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Veröffentlicht am 30.09.2023

Ein Leben in Episoden

Vom Aufstehen
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Wie Helga Schubert episodenhaft über ihr Leben schreibt, hat mich sehr bewegt und beeindruckt. Besonders das schwierige Verhältnis zu ihrer extravaganten Mutter hat mich geschmerzt; der Umgang mit ihrem ...

Wie Helga Schubert episodenhaft über ihr Leben schreibt, hat mich sehr bewegt und beeindruckt. Besonders das schwierige Verhältnis zu ihrer extravaganten Mutter hat mich geschmerzt; der Umgang mit ihrem kranken Ehemann angerührt.

Helga Schubert hat viel erlebt in ihren über 80 Lebensjahren. Die Mutter ist mit ihr im Krieg aus Hinterpommern geflohen. Den Vater, im Krieg gefallen, hat sie nie kennengelernt. Die Sommerferien ihrer Kindheit und Jugend verbrachte sie bei der geliebten Oma väterlicherseits. Helga Schubert wird Psychologin in der DDR, Mutter, Autorin, heiratet zum zweiten Mal und darf mit über 50 das erste Mal frei wählen.

Die oft pointenhaften 29 Texte sind unterschiedlich lang, sie reichen von einer bis zu über 30 Seiten. Wehmut klingt in vielen Episoden an. Gedanken darüber, dass sich das Leben auf der Zielgeraden befindet. Das meiste ist schon gelebt, die verbliebenen Jahre wirken übersichtlich. In sie läßt sich kaum alles hineinstopfen, was noch erlebt und gesehen werden will. Das hat mich oft nachdenklich gestimmt.

Mir hat das Buch mit seinen intensiv geschilderten Erlebnissen, ruhig und unaufgeregt erzählt, sehr gut gefallen. Ich kann es nur wärmstens weiterempfehlen.

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Veröffentlicht am 26.09.2023

Ein Baum mit Orangen und Zitronen

Das Land der Anderen
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Dieser Baum, den Amine Belhaj auf seinem Hof in Marokko besitzt, steht für das komplizierte Geflecht seiner Familie. Nach dem Krieg hat er seine französische Braut aus dem Elsass mit in seine Heimat gebracht: ...

Dieser Baum, den Amine Belhaj auf seinem Hof in Marokko besitzt, steht für das komplizierte Geflecht seiner Familie. Nach dem Krieg hat er seine französische Braut aus dem Elsass mit in seine Heimat gebracht: Die selbstbewusste, blonde und einen Kopf größere Mathilde, die sich in das Abenteuer dieser Ehe stürzte, um alles das nachzuholen, was der Krieg an Entbehrungen gebracht hatte. Schnell muss sie aber erkennen, dass das Leben in Marokko alles andere als ein Abenteuer ist. Weder die Marokkaner noch die Franzosen heißen diese Ehe gut. Mathilde sieht sich einer von Männern dominierten Welt gegenüber, einem veränderten Ehemann, Schmutz und Elend. Als sich in Marokko nationalistische Gruppen für eine Unabhängigkeit einsetzen, kommt es zu Kämpfen, denen sich auch die Belhajs nicht entziehen können.

Was für ein wuchtiger und kraftvoller Roman. Wahnsinnig gut geschrieben, ich konnte ihn kaum aus der Hand legen. Die Autor schreibt sehr lebendig, bildhaft und eindrucksvoll, wie es der emanzipierten Französin Mathilde in der Heimat ihres Mannes ergeht. Sie reflektiert über das Tragen eines Schleiers ebenso wie über den Sinn ihres Daseins auf dem abgelegenen Hof und die eintönige Arbeit, die sie langsam zermürbt. Es werden so viele Facetten dieser Zeit und in diesem Land ausgeleuchtet, weil Leïla Slimani uns auch die Innenansichten von Amine, seinem politischen Bruder, seiner widerspenstigen Schwester und seiner kleinen hochintelligenten Tochter Aïcha nahebringt.

Der Roman hat mir wahnsinnig gut gefallen. Es ist der erste Teil einer Trilogie, die auf der Familiengeschichte der Autorin beruht.

