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Veröffentlicht am 01.11.2022

Ein Amerikaner in Paris

Giovannis Zimmer
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Der Amerikaner David lebt mehr schlecht als recht im Paris der 50er Jahre. Er läßt sich treiben, zieht durch die Bars und Cafés. Seine Freundin ist nach Spanien gereist, um über seinen Heiratsantrag nachzudenken. ...

Der Amerikaner David lebt mehr schlecht als recht im Paris der 50er Jahre. Er läßt sich treiben, zieht durch die Bars und Cafés. Seine Freundin ist nach Spanien gereist, um über seinen Heiratsantrag nachzudenken. In ihrer Abwesenheit begegnet David dem Italiener Giovanni und hat nun nicht mehr die Kraft, sich abzuwenden, die Anziehungskraft ist zu groß. Bereits bei dieser ersten Begegnung wird David prophezeit, wie diese Beziehung enden wird: "Du wirst sehr unglücklich werden. Denk an meine Worte." (S. 50)

Bald schon zieht der Amerikaner wegen Geldmangels in das titelgebende kleine Zimmer Giovannis, dessen heruntergekommener Zustand für David sein eigenes Ich widerspiegelt. Die Liebe, die er für Giovanni empfindet, läßt ihn diesen gleichzeitig hassen. Er macht Giovanni für seine eigene empfundene Scham und Panik verantwortlich. Schließlich will er dem Zimmer nur noch entkommen.

Auch wenn die Zeit, die David und Giovanni in dem Zimmer verbringen, gar nicht lang ist, steht es doch im Zentrum des Romans. Rein äußerlich dadurch, dass seine Beschreibung genau in die Mitte des Textes fällt. Die Wände rücken für David mit der Zeit immer enger zusammen und scheinen ihn zu erdrücken. Giovanni schlägt eine Wand auf, um ein Bücherregal einzubauen. Eine schöne Metapher, für den Versuch, die Enge des Zimmers für David zu weiten.

Baldwins Buch besticht u.a. durch die Darstellung der Pariser Szene der 1950er Jahre, in der sich die beiden Protagonisten bewegen. Schonungslos schreibt er, der Schwarze Autor, über weiße "alte Tunten" und junge Männer, die sich diesen oft angeekelt mehr oder weniger an den Hals werfen und so zu überleben versuchen. Wie viel Geld können sie diesen abpressen, bevor es die Jungen nicht mehr aushalten?

Die Geschichte wird aus der Perspektive von David erzählt und enthält daher viele Gedanken und Selbstgespräche über dessen Situation. Die Zerrissenheit macht Baldwin ganz deutlich: David schämt sich für sein Begehren, sein Schwulsein und hat Angst, dadurch in die Szene abzurutschen, die er eigentlich verachtet; darum will er aus dem Zimmer fliehen und Giovanni zurücklassen. Mit ihm ist kein amerikanisches Standardleben möglich.

Das Buch ist sehr eindrücklich und es hat mir gut gefallen. Es läßt einen aber auch betroffen zurück, mit einem Gefühl, dass hier jemand verraten, ja geradezu geopfert wurde, weil er nicht in die Gesellschaftsordnung passt. Ich habe den Roman vor allem gelesen, weil in "Im Wasser sind wir schwerelos" darauf Bezug genommen wird. Das Buch von Tomasz Jedrowski habe ich dann anschließend gelesen und das war eine gute Wahl.

Interessante Einblicke in das Leben des Autors James Baldwin und Parallelen zum Roman, der seinerzeit vom amerikanischen Verlag abgelehnt wurde, finden sich im Nachwort von Sasha Marianna Salzmann.

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Veröffentlicht am 01.11.2022

Die Geheimnisse von Tall Oaks

Was auf das Ende folgt
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Ein kleines Kind verschwindet spurlos in einer überschaubaren kalifornischen Kleinstadt. Wie schon in seinem zuerst in Deutschland veröffentlichten Roman "Von hier bis zum Anfang" stehen auch in Whitakers ...

Ein kleines Kind verschwindet spurlos in einer überschaubaren kalifornischen Kleinstadt. Wie schon in seinem zuerst in Deutschland veröffentlichten Roman "Von hier bis zum Anfang" stehen auch in Whitakers Debüt ein Ort und seine Bewohner, ihre langjährigen Beziehungen sowie Lügen und Geheimnisse neben einem Kriminalfall im Mittelpunkt. In "Tall Oaks" (so auch der Originaltitel) scheint mit dem Vermisstenfall das Böse Einzug gehalten zu haben. Allerdings beschleicht einen bei der Lektüre langsam die Erkenntnis, dass es zumindest teilweise schon längst da war.

Kapitel für Kapitel lernen wir die Einwohner des Städtchens durch Alltagssituationen kennen, erfahren von ihren Nöten, Ängsten und Sorgen. Jim, der Polizeichef vor Ort, gibt auch nach Monaten die Suche nach dem verschwundenen Harry nicht auf und versucht Jess, die Mutter des Kleinen, zu trösten. Derweil brauen sich an verschiedenen Fronten Unwetter zusammen und es kommen immer mehr Verdächtigte zum Vorschein.

Zu Beginn hatte ich etwas Probleme in die Handlung zu finden, da wirklich viele Personen eingeführt werden. Die unterschiedlichen Charaktere haben mir aber gefallen, mein Favorit ist Gangster-Manny. Auch die Figuren von Jerry und Jared sind toll gelungen, andere fallen dagegen etwas ab. Besonders Jim ist mir nicht so nahe gekommen, wie Polizeichef Walk aus "Von hier bis zum Anfang". Manny ist zwar sympathisch, aber er vermag nicht so zu beeindrucken, wie die kleine Duchess aus "Von hier bis zum Anfang". Es fehlt hier für mich die zentrale Figur, die den Leser bedingungslos in die Geschichte hineinzieht. Die Handlung wirkt durch die vielen Charaktere und Nebenschauplätze auch etwas zerfasert. Allerdings bietet dies auch ein ordentliches Sammelsurium an bedenklichen Figuren.

Der Roman ist wirklich gut geschrieben, man kann den einzelnen Handlungssträngen - abgesehen von den zunächst verwirrend vielen Personen - gut folgen. Die Dialoge sind glaubwürdig und in den Szenen mit Manny wirklich witzig. Insgesamt hat mich das Buch gut unterhalten, es ist nicht so ausgefeilt wie die vorherige Veröffentlichung des Autors, aber für mich hat es dennoch knapp fünf Sterne verdient. Es gibt einige Wendungen und Überraschungen.

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Veröffentlicht am 21.10.2022

Als das Land unterging

Sturmflut
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Die Sturmflut, die 1962 an der Nordseeküste, vor allem aber in Hamburg wütete, forderte 340 Tote. Bereits Jahre zuvor gab es eine wesentlich verheerendere Flutkatastrophe, die in den Niederlanden ganze ...

Die Sturmflut, die 1962 an der Nordseeküste, vor allem aber in Hamburg wütete, forderte 340 Tote. Bereits Jahre zuvor gab es eine wesentlich verheerendere Flutkatastrophe, die in den Niederlanden ganze Landstriche überspülte und 1.853 Menschenleben forderte. Diese Sturmflut von 1953 beschreibt Margriet de Moor exemplarisch am Schicksal zweier Schwester.

Weil die jüngere Armanda ihrer verheirateten Schwester Lidy vorschlägt, statt ihrer das Patenkind auf Schouwen Duiveland zu besuchen, wird Lidy ihren Mann und ihre kleine Tochter Nadja nicht mehr wiedersehen. Dies verrät die Autorin bereits nach neuen Seiten. Was nun folgt, sind zwei Erzählstränge, die den Weg der Schwestern weiterverfolgen. Die erzählte Zeit weicht dabei stark von einander ab. Während die Zeit bei Armanda rasch vergeht, ihr Leben wird über mehrere Jahrzehnte episodenhaft erzählt, konzentrieren sich die Passagen um Lidy ausschließlich auf die wenigen Tage von der Abfahrt bis zu ihrem Verschwinden. Mit Lidy erfahren die Leser, wie die Bevölkerung, die Verantwortlichen im kleinen und im großen mit der Flutkatastrophe umgegangen sind. Wie die ungewöhnliche Wetterlage die Sturmflut möglich machte, wie die Deiche brachen und durch die Wucht des Wasser in Sekundenschnelle ganze Dörfer verschwanden. Armanda hingegen lebt weiter, kann ihre Schwester jedoch nicht vergessen und bleibt innerlich traumatisiert: "Viel zu viel von dir hat sich in mir angehäuft, Lidy. Deinetwegen konnte ich nie die sein, die ich war." (S. 314)

Ehrlicherweise haben mir die Passen mit Armanda weniger gut gefallen. Sie wirkten beim Lesen wenig geschmeidig oder dynamisch, eher sperrig und beiläufig. Teile ließen mich ratlos zurück, so der lange Brief von Nadja. Die Sprache von de Moor passte sehr gut zu den Kapiteln von Lidy, die wirklich spannend waren, obwohl der Ausgang bereits bekannt war. Die Dramatik der Handlung wurde wunderbar und dennoch ruhig eingefangen, die Gedanken Lidys, die Naturgewalt, das Ausgeliefertsein und die immer kleiner werdenden "Inseln", die die junge Frau buchstäblich über Wasser halten.

Insgesamt läßt mich das Buch zwiegespalten zurück. Es informiert sehr gut über die Zusammenhänge und stellt das Trauma der Hinterbliebenen dem furchtbaren Erleben der Opfer gegenüber. Ein reines Lesevergnügen war es allerdings nicht.

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Veröffentlicht am 13.10.2022

Wenn das Leben in die Schieflage gerät

Die Ewigkeit ist ein guter Ort
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Elke verliert den Halt. Von jetzt auf gleich kann die junge Theologin aus Köln nicht mehr beten, weder laut noch leise. Die Worte wollen einfach nicht aus dem Mund, selbst das Vaterunser geht nicht mehr ...

Elke verliert den Halt. Von jetzt auf gleich kann die junge Theologin aus Köln nicht mehr beten, weder laut noch leise. Die Worte wollen einfach nicht aus dem Mund, selbst das Vaterunser geht nicht mehr über ihre Lippen. Elkes Umwelt reagiert mit Unverständnis. Sie soll doch die Pastorenstelle ihres Vaters übernehmen, in einem kleinen Ort in Norddeutschland. Aber will sie das wirklich? Ihr Leben gerät buchstäblich aus den Fugen, mit einer toten Maus, einem Papagei namens Gertrude, einer Gruppe von Steilwandfahrern und einer Leerstelle in ihrem Leben.

Der Roman hat mir gut gefallen. Eine ungewöhnliche Geschichte, an der mich nur der allzu verständnisvolle und perfekte Jan etwas gestört hat. Die Autorin hat mit der Schieflage von Elke und der väterlichen Kirche ein schönes Bild gefunden. Wenn das Fundament nicht fest ist, wackelt es oben. Es geht um ein unverarbeitetes Ereignis, das sich durch die Sprachlosigkeit einen Weg an die Oberfläche sucht.

Die Geschichte ist leicht geschrieben, läßt sich flott lesen, regt aber dennoch zum Nachdenken an. Es handelt sich keinesfalls um eine Art Bekehrungsschrift, sondern um die teils amüsante, teils traurige Sinnsuche der Protagonistin, aus der jede/r etwas für sich selbst mitnehmen kann.

"Ich weiß noch nicht, wie es um mein Fundament bestellt ist. Aber ich möchte mein Leben gerne im Licht dieser Ewigkeit sehen. Die Ewigkeit ist ein guter Ort." (S.295)


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Veröffentlicht am 13.10.2022

Medizinstudent zwischen Kosaken und Husaren

Der Wintersoldat
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Gegen den Willen seiner wohlhabenden polnischstämmigen Familie beginnt Lucius ein Medizinstudium in seiner Heimatstadt Wien. Als 1914 der erste Weltkrieg ausbricht, sieht Lucius seine Chance, dem ungeliebten ...

Gegen den Willen seiner wohlhabenden polnischstämmigen Familie beginnt Lucius ein Medizinstudium in seiner Heimatstadt Wien. Als 1914 der erste Weltkrieg ausbricht, sieht Lucius seine Chance, dem ungeliebten theoretischen Studium zu entkommen und endlich praktische Arbeit leisten zu können. Als er nach einigen Umwegen sein Ziel in Galizien, dem östlichen Teil des österreichisch-ungarischen Kaiserreichs, erreicht, sieht er sich mit einem Behelfslazarett in einer Kirche konfrontiert und er, der die Medizin lediglich aus Büchern kennengelernt hat, ist der einzige Arzt. Läuse, verantwortlich für Typhusepidemien, Ratten, und Amputationen, die durch Wundinfektionen nötig werden sowie psychische Leiden bestimmen fortan sein Leben als Mediziner. Durch die praktische Hilfe der erfahrenen Schwester Margarete gelingt es Lucius bald, eine Art Routine zu entwicklen. Besonders die erfolgreiche Behandlung eines Patienten mit Nervenleiden bringt Lucius Auftrieb, bis ein Rekrutierungskommando nach wieder wehrfähigen Soldaten sucht. Lucius trifft eine folgenschwere Entscheidung. In einer nebeligen Nacht verliert er zudem Margarete aus den Augen und in Galizien steht die Brussilow-Offensive bevor.

Daniel Mason hat einen unglaublich eindrucksvollen Roman über die Schrecken des Krieges geschrieben. Schonungslos werden die desolaten Zustände an der Front beschrieben, der grausame Umgang mit dem "Kriegsmaterial" Mensch, die unzureichende Ausrüstung der Soldaten, der fehlende Nachschub an medizinischer Ausstattung, die Planlosigkeit der militärischen Aktionen und vor allem die Sinnlosigkeit des Kriegs. Der Autor versteht es geschickt, bereits während der geschilderten Studienzeit in Wien die nicht mehr zeitgemäße, wirklichkeitsferne und in Selbstherrlichkeit versunkene Obrigkeit darzustellen; bestes Beispiel ist Professor Zimmer.

Wie Lucius buchstäblich in den Krieg stolpert und wie die Hässlichkeit des Krieges ihn in vielen kleinen Episoden durch die Jahre begleitet, ist wirklich gut geschrieben und lesenswert. Man sollte allerdings nicht zu zart besaitet sein, denn die Behandlung von verwundeten Soldaten nimmt einen nicht unerheblichen Raum ein. Es gibt aber auch viele feinfühlige Kontrastszenen, in denen die Landschaft oder die zarte Beziehung zwischen Lucius und Margarete im Zentrum stehen. Die Abgeschlossenheit des kleinen Ortes in den Karpaten und die kleine Gruppe von Menschen, die sich um die Verletzten bemüht, sind einerseits repräsentative Figuren, andererseits haben sie aber auch ganz besondere Biographien erhalten. Die Örtlichkeit, die Figur des unerfahrenen Lucius und die beherrschenden Themen Krankheit und Tod haben mich ein klein wenig an Manns "Zauberberg" erinnert. Zeitlich überschneiden sich die Romane, wo der "Zauberberg" endet, beginnt der "Wintersoldat", nämlich mit dem 1. Weltkrieg und dem Zerfall der alten Ordnung.

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