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Veröffentlicht am 22.03.2024

Von der ARAL-Tankstelle und Drachen

HERKUNFT
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Was für ein wunderbares Buch! Der Autor schreibt über seine Heimat, seine Herkunft und seine Familie: Das ist Jugoslawien vor und nach dem Krieg. Das ist Heidelberg und die ARAL-Tankstelle. Das ist das ...

Was für ein wunderbares Buch! Der Autor schreibt über seine Heimat, seine Herkunft und seine Familie: Das ist Jugoslawien vor und nach dem Krieg. Das ist Heidelberg und die ARAL-Tankstelle. Das ist das Dorf der Großmutter in den Bergen und das Fantasiespiel mit Freunden.

In nicht allzu strenger Chronologie begleiten wir Ich-Erzähler Saša aus seiner behüteten Kindheit in Jugoslawien heraus nach Deutschland. Der Zufall will es: nach Heidelberg. Hier ist er an seiner Schule ein Flüchtling unter vielen. Er, der die Sprache erst lernen muss, macht Abitur, studiert und schreibt. Von klein an fabuliert er und liebt es Geschichten zu schreiben. Daher ist auch dieser Roman eine Geschichte, bei der man nicht genau weiß, was erlebt und was erfunden wurde. Immer wieder zieht es ihn in die alte Heimat zur Großmutter, die einen großen Teil des Romans ausmacht. Um sie kreist alles. Als ihre Demenz fortschreitet und ihre Erinnerungen verblassen, beginnt der Enkel Erinnerungen zu sammeln.

Herausgekommen ist ein ganz ungewöhnlicher Roman, der sich mit dem Zufall der Herkunft auseinandersetzt. Ein liebevoller Roman über eine weit verstreute Familie, voll mit Geschichten, Anekdoten und Fantasien. Es macht so viel Spaß dieses Buch zu lesen. Es ist wunderbar witzig, geistreich und kurzweilig. So viele Sätze, die ich mir markiert habe und so vieles über das man nachdenken muss. Dazu eine Schlusspassage, die nochmal völlig überrascht. Eine ganz große Leseempfehlung. Ausgezeichnet mit dem Deutschen Buchpreis 2019.

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Veröffentlicht am 25.02.2024

Mein Bruder Richard Löwenherz

Löwenherz
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Im dritten Roman über ihre Familie schreibt die Autorin Monika Helfer über ihren sechs Jahre jüngeren Bruder Richard, den Liebling des Vaters, von diesem Richard Löwenherz genannt. Eine Rachitis in der ...

Im dritten Roman über ihre Familie schreibt die Autorin Monika Helfer über ihren sechs Jahre jüngeren Bruder Richard, den Liebling des Vaters, von diesem Richard Löwenherz genannt. Eine Rachitis in der Kindheit hinterläßt ihm einen ganz besonderen Gang, kantig und asymmetrisch. Und obwohl er auch so wirkt, irgendwie nicht der Norm entsprechend, scheint er auf "leichte" Weise durch das Leben zu treiben, wenn auch eher passiv. "Er tue so gut wie gar nichts aus Überzeugung. Aber nicht aus Überzeugung tue er nichts aus Überzeugung, es sei einfach so." (S.89) Oder kurz danach auf Seite 92: "Wenn es einen Mann ohne Eigenschaften gebe, dann sei Richard der Mann ohne Antrieb gewesen."

Weil die Mutter früh stirbt und der Vater nicht in der Lage ist, sich um die Kinder zu kümmern, wachsen sie bei Verwandten auf. Richard ist fünf als er getrennt von den Schwestern zu Tante Irma gebracht wird. Immer wieder blitzt im Roman auf, dass die Autorin ihren Bruder nicht so gut gekannt hat, wie sie sich dies gewünscht hätte. Während des Schreibprozesses bespricht sie sich mit ihrem Mann, der viel Zeit mit Richard verbracht hat und dieser stellt Aussagen seiner Frau in Frage oder korrigiert sie. Diese Gespräche werden Teil des Romans und Teil des Erinnerns an den Bruder.

Auch wenn vielleicht nicht alles so geschehen ist, so gesagt oder gemeint wurde, wie es die Autorin hier wiedergibt, denn manches hat sie fiktional ergänzt, spürt man die Zuneigung zu ihrem Bruder in jeder Zeile. Monika Helfer beschreibt ein Leben, dem besondere Geschenke gemacht wurde, dem aber letztlich um so mehr wieder genommen wurde. Der Sprachstil, dieses offene Nachdenken über das, was gerade geschrieben wird, gefällt mir sehr. Die Erinnerungen der Autorin haben mich bereits in "Die Bagage" sehr bewegt und mit diesem Roman ist es mir nicht anders ergangen.

