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Veröffentlicht am 25.08.2022

Steigt mit ein!

Lincoln Highway
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Ein unglaublich schönes Buch hat Amor Towles hier vorgelegt, voller wunderbarer und skurriler Figuren, atmosphärischer Bilder und kluger Sätze.

Als sein Vater stirbt, wird der 18-jährige Emmett 1954 vorzeitig ...

Ein unglaublich schönes Buch hat Amor Towles hier vorgelegt, voller wunderbarer und skurriler Figuren, atmosphärischer Bilder und kluger Sätze.

Als sein Vater stirbt, wird der 18-jährige Emmett 1954 vorzeitig aus Salina entlassen, einer Jugendbesserungsanstalt in Kansas. Die elterliche Farm fällt an die Bank und Emmett und sein achtjähriger Bruder Billy wollen neu anfangen. Nur mit einem Rucksack und im 1948 Studebaker soll es nach Kalifornien gehen, denn dort will Billy unbedingt seine Mutter finden, die die Familie vor Jahren verließ und nur einige Postkarten geschickt hat. Diese Postkarten zeigen Orte entlang des legendären Lincoln Highway, der von New York nach San Francisco führt und 1912 erfunden wurde. Als jedoch zwei Kumpel bei Emmett auftauchen, die sich selbst aus Salina entlassen haben, gerät die Fahrt zu einer fulminanten Reise quer durch die USA. Immer dabei: Billys heiß geliebtes Handbuch von Professor Abernathie "Kompendium von Helden, Abenteurern und anderen unerschrockenen Reisenden" - das 25. Kapitel ist für Billys Abenteuer bestimmt.

Was für ein Roadtrip! Auf 575 Seiten sind wir hautnah dabei, wenn der Weg unserer Helden von den merkwürdigsten Gestalten und Begebenheiten gekreuzt wird. Immer wieder nimmt die Handlung eine unerwartete Wendung und man fragt sich, ob die Jungs überhaupt je ankommen werden.

Die Geschichte wird aus mehreren Perspektiven erzählt, das macht die Handlung besonders spannend und schnell und bietet zudem die Möglichkeit für einige Cliffhanger. Die Handlung ist so dicht und gleichzeitig federleicht erzählt und strotzt voller gehaltvoller Sätze, Weisheiten und Querverbindungen; oft genug durch den altklugen Billy zum Besten gegeben. Alle Charaktere sind mit unglaublicher Detailfreude dargestellt, nicht nur Emmett und Billy, auch Woolly und Duchess, die beiden Ausreißer. Um sie entfalten sich Geschichten, die jeweils für ein eigenes Buch gereicht hätten. Dem Autor gelingt es großartig für jede Figur eine eigene Sprache zu finden.

Ich bin voll auf begeistert von dieser Geschichte, die einen einsaugt, wenn man erstmal mit dem Lesen begonnen hat. Manchmal haftet ihr etwas Märchenhaftes an, aber das hat mir besonders gut gefallen. Sprachlich und inhaltlich hat mich der Roman total überzeugt und ich kann ihn nur aus vollem Herzen weiterempfehlen.


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Veröffentlicht am 09.08.2022

Spannendes Porträt einer Nicht-Ikone

Susan Sontag. Geist und Glamour
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Sie wollte weder das Label als feministische Autorin, das der lesbischen Schriftstellerin, noch das der Miss Camp und doch war sie auch all das. Daniel Schreiber zeichnet den Lebensweg von Susan Sontag ...

Sie wollte weder das Label als feministische Autorin, das der lesbischen Schriftstellerin, noch das der Miss Camp und doch war sie auch all das. Daniel Schreiber zeichnet den Lebensweg von Susan Sontag (1933-2004) nach, von der vaterlosen Kindheit bis zur Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels und ihrem Tod im darauf folgenden Jahr.

Von Susan Sontag wußte ich vor diesem Buch kaum etwas, das hat sich nun geändert. Schreiber hat das Leben und Werk der amerikanischen Intellektuellen in das jeweilige Umfeld aus Gesellschaft, Literatur, Kunst, Politik, Freundschaften etc. gekonnt eingebettet und die Beziehungen und Einflüsse auf Sontag und ihre Texte und auch ihre Einflüsse auf andere herausgearbeitet. Das liest sich sehr, sehr interessant und viele Arbeiten wären ohne den politischen und gesellschaftlichen Hintergrund nicht einzuordnen. Schreiber setzt Sontags Texte in Bezug zu anderen Autorinnen und Autoren, erläutert die Entstehungsgeschichten und fast die Texte auch zusammen. Ich gebe gerne zu, dass ich hier nicht immer alles verstanden habe. Es geht oft um Theorien, vor allem in ihren Essays. Dennoch hat man selbst bei den kompliziertestes Passagen zumindest eine Ahnung, um was es Sontag ging.

