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Veröffentlicht am 03.05.2023

Der postmoderne Detektiv

Die New-York-Trilogie
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Mein erstes Buch von Paul Auster, das ich mir völlig anders vorgestellt hatte. Die New-York-Trilogie ist leserunfreundlich, anstrengend, verwirrend, kompliziert und läßt einen am Ende allein. ABER es ist ...

Mein erstes Buch von Paul Auster, das ich mir völlig anders vorgestellt hatte. Die New-York-Trilogie ist leserunfreundlich, anstrengend, verwirrend, kompliziert und läßt einen am Ende allein. ABER es ist dennoch ein unglaublich faszinierendes Leseabenteuer, wenn man sich darauf einläßt.

Der Band besteht aus den drei Romanen "Stadt aus Glas", "Schlagschatten" und "Hinter verschlossenen Türen". Wobei ich es so empfunden habe, dass die Handlungen immer etwas substanzieller werden. Bei allen Texten handelt es sich im weitesten Sinne um eine Detektivgeschichte. Es geht um das Beobachten, Verfolgen und um das Scheitern. Als Paradebeispiel für postmoderne Romane gibt es unzählige Anspielungen auf andere Texte, Autoren und Genres. Es gibt Verdoppelungen und Wiederholungen in den kuriosesten Formen. In "Stadt aus Glas" verdoppelt sich z.B. plötzlich der Verfolgte und der Verfolger ist hin und her gerissen, welchem Zwilling er folgen soll. Das Spiel mit den Namen ist bei Auster besonders ausgeprägt, so taucht er selbst im ersten Roman auf und weitere Figuren treten unvermittelt im dritten Roman wieder auf die Bühne. Daher lohnt es sich wirklich alle Texte zu lesen. In "Schlagschatten" haben alle Figuren als Namen Farben, so soll Privatdetektiv Blue im Auftrag von White einen Mann namens Black beobachten. Die Stadt New York spielt als Namensgeberin der Trilogie eine herausragende Rolle und verkörpert ein Labyrinth, in dem einige Charaktere einfach verloren gehen bzw. sich auflösen. Auch dies ein Stilmittel des postmodernen Romans, das Verschwinden und Auflösen von Existenzen. Die Handlung nimmt immer wieder große Abzweigungen, die dann ins Leere laufen. Letztlich lösen sich auch die Geschichten auf und verlieren sich in den Häuserschluchten der Metropole. Wer sich im Vorhinein ein bisschen mit den Methoden und Stilmitteln auseinandersetzt, der wird ständig Aha-Erlebnisse haben.

"Stadt aus Glas" gibt es auch als großartig umgesetzte Graphic Novel/Comic, die bildlich umsetzen kann, was der Autor in seinem Text schreibt. Das ist wirklich ganz klug gemacht und trägt zum Verständnis bei.

Ein Leseerlebnis der besonderen Art, das ich für alle empfehlen kann, die sich für den postmodernen Roman interessieren oder generell an Sprach- und Wortspielen Freude habe. Es gibt so viel zu entdecken, aber man braucht wirklich Ausdauer. Als Tipp kann ich noch das Hörbuch empfehlen, das von Stefan Kaminski grandios gelesen wird.

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Veröffentlicht am 19.04.2023

Die Satteltaschenbücherei von Kentucky

Wie ein Leuchten in tiefer Nacht
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In den 1930er Jahren hatte die Weltwirtschaftskrise die USA fest im Griff und Präsident Franklin D. Roosevelt setzte mit zahlreichen Reformen (New Deal) dagegen. Die größte Bundesbehörde, die im Zuge dieser ...

In den 1930er Jahren hatte die Weltwirtschaftskrise die USA fest im Griff und Präsident Franklin D. Roosevelt setzte mit zahlreichen Reformen (New Deal) dagegen. Die größte Bundesbehörde, die im Zuge dieser Reformen geschaffen wurde, war die WPA (Works Progress Administration). Neben ihrer Hauptaufgabe der Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen (Bau von Staudämmen, Straßen, Brücken etc.), wurden auch Programme initiiert, die der Allgemeinheit auf anderem Wege zu Gute kommen sollten: Interviewprogramme, Theateraufführungen in der Provinz und die Versorgung der Menschen mit Büchern, um die Bildung zu fördern. Und hier fängt die Geschichte von Jo-Jo Moyes an.

Als in Baileyville im tiefsten Kentucky eine Bücherei mit Lieferservice durch berittene Bibliothekarinnen aufgebaut wird, ist die unglücklich mit einem wohlhabenden Einwohner verheiratete Engländerin Alice eine der ersten, die sich freiwillig meldet. Durch diese körperlich anstrengende und nicht von allen wohlwollend betrachtete Arbeit, lernt sie Freundinnen, das bergige Umland und die Menschen kennen, die sehnsüchtig auf Bücher warten oder sich ihr mit einem geladenen Gewehr entgegenstellen. Zu den entschiedensten Gegnern der Satteltaschenbücherei gehört ausgerechnet ihr Schwiegervater, der mit im ehelichen Haushalt mit den papierdünnen Wänden lebt.

Ein wunderbar flott zu lesender Schmöker, der sehr gut unterhält. Ich hatte noch kein Buch der Autorin gelesen und hatte mir dieses gekauft, weil mich die Geschichte der Horseback Librarians sehr interessiert hat, von denen ich schon gelesen hatte. Die Handlung des Roman vereint Liebesgeschichte und Gerichtsfall, Freundschaft und Hass, Dramatik und Witz, vor allem aber ganz viel Faktenwissen über das Satteltaschenbücherei-Programm. Moyes beschreibt die harten Bedingungen, unter denen hauptsächlich Frauen in die entlegensten Winkel geritten sind, um isoliert lebende Menschen mit Lesematerial zu versorgen. Die Freunde und Ablehnung über diesen neuen Service wird ebenso detailliert dargestellt, wie die Lebensbedingungen der armen Bevölkerung in den Bergen oder in den Kohleminen. Umweltzerstörung ist ein Thema, das ich in diesem Roman nicht erwartet hatte, es spielt aber auch eine wesentliche Rolle.

Wer im Internet unter Stichwörtern sucht, wird viele aussagekräftige historische Fotos finden, an denen sich auch die Autorin orientiert haben muss, um Details zu beschreiben: Mit Zeitung tapezierte Hütten, Bibliothekarinnen, die bettlägerigen Personen vorlesen, Kinder, die sich um eine Lesefibel scharren, reißende Flüsse und wackeligen Brücken, die überquert werden müssen.

Ich kann das Buch als Schmöker sehr empfehlen. Das Thema ist unglaublich bewegend und ich werde mich damit noch weiter beschäftigen.

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Veröffentlicht am 14.04.2023

Sprung ins Leben

Seemann vom Siebener
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Ein wunderschöner sonniger Tag in einer Kleinstadt mitten in Deutschland. Die Menschen strömen ins Freibad. Für einige wird es ein ganz besonderer Tag werden, ein Tag, der Entscheidungen, Abschiede und ...

Ein wunderschöner sonniger Tag in einer Kleinstadt mitten in Deutschland. Die Menschen strömen ins Freibad. Für einige wird es ein ganz besonderer Tag werden, ein Tag, der Entscheidungen, Abschiede und Wiederbegegnungen mit sich bringen wird. Wir plumpsen mitten rein in die Leben von Isobel, dessen Mann einst das Freibad gebaut hat und die nun fast jeden Tag dort ihre Bahnen zieht, von Bademeister Kiontke, der guten und schwer verletzten Seele des Bades. Wir begegnen der ehemaligen Fast-Professorin Joe, die eigentlich zu einer Beerdigung müsste; Renate, die mit Kreuzworträtseln bewaffnet im Kassenhäuschen sitzt; Lenny, dem Starfotograf, der nach drei Bahnen schon aus der Puste ist und dem Mädchen mit den kurzen Haaren, das auf den Sprungturm will.