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Veröffentlicht am 24.02.2024

Zwischen Tageszeitungen und Zigarren

Der Trafikant
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Franz Huchel lebt mit seiner Mutter im Salzkammergut. Als sich die wirtschaftlichen Verhältnisse verschlechtern, schickt die Mutter ihn nach Wien zu Otto Trsnjek, der eine Trafik betreibt, einen kleinen ...

Franz Huchel lebt mit seiner Mutter im Salzkammergut. Als sich die wirtschaftlichen Verhältnisse verschlechtern, schickt die Mutter ihn nach Wien zu Otto Trsnjek, der eine Trafik betreibt, einen kleinen Tabak- und Zeitungsladen. Dort wird der 17-Jährige zum Lehrling und eignet sich schnell an, was er für die Stammkundschaft wissen muss: Was in welcher Zeitung steht und die jeweiligen Vorzüge der verschiedenen Tabaksorten. Er begegnet Professor Freud und verliebt sich in ein undurchsichtiges Mädchen, das ihn nach der ersten Begegnung sitzen lässt. Seine verwirrenden Gefühle versucht er mit Hilfe des Arztes und Psychologen Freud zu ordnen. Was sich im Hintergrund anbahnte, bricht nun brutal in die kleine Idylle der Trafik ein: Im März 1938 marschieren deutsche Wehrmachtstruppen in Österreich ein.

Ein sehr berührendes Buch über einen Jungen vom Land, der in der Großstadt seine Unschuld verliert - auf unterschiedliche Weise. "Und plötzlich wurde ihm bewusst, dass es diesen Buden nicht mehr gab. Weg war der." (S. 236) In diesem Roman wird viel gesprochen und geschrieben. Franzl diskutiert mit seinem Chef und mit Freud, schreibt der Mutter und erhält Antworten von ihr. Das war mir stellenweise etwas zu viel "Theorie", dennoch ist der Roman nicht dialoglastig. Die Handlung schreitet voran und entlarvt dabei immer mehr, dass weite Teile der Bevölkerung den "Anschluss" befürworteten und den unverhohlenen Terror, der sich auf den Straßen breit macht. Die kleine Trafik und ihr Trafikant stehen zunächst für einen Ort, der Weltoffenheit repräsentiert, mit den verschiedenen Tageszeitungen, Meinungen und dem so unterschiedlichen Publikum; später zentriertes es sich symbolisch auf ein kleines Bollwerk. Gab es zwischendrin kleine zähe Stellen, hat mich das Ende wieder komplett versöhnt.

Die Sprache von Seethaler lässt einen durch die Seiten gleiten und unversehens ist die eindringliche Geschichte nach 250 Seiten zu Ende. Ein Roman, den ich sehr empfehlen kann.

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Veröffentlicht am 13.02.2024

Die perfekte Nanny

Dann schlaf auch du
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Wer träumt nicht davon, dass die perfekte Nanny sich nicht nur liebevoll um die Kinder kümmert, sondern auch noch kocht und die Wohnung tipptopp in Schuss hält. Mit Louise glauben Myriam und Paul einen ...

Wer träumt nicht davon, dass die perfekte Nanny sich nicht nur liebevoll um die Kinder kümmert, sondern auch noch kocht und die Wohnung tipptopp in Schuss hält. Mit Louise glauben Myriam und Paul einen Sechser im Lotto gewonnen zu haben. Die Nounou ist immer verfügbar und Myriam kann sich nach zwei Kindern endlich in ihren Beruf als Anwältin stürzen; sieht bereits eine Partnerschaft in der Kanzlei winken. Sie entwickelt neue Energie und ein neues Selbstbewusstsein, das ihr als "Nur-"Mutter völlig abhanden gekommen war. Nun können beide Elternteile voll durchstarten, denn die überaus verlässliche Louise hat alles im Griff. Auch Paul fühlt sich unabhängiger, freier und trifft wagemutigere Entscheidungen, die ihn in seinem Job voranbringen.

Bereits im ersten Satz des Romans erfährt man, was es für ein Ende mit dieser Konstellation nehmen wird. Mit diesem Wissen im Hinterkopf liest man das Buch fast atemlos und hofft irgendwie, dass es doch anders kommen wird.