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Veröffentlicht am 12.09.2023

Das Mammut im Moor

Als wir an Wunder glaubten
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Das Mammut, das im Unnenmoor in Ostfriesland sein Unwesen treibt, ist aus Stahl. Mit seinem riesigen Pflug wühlt es die Erde auf, um das Moor trockenzulegen. Es soll endlich vorangehen nach dem Krieg, ...

Das Mammut, das im Unnenmoor in Ostfriesland sein Unwesen treibt, ist aus Stahl. Mit seinem riesigen Pflug wühlt es die Erde auf, um das Moor trockenzulegen. Es soll endlich vorangehen nach dem Krieg, nach der Vertreibung, nach all der Unordnung und Ungewissheit, nach all dem Leid und Mangel. Edith, Annie und ihre Kinder haben die Höfe versorgt und warten auf die Rückkehr der Männer aus der Gefangenschaft. Ob doch noch jemand aus dem Zug steigt? Jahre nach Kriegsende? Als es bei einer Familie bergauf geht, die andere aber vom Pech verfolgt scheint, ist der Fortschritt auf einmal ganz weit weg. Was nicht mit rechten Dingen zugehen kann, ja, da muss doch einer nachgeholfen haben. Und so sind die alten Geschichten von den Hexen aus dem Moor plötzlich gar nicht mehr so alt.

Gekonnt fängt Helga Bürster die schweren Nachkriegsjahre auf dem Land ein. Dabei stehen die Daheimgebliebenen den Soldaten, Kriegsheimkehrern und ehemaligen Gefangenen in ihrem Leid kaum in etwas nach. In dieser Welt, in der alles auf den Kopf gestellt ist, die von Flüchtlingen und Vertriebenen aus dem Osten überrannt wird, breitet sich an vielen Stellen Missgunst und Neid aus. Auf diesem Nährboden gedeihen die Predigten von sogenannten Wunderheilern prächtig. Wohin dies im Extremfall führen kann, zeigt der Roman. Und konnte man sich zuletzt noch am Alten festhalten, am Land und den Häusern mit den tief heruntergezogenen Reetdächern, so macht der Fortschritt auch hiervor nicht halt.

Wunderbar sind die verschiedenen norddeutschen Charaktere dargestellt. Wortkarg und spröde, aber auch dickköpfig und mutig. Edith und Anni, die den Krieg gemeinsam überstanden haben, entwickeln sich in völlig verschiedene Richtungen. Ihre Schicksale stehen im Mittelpunkt des Romans, der aber ebenso von den anderen Figuren lebt. Den Kindern Betty und Willi, der alten Guste, dem Dorfwirt und dem Dorfreporter, der krummen Katie, die als Hausiererin über die Dörfer zieht, und Fritz, der weiß, wie man das Unglück wieder los wird, das einen am Wickel hat. Und immer wieder gibt es welche, die ihr Fähnlein nach dem Wind hängen und davonkommen.

Mir hat das Buch sehr gut gefallen, besonders auch wegen des Niederdeutschen an vielen Stellen. Will seggen: Mi hebbt ok de veel plattdüütsch Inschuven gefullen. Dat maakt jüst de Dialoge temlich glöövlich. Der Roman vermittelt Einblicke in eine dramatische Zeit und beleuchtet durch die unterschiedlichen Figuren viele Facetten dieser Nachkriegsjahre. Besonders spannend ist, dass hier (wieder einmal) historische Ereignisse als Grundlage dienen. Wer "Marschlande" mochte, wird auch diesen Roman lieben.

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Veröffentlicht am 12.09.2023

Ein Fühlen verändert ein Leben

Ich, Ellyn
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Ellyn lebt auf einer ärmlichen Farm irgendwo im England des Jahres 1573. Sie muss hart arbeiten, wird von ihrem älteren Bruder Tomas schikaniert und geschlagen. Die Mutter hat sich in ihr Schicksal ergeben, ...

