfolgt scheint, ist der Fortschritt auf einmal ganz weit weg. Was nicht mit rechten Dingen zugehen kann, ja, da muss doch einer nachgeholfen haben. Und so sind die alten Geschichten von den Hexen aus dem Moor plötzlich gar nicht mehr so alt.

Gekonnt fängt Helga Bürster die schweren Nachkriegsjahre auf dem Land ein. Dabei stehen die Daheimgebliebenen den Soldaten, Kriegsheimkehrern und ehemaligen Gefangenen in ihrem Leid kaum in etwas nach. In dieser Welt, in der alles auf den Kopf gestellt ist, die von Flüchtlingen und Vertriebenen aus dem Osten überrannt wird, breitet sich an vielen Stellen Missgunst und Neid aus. Auf diesem Nährboden gedeihen die Predigten von sogenannten Wunderheilern prächtig. Wohin dies im Extremfall führen kann, zeigt der Roman. Und konnte man sich zuletzt noch am Alten festhalten, am Land und den Häusern mit den tief heruntergezogenen Reetdächern, so macht der Fortschritt auch hiervor nicht halt.

Wunderbar sind die verschiedenen norddeutschen Charaktere dargestellt. Wortkarg und spröde, aber auch dickköpfig und mutig. Edith und Anni, die den Krieg gemeinsam überstanden haben, entwickeln sich in völlig verschiedene Richtungen. Ihre Schicksale stehen im Mittelpunkt des Romans, der aber ebenso von den anderen Figuren lebt. Den Kindern Betty und Willi, der alten Guste, dem Dorfwirt und dem Dorfreporter, der krummen Katie, die als Hausiererin über die Dörfer zieht, und Fritz, der weiß, wie man das Unglück wieder los wird, das einen am Wickel hat. Und immer wieder gibt es welche, die ihr Fähnlein nach dem Wind hängen und davonkommen.

Mir hat das Buch sehr gut gefallen, besonders auch wegen des Niederdeutschen an vielen Stellen. Will seggen: Mi hebbt ok de veel plattdüütsch Inschuven gefullen. Dat maakt jüst de Dialoge temlich glöövlich. Der Roman vermittelt Einblicke in eine dramatische Zeit und beleuchtet durch die unterschiedlichen Figuren viele Facetten dieser Nachkriegsjahre. Besonders spannend ist, dass hier (wieder einmal) historische Ereignisse als Grundlage dienen. Wer "Marschlande" mochte, wird auch diesen Roman lieben.

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Veröffentlicht am 12.09.2023

Ein Fühlen verändert ein Leben

Ich, Ellyn
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Ellyn lebt auf einer ärmlichen Farm irgendwo im England des Jahres 1573. Sie muss hart arbeiten, wird von ihrem älteren Bruder Tomas schikaniert und geschlagen. Die Mutter hat sich in ihr Schicksal ergeben, ...

Ellyn lebt auf einer ärmlichen Farm irgendwo im England des Jahres 1573. Sie muss hart arbeiten, wird von ihrem älteren Bruder Tomas schikaniert und geschlagen. Die Mutter hat sich in ihr Schicksal ergeben, ist hart geworden und verlangt das auch von ihrer etwa 10-jährigen Tochter. Ellyn jedoch zeigt große Liebe für ihre gerade geborene kleine Schwester Agnes. Der bettlägerige Vater ist kaum mehr als ein Babysitter für Agnes und hadert mit seinem Schicksal. Ellyns Lebensweg scheint unverrückbar vorgezeichnet, bis sie eines Tages - zum ersten Mal in ihrem Leben - in den nächsten Ort zum Markt geschickt wird, um mit ihrem Bruder ein Schaf zu verkaufen. Dort hört sie Gesang aus der Kirche und ist völlig gefangen von diesen neuen Tönen. Schlafwandlerisch kann sie das Gehörte wiedergeben, mit einer Stimme, die sofort Aufmerksamkeit erregt. Aber: Sie ist ein Mädchen und Singschulen sind nur für Jungen ...

Der Roman von Nell Leyshon überrascht, ja erscheckt geradezu durch den Sprachstil, beginnt man ihn zu lesen: Ohne Punkt und Komma, nur Kleinschreibung, verkürzte Sätze, Vulgärsprache etc. Alles wird aus der kindlichen Sicht von Ellyn beschrieben und diese kennt nur, was sie täglich sieht:

"er [Gott] hat auch diese ganze scheiße geschaffen in diesen sieben tagen stell dir vor du kannst machen was du willst und dann entscheidest du dich scheiße zu machen" (S. 28) Ellyn kann nicht machen was sie will. Sie kennt nichts außer dem heruntergekommenen Hof und ihrer Arbeit, aber sie hat dieses "fühlen" in sich - und sie hat eine kleine Schwester. Das gibt ihr genug Antrieb, um ihr Schicksal gegen alle Widerstände selbst in die Hand zu nehmen. Unmerklich, schleichend ändert sich mit Ellyns Leben auch ihre Sprache. Das finde ich großartig gemacht und der Übersetzerin Wibke Kuhn gebührt größte Anerkennung. Der Roman hat mich - trotz oder gerade wegen des Schreibstils - von Beginn an gefesselt. Ich wollte unbedingt wissen, wie es mit Ellyn weitergeht. Überrascht war ich von den vielen historischen Details, die die Autorin eingebaut hat. Wenn Ihr den Roman gelesen habt, recherchiert ein bisschen, da gibt es Großartiges im Internet zu entdecken. Ein ungewöhnlicher Roman in jeder Beziehung, den ich sehr empfehlen kann.

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