Schreiber schildert den teilweise problematischen Alltag, die schwierigen Partnerschaften, die ständigen Geldsorgen, die Versagensängste, die schwere Krankheit Sontags und ihre nicht enden wollende Umtriebigkeit, ihr großes Interesse für alles, was mit Kunst und Kultur zu tun hatte.

Herausgekommen ist das Porträt einer Frau, die von Ambivalenz geprägt war, die sich oft selbst inszenierte und sich einer eigenen Anspruchshaltung in Bezug auf ihr Schaffen gegenübersah, die sie häufig nicht erfüllen konnte. In Perioden großer Produktivität ersann sie so viele Projekte, dass häufig keines davon umgesetzt wurde. Ein schönes Zitat von Jeff Seroy, Publicity-Direktor ihres Verlages FSG, zeigt auf, wie radikal sie auch mit den Menschen in ihrer Umgebung umging: "Bei Susan saß man entweder auf dem Beifahrersitz, oder man war ein überfahrenes Tier am Straßenrand, aber auf dem Beifahrersitz war es eine großartige Erfahrung." (S. 250f.)

Insgesamt hat mich die Biografie wahnsinnig fasziniert und ich habe mit Schrecken festgestellt, wie viele Personen aus dem engeren und weiteren Umfeld von Sontag mir nichts gesagt haben. Das Buch ist voller Post-Its und ich werde noch weitere Bücher über und vor allem auch Texte von Sontag lesen. Als umfassende Einführung in Leben und Werk fand ich das Buch ideal.

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Veröffentlicht am 09.08.2022

Eine Jugend auf Sand gebaut

Das Leben vor uns
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Anja und Milka sind zwei Teenager, die Musik und Jungs im Kopf haben. Die aber auch über Politik und Literatur diskutieren und sich auf die Zukunft freuen, auf die Zeit, wenn sie endlich erwachsen sind. ...

Anja und Milka sind zwei Teenager, die Musik und Jungs im Kopf haben. Die aber auch über Politik und Literatur diskutieren und sich auf die Zukunft freuen, auf die Zeit, wenn sie endlich erwachsen sind. Aber sie werden in der Sowjetunion der 80er Jahre erwachsen; in einem Umfeld, das noch von der Revolution, dem Krieg, der Angst vor der Tyrannei von Lenin und Stalin und der allgegenwärtigen Mangelwirtschaft geprägt ist. In all diesem Chaos des eigenen Lebens und dem Chaos um sie herum, halten Anja und Milka zusammen. Sie verbringen herrliche Sommer in der Datscha der Eltern, feiern und treffen sich mit Jungs. Aber der Zusammenbruch der Sowjetunion geht auch an den Mädchen nicht spurlos vorüber.

Kristina Gorcheva-Newberry hat einen fulminanten Debütroman geschrieben. Eine Geschichte vom Erwachsenwerden hinter dem eisernen Vorhang. Voller kluger Sätze, voller Widersprüche und Zerrissenheit. Es wird ein Einblick in die "russische Seele" gegeben und das in wunderbar bildhafter Sprache.

Ich habe das Buch sehr gerne gelesen, das nicht nur eine besondere Coming-of-Age-Story enthält, sondern - aktueller denn je - auch stark die Politik des Landes thematisiert. Dies kann in einer Geschichte, die im Zeitalter von Glasnost und Perestroika spielt, auch gar nicht anders sein. Während wir im Westen voller Freude die Politik von Generalsekretär Gorbatschow begrüßt haben, sahen die Sowjetbürger zerfallen, woran sie Jahrzehnte geglaubt hatten. Ihre völlige Orientierungslosigkeit versteht die Autorin gekonnt abzubilden. Die beiden Mädchen und ihre Freunde stehen für die verlorene Jugend dieser Zeit, deren Zukunft so verheißungsvoll begann, aber offene Grenze sind nicht alles.

Der Roman hat wunderbare helle Momente, ist aber grundsätzlich von einer eher traurigen und melancholischen Stimmung geprägt. Der im Zentrum der Geschichte stehende Apfelgarten von Anjas Eltern spiegelt den gesamten Roman wider und steht zudem in enger Verbindung zu Tschechows Theaterstück "Der Kirschgarten". Leider wurde der englische Originaltitel "The Orchard" nicht wörtlich übersetzt - schade.

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Veröffentlicht am 28.07.2022

Beeindruckend geschriebene Familiengeschichte

Die Unschärfe der Welt
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Hannes ist Pfarrer im rumänischen Banat; seine Frau Florentine ist schwanger, fast verliert sie ihr Kind. Mit dem Blick auf dieses Paar und seine Umgebung, auf die Freunde im Dorf und den Besuch aus Ostdeutschland ...