Das Buch ist in drei Abschnitte eingeteilt. Zunächst begleiten wir alle auf dem Weg ins Freibad und verfolgen die Vorbereitungen vor dem Öffnen der Tore. Im nächsten Teil tummeln sich die Figuren zwischen Liegewiese, Schwimmbecken, Kiosk und Sprungturm. Der dritte Abschnitt lässt alle Fäden zusammenlaufen und entlässt die Charaktere in ein verändertes Leben.

Was für ein Tag! Trotz der Kürze (234 Seiten) hat Arno Frank ein großes Kaleidoskop von Menschen in einer Kleinstadt geschaffen. Zunächst bleibt einiges im Ungewissen, aber durch Rückblicke der einzelnen Figuren erfahren wir immer mehr und können Lücken selbst schließen. Mich hat die Geschichte, fokussiert auf einen Tag und einen Ort, fasziniert und begeistert. Trotz der traurigen Elemente und des Unglücks, das über allem schwebt, habe ich das Buch wahnsinnig gerne gelesen und wäre den Charakteren gerne noch weiter gefolgt. Renate in ihrer Kratzbürstigkeit ist ebenso eine Freude, wie Kiontke - für mich der heimliche Star des Romans -, der so behäbig daherkommt und schließlich überraschend mit absoluter Kompetenz überzeugt. Alle Figuren sind liebevoll erdacht und gestaltet, mit spannenden Lebensgeschichten und Schicksalen, mit Witz und Tragik; Figuren, für die der Autor jeweils eine eigene Sprache gefunden hat.

Genau das richtige Buch für die wärmer werdenden Tage, mit einem ganz großartig gelungenen Cover versehen.

Lesen, eintauchen und auf dem Grund des Springerbeckens sitzen bleiben.

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Veröffentlicht am 12.04.2023

Der zweite Verfassungszusatz

Unschuld
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Caspar Rosendale war 16 Jahre alt, als er erschossen wurde. Der Täter, Florentin Carver, soll in 35 Tagen hingerichtet werden. Seine Tochter Molly hat nie an die Schuld ihres Vaters geglaubt und erhält ...

Caspar Rosendale war 16 Jahre alt, als er erschossen wurde. Der Täter, Florentin Carver, soll in 35 Tagen hingerichtet werden. Seine Tochter Molly hat nie an die Schuld ihres Vaters geglaubt und erhält über eine Redakteurin, bei der sie putzt, eine ungeahnte Chance, diese Unschuld zu beweisen. Molly kann als Haushaltshilfe unter falschem Namen bei den Rosendails arbeiten. Natürlich soll für die Redakteurin ein reißerischer Artikel dabei herausspringen. Molly läßt sich darauf ein und hofft auf entlastende Beweise.

Die Handlung klingt ebenfalls sehr reißerisch, aber Takes Würger hat gerade keinen klassischen Gerichtsthriller geschrieben. Hier wird eine Gesellschaftsstudie betrieben. Alle Charaktere werden ausgeleuchtet, die Carvers, die am unteren Ende der sozialen Leiter stehen und die unfassbar reichen und privilegierten Rosendales. Vor allem im Verhältnis zwischen den Vätern und Kindern sind die Unterschiede in den beiden Familien eklatant. Beide Mütter kommen nicht besonders gut weg und glänzen durch physische oder psychische Abwesenheit. Da Molly bei ihrem Onkel aufwächst, nachdem ihr Vater ins Gefängnis kommt, ist sie umringt von männlichen Bezugspersonen. Mir hat die Schilderung von Mollys Kindheit bei aller Traurigkeit sehr gut gefallen, ebenso wie ihr aktuelles Leben als 23-Jährige in der Kellerwohnung ihres Onkels. Geprägt auch von ihrem Stottern, ist sie nicht nur bei Wörtern gezwungen, sich Umwege zu suchen. Sie kann nicht sie selbst sein, sie versteckt sich nicht nur im Keller und als nächtliche Putzkraft, sie versteckt sich z.B. auch hinter ihrer Kleidung und möglicherweise auch hinter ihren Tatoos.