Ellyn lebt auf einer ärmlichen Farm irgendwo im England des Jahres 1573. Sie muss hart arbeiten, wird von ihrem älteren Bruder Tomas schikaniert und geschlagen. Die Mutter hat sich in ihr Schicksal ergeben, ist hart geworden und verlangt das auch von ihrer etwa 10-jährigen Tochter. Ellyn jedoch zeigt große Liebe für ihre gerade geborene kleine Schwester Agnes. Der bettlägerige Vater ist kaum mehr als ein Babysitter für Agnes und hadert mit seinem Schicksal. Ellyns Lebensweg scheint unverrückbar vorgezeichnet, bis sie eines Tages - zum ersten Mal in ihrem Leben - in den nächsten Ort zum Markt geschickt wird, um mit ihrem Bruder ein Schaf zu verkaufen. Dort hört sie Gesang aus der Kirche und ist völlig gefangen von diesen neuen Tönen. Schlafwandlerisch kann sie das Gehörte wiedergeben, mit einer Stimme, die sofort Aufmerksamkeit erregt. Aber: Sie ist ein Mädchen und Singschulen sind nur für Jungen ...

Der Roman von Nell Leyshon überrascht, ja erscheckt geradezu durch den Sprachstil, beginnt man ihn zu lesen: Ohne Punkt und Komma, nur Kleinschreibung, verkürzte Sätze, Vulgärsprache etc. Alles wird aus der kindlichen Sicht von Ellyn beschrieben und diese kennt nur, was sie täglich sieht:

"er [Gott] hat auch diese ganze scheiße geschaffen in diesen sieben tagen stell dir vor du kannst machen was du willst und dann entscheidest du dich scheiße zu machen" (S. 28) Ellyn kann nicht machen was sie will. Sie kennt nichts außer dem heruntergekommenen Hof und ihrer Arbeit, aber sie hat dieses "fühlen" in sich - und sie hat eine kleine Schwester. Das gibt ihr genug Antrieb, um ihr Schicksal gegen alle Widerstände selbst in die Hand zu nehmen. Unmerklich, schleichend ändert sich mit Ellyns Leben auch ihre Sprache. Das finde ich großartig gemacht und der Übersetzerin Wibke Kuhn gebührt größte Anerkennung. Der Roman hat mich - trotz oder gerade wegen des Schreibstils - von Beginn an gefesselt. Ich wollte unbedingt wissen, wie es mit Ellyn weitergeht. Überrascht war ich von den vielen historischen Details, die die Autorin eingebaut hat. Wenn Ihr den Roman gelesen habt, recherchiert ein bisschen, da gibt es Großartiges im Internet zu entdecken. Ein ungewöhnlicher Roman in jeder Beziehung, den ich sehr empfehlen kann.

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Veröffentlicht am 21.08.2023

Roadtrip mit Alzheimer

Letzter Bus nach Coffeeville
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Nancy, Bob und Gene waren während ihrer Studienzeit 1961 Teilnehmer der Freedom Rides, um auf die Rassendiskriminierung in den USA aufmerksam zu machen, und außerdem beste Freunde. Jetzt sind alle im Rentenalter ...

Nancy, Bob und Gene waren während ihrer Studienzeit 1961 Teilnehmer der Freedom Rides, um auf die Rassendiskriminierung in den USA aufmerksam zu machen, und außerdem beste Freunde. Jetzt sind alle im Rentenalter und Nancy erinnert Gene an ein Versprechen, das er ihr vor über 40 Jahren - schweren Herzens - gegeben hat. In einem Bus mit Vergangenheit, gesteuert von Bob, sind die beiden, Genes Patensohn Jack und Zufallsfund Eric auf dem Weg nach Coffeeville in Mississippi. Ein turbulenter Roadtrip durch die (Geschichte der) USA.

Die Leser lernen die drei Protagonisten und ihre Begleiter kennen, wie eigene Verwandte und das macht einfach Spaß. Die Biografien, die sich Henderson ausgedacht hat, sind großartig. Sie und wir begegnen zudem Che Guevara, Castro, den Waltons, den Enten aus dem Peabody Hotel und diversen anderen Figuren, die den Roman auch zu einer kleinen historischen Reise machen. Die Rassendiskriminierung zieht sich als Thema durch den Roman, ebenso wie die Alzheimer-Erkrankung. Diese Busfahrt ist eine so gute Mischung aus traurigen, erschreckenden und sehr humorvollen Episoden. Die positive Stimmung behält die Oberhand und ich habe das Buch wahnsinnig gerne gelesen. Eine klare Leseempfehlung für alle, die z.B. auch Amor Towles Lincoln Highway geliebt haben.

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