Hannes ist Pfarrer im rumänischen Banat; seine Frau Florentine ist schwanger, fast verliert sie ihr Kind. Mit dem Blick auf dieses Paar und seine Umgebung, auf die Freunde im Dorf und den Besuch aus Ostdeutschland beginnt der Roman von Iris Wolff. In sieben Episoden wird die Geschichte dieser Familie über vier Generationen erzählt. Dabei entfaltet die Autorin in einer unglaublich zarten Sprache mit vielen Bildern eine ruhige und doch fesselnde Geschichte. Dabei kommen die innersten Gedanken der Charaktere ans Licht, über Heimat, Familie, Freundschaft, Liebe und Verlust aber auch die äußeren Umstände werden deutlich aufgezeigt: Bespitzelung, Willkürsystem, Folter, Verfolgung, Flucht und Widerstand.

"Vielleicht wäre es besser, die frühen, glücklichen Erinnerungen nicht zu haben. Vielleicht wäre es ohne überhaupt nicht zu ertragen." (S. 90)

Der grazilen und doch präzisen Sprache der Autorin stehen die eher verhaltenen Stimmen der Figuren gegenüber, allen voran Florentine und ihr Sohn Samuel. Florentine schweigt lieber, anstatt zu reden. Für sie können Worte nur unscharf die Welt wiedergeben, die man durch Erfahrung kennenlernt. Der Roman ist oft vor allem durch die Gedanken der Figuren geprägt. Gedanken z.B. über ein System, das aufrechterhalten wird, obwohl es ein Phantasiegespinst ist und das schließlich doch zusammenbricht.

Ich habe das Buch sehr gerne gelesen. Trotz der episodenhaften Anlage des Romans sind für mich keine Lücken in der Handlung entstanden. Die 213 Seiten hatte ich nicht so schnell gelesen, wie gedacht. Das Beziehungs- und Familiengeflecht der Personen ist überschaubar, aber es stehen so viele kluge Sätze in diesem Buch und - ich kann es nur wiederholen - in einer so schönen poetischen Sprache, dass man sich dafür Zeit nehmen sollte.

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Veröffentlicht am 09.07.2022

Unzertrennliche Freundinnen

Nachtwanderung
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Was macht die beste Freundin zur besten Freundin? Ines weiß es genau. Sie bewundert Kerstin, die so gut aussieht, so locker mit Jungs umgehen kann, die überall im Mittelpunkt steht und doch so cool ist. ...

Was macht die beste Freundin zur besten Freundin? Ines weiß es genau. Sie bewundert Kerstin, die so gut aussieht, so locker mit Jungs umgehen kann, die überall im Mittelpunkt steht und doch so cool ist. Von einem Tag auf den anderen ist die Freundschaft zerbrochen, Kerstin ist fort und Ines weiß auch 20 Jahre später noch nicht warum. Als sich die beiden auf einem Klassentreffen plötzlich wieder gegenüberstehen, haben sie die Chance mit der Vergangenheit aufzuräumen.

Das Buch hat mich wirklich beeindruckt. Der Sprachstil ist knapp. Kurze Aussagen, manchmal fehlt ein Wort. Sätze bleiben unvollendet, wie die Gedanken der Protagonistinnen. Man muss sich ein bisschen einlesen und dann sitzt man quasi im Kopf von Ines und Kerstin. Die Gedanken, Erinnerungen und Vorstellungen sind so unmittelbar, glaubhaft und oft traurig. Die Geschichte wird zunächst aus der Sicht von Ines erzählt, die zurückblieb, nachdem Kerstin verschwunden war. Ines, die sich allein durch die letzten Schuljahre kämpfen musste, die jetzt verheiratet ist und ein Kind hat, aber immer noch an Kerstin denkt. In Rückblicken wird die Freundschaft der beiden Mädchen in den 1990er Jahren intensiv, subjektiv und auch verklärend dargestellt. Wie war es wirklich, damals mit 14? Die Handlung wird im zweiten Teil aus der Sicht von Kerstin erzählt. Decken sich die Erinnerungen der beiden Frauen von heute an die beiden Mädchen von damals?

Eine eindrucksvolle und auch bewegende Geschichte, über Freundschaft und die Schwierigkeiten, die eigene Identität zu finden. Viele Situationen und Bilder in dem Schul- und Freundschaftskosmos habe ich wiedererkannt oder konnte ich nachvollziehen, obwohl ich ein Jahrzehnt älter bin als Ines und Kerstin. Für mich hat das Buch einen absoluten Sog entwickelt, weil ich unbedingt wissen wollte, was damals geschehen ist und warum die beiden sich so entwickelt haben. Auch der Sprachstil hat mir gut gefallen und ich habe das Buch sehr gerne gelesen. Einiges bleibt am Ende noch ungeklärt, aber das passt zur Geschichte.

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