Slimani läßt uns nicht nur in die Seele von Myriam schauen, die zwischen ihren Muttergefühlen und ihrem Wunsch nach Anerkennung und beruflichem Erfolg hin und her gerissen wird. Auch Louise lernen wir immer näher kennen, durchbrechen die glatte Oberfläche und die Mauern der Unsichtbarkeit, die sie um sich errichtet hat, und blicken in einen Abgrund.

Der Roman hat mich sehr bewegt und wirklich heftig durchgeschüttelt. Es sind bekannte Themen, die hier angesprochen werden, das Muttersein, die Zerrissenheit mit der man/frau zu kämpfen hat, die Erkenntnis, dass sich mit Kindern eben doch alles ändert und Eltern ständig jonglieren, um alle Bälle in der Luft zu halten. Wie Slimani diese Aspekte zusammenbringt, mit den Charakteren Myriam und Louise, ist großartig gelungen. Der Roman liest sich Dank des Schreibstils, der ganz eng bei den Figuren bleibt, sehr bildhaft und man meint, in der Pariser Wohnung selbst mit am Küchentisch zu sitzen.

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Veröffentlicht am 13.02.2024

Der David Copperfield des 21. Jahrhunderts

Demon Copperhead
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Was für ein Wurf! Hier erzählt Demon seine Lebensgeschichte und die hat es weiß Gott in sich. Die Handlung wird konsequent aus Demons Sicht erzählt, rückblickend, was einerseits bedeutet, dass er alles ...

Was für ein Wurf! Hier erzählt Demon seine Lebensgeschichte und die hat es weiß Gott in sich. Die Handlung wird konsequent aus Demons Sicht erzählt, rückblickend, was einerseits bedeutet, dass er alles mit seinen kindlichen Augen sieht, andererseits natürlich als nun Erwachsener auch kommentieren kann. Die Geschichte des Waisenjungen, dem das Schicksal übel mitspielt, bleibt so dicht an Dickens Vorlage, dass es fast unglaublich erscheint, dass es dennoch eine so eindrucksvolle, intensive, eigene Geschichte ist - eingebunden in das 21. Jahrhundert im ländlichen Virginia mit allem Elend, das man sich vorstellen kann. Nicht nur zahlreiche Charaktere sind nahezu identisch angelegt, die Namen, Beziehungen, selbst kleinste Ereignisse werden "übernommen". Die Autorin spielt mit ihrer Vorlage, dass es eine Freude ist. Dass beide Romane 64 Kapitel haben, ist da nur das Tüpfelchen auf i. Die Adaption funktioniert so unglaublich gut, ich bin noch ganz hin und weg von diesem Roman. Als neuen Aspekt hat die Autorin die Opioidkrise (seit 1999), die in den USA besonders durch das Schmerzmittel Oxycontin ausgelöst wurde, hinzugenommen. Was da passiert ist, ist im wahrsten Sinne des Wortes unglaublich. Das Ergebnis läßt sich so zusammenfassen: "Eine ganze Generation von Kindern wuchs ohne Familie auf." (S. 809) Ganz entscheidend wirkt sich diese Krise auch auf die Handlung des Romans und das Schicksal von Demon und seinen Weggefährten aus. Der Autorin war es ein Anliegen, für ihre Heimatregion eine Lanze zu brechen, deren Einwohner*innen als Hillbillies verschrien sind. Was die Opioidkrise gerade in diesem Landstrich angerichtet hat, ist schlicht furchtbar.

Der Roman liest sich ganz wunderbar. Die Stimme des Ich-Erzählers Demon ist witzig, ironisch, schlagfertig, originell und aufgeweckt. Wer David Copperfield kennt, wird begeistert sein und die, die das Buch von 1849/50 bisher nicht gelesen haben, werden es ebenso sein. Eine erschütternde (soziale Missstände, Pflegeelternsystem, Kinderarbeit, Drogen) und gleichzeitig auf humorvolle Weise unterhaltende Lektüre, die mich mit einem Aspekt in der US-Gesellschaft, nämlich der Opioid-Krise, vertraut gemacht hat, die ich bisher so nicht wahrgenommen hatte.

Sehr zu empfehlen ist nicht nur dieser großartige mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnete Roman, sondern auch die Serie "Painkiller" auf Netflix, die sich genau mit dieser Krise und dem Mittel Oxycontin beschäftigt.

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