Es geht neben den verflochtenen Familiengeschichten auch um das Waffenrecht in den USA. Bei den Rosendales wird dies auf die Spitze getrieben, sicherlich kein Einzelfall, aber für Nicht-US-Amerikaner*innen schon sehr bizarr in den Ausmaßen. Dies führt nochmal bildlich vor Augen, was man sonst nur als immer wiederkehrende Debatte bei Präsidentschaftswahlkämpfen hört.

Die Geschichte beginnt mit einer nur kleinen Einleitung in die Handlung und schreitet dann rasch in eher sachlichem Ton und mit kurzen Sätzen voran. Wir schauen nicht nur Molly über die Schulter, sondern in Rückblenden auch Caspar. So findet ein zweifacher Countdown statt, einmal bis zur Hinrichtung und einmal bis zum Tod von Caspar. Das Buch hat 293 Seiten mit einem üppigen Zeilenabstand, was für ein zügiges Lesen sorgt. Auf einmal ist die Geschichte zu Ende und ich habe überlegt, ob ich sie nicht lieber etwas ausführlicher gehabt hätte, an der einen oder anderen Stelle. Aber der Autor hat alles gesagt und das geht manchmal auch etwas verkürzt. Mir hat der Roman (bei einiger Vorhersehbarkeit) sehr gut gefallen und ich habe noch lange über die Charaktere und ihre Geschichte nachgedacht.

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Veröffentlicht am 31.03.2023

Die Emanzipation einer Autorin

Mrs Agatha Christie
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Nachdem ich das Buch von Nina de Gramont über das elf Tage dauernde Verschwinden von Agatha Christie im Jahre 1926 gelesen hatte, interessierte mich natürlich auch, was Marie Benedict aus diesem Mysterium ...

Nachdem ich das Buch von Nina de Gramont über das elf Tage dauernde Verschwinden von Agatha Christie im Jahre 1926 gelesen hatte, interessierte mich natürlich auch, was Marie Benedict aus diesem Mysterium gemacht hat.

Mir hat diese unspektakulärere Version von Benedict tatsächlich besser gefallen. Hier steht die Krimiautorin im Mittelpunkt, anders als bei de Gramont, wo es hauptsächlich um die Geliebte von Archibald Christie geht, die auch als Ich-Erzählerin fungiert. Marie Benedict, die bereits einigen anderen historischen Frauen einen Roman gewidmet hat, gewährt einen Einblick in das Leben von Agatha Christie, die ihre vorherbestimmte Bahn verlässt, als sie Archibald Christie kennenlernt. Sie verliebt sich Hals über Kopf und löst die Verlobung mit einem jungen Mann, den sie schon seit ihrer Kindheit kennt. Die stürmischen Anfänge der großen Liebe werden durch den 1. Weltkrieg getrübt und Archibald kehrt als ein anderer zurück. Benedict beschreibt eindrucksvoll und nachvollziehbar, wie Agatha alles versucht, um ihrem (wehleidigen und undankbaren) Gatten das Leben so angenehm wie möglich zu machen, bis zur Selbstaufgabe. Als er von ihr die Scheidung verlangt, bricht für sie eine Welt zusammen.

Die Geschichte wird auf zwei Zeitebenen erzählt. In der Gegenwart von 1926 sieht sich Archibald den immer drängenderen Verdächtigungen der Polizei und der Öffentlichkeit ausgesetzt. In der Vergangenheit verfolgen wir das Leben von Agatha bis zu ihrem Verschwinden: Ihre behütete Kindheit, die Geldsorgen als der Vater stirbt, ihre Tätigkeit als Krankenschwester und Apothekenhelferin während des Krieges und ihre ersten Erfolge als Krimiautorin. Die "Auflösung", die sich Benedict überlegt hat, hat mir sehr gut gefallen und sie korrespondiert mit dem Bild, das ich mir von der Autorin gemacht habe, denn Christie-Krimis und ihre Autobiografie habe ich schon als Jugendliche gelesen.

Insgesamt ein flottes Lesevergnügen, bei dem Archibald Christie nicht besonders gut wegkommt und die Stellung der Ehefrauen zur damaligen Zeit auch nicht.

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