Profilbild von EmmaWinter

EmmaWinter

Lesejury Star
offline

EmmaWinter ist Mitglied der Lesejury

Melde dich in der Lesejury an, um dich mit EmmaWinter über deine Lieblingsbücher auszutauschen.

Anmelden

Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 24.02.2024

Spuren der Vergangenheit

Düstersee
0

Der Berliner Anwalt Joachim Vernau möchte endlich mal entspannen und nimmt das unerwartete Angebot von Professor Steinhoff an, der sich Vernaus Gunst für die Wahl zum Präsidenten der Berliner Anwaltskammer ...

Der Berliner Anwalt Joachim Vernau möchte endlich mal entspannen und nimmt das unerwartete Angebot von Professor Steinhoff an, der sich Vernaus Gunst für die Wahl zum Präsidenten der Berliner Anwaltskammer erhofft. Vernau hat zwei Wochen Urlaub im alten Bootshaus auf Steinhoffs Villengrundstück am Düstersee in der Uckermark vor sich. Zumindest denkt er das, bis es den ersten Toten gibt. Dann ist es vorbei mit der Beschaulichkeit und der Name des Ortes Düsterwalde ist Programm.

Ich mag die TV-Serie mit JJ Liefers als Vernau sehr gerne, dies war aber tatsächlich erst mein zweiter Roman der Reihe. Die Handlung wird aus der Sicht des Anwalts erzählt, der eine mehr als lässige Art hat und das hat mir wirklich gut gefallen. Ziemlich ironisch kommentiert er die Ereignisse und man sieht vor dem inneren Auge immer passend dazu Herrn Liefers durch die Uckermark laufen. Daher liest sich der Roman ziemlich flugs und unterhaltsam. Thematisiert wird der Ausverkauf der kleinen Dörfer im Einzugsgebiet der Hauptstadt, die zu reinen Sommerwochenende-Siedlungen werden. Die Einheimischen rächen sich, indem z.B. für ein Stück Blechkuchen mehr als das Doppelte des normalen Preises verlangt - und bezahlt wird. Mit von der Partei auf dem Lande sind auf einmal auch Vernaus Mutter und deren Lebensgefährtin Frau Huth, genannt Hüthchen. (Und da muss ich immer an Pony Hütchen aus Emil und die Detektive von Erich Kästner denken.)

Wer kennt den Film "Es geschah am helllichten Tag" oder die literarische Vorlage Dürrenmatts "Das Versprechen"? Es gibt eine Anlehnung daran in diesem Roman ...

Düstersee ist ein prima Krimi, der gut unterhält und mit Vergnügen schnell gelesen ist; mit sympathischen Figuren und solchen, denen man nicht begegnen möchte und doch sind alle aus dem Leben gegriffen. Manchmal sind Charaktere etwas überzeichnet, aber das gehört dazu und dass Kollege Zufall auch mit von der Partie ist - egal. Der 7. Band der Reihe von bisher acht Krimis um Vernau und seine Kollegin Marie-Luise kann auch ohne Kenntnis der vorherigen Bände gelesen werden.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 07.02.2024

Reise in die Vergangenheit

Lichtungen
0

Lev und Kato begegnen sich nach langer Zeit wieder, fern der Heimat Rumäniens. Man weiß nicht genau, was sie verbindet und was sie getrennt hat. Alles ist ein bisschen in der Schwebe, unklar und vage.

Der ...

Lev und Kato begegnen sich nach langer Zeit wieder, fern der Heimat Rumäniens. Man weiß nicht genau, was sie verbindet und was sie getrennt hat. Alles ist ein bisschen in der Schwebe, unklar und vage.

Der Roman beginnt mit Kapitel neun und bereits im achten Kapitel merkt man dann, dass nicht nur die Kapitel rückwärts gezählt werden, sondern auch die Geschichte auf ihren Anfang zusteuert, der sich am Ende des Buches in Kapitel eins befindet. Ungewöhnlich, anspruchsvoll und nicht immer leicht zu lesen. Die Geschichte von Lev (Leonhard), seiner Familie, seiner Heimat, seinen Gefühlen und seiner Freundin Kato setzt sich aus Fragmenten zusammen. Die Kapitel wirken jeweils wie kleine Fenster, hinter denen wir einem Teil von Levs Lebensgeschichte folgen können. Vieles bleibt bis zum Ende offen und läßt Spielraum für eigene Überlegungen. Jedoch wächst mit jedem weiteren Kapitel das Verständnis für die Ereignisse und Verhaltensweisen in den vorherigen Abschnitten.

Wie bereits in "Die Unschärfe der Welt" ist Rumänien als Heimat ein wichtiger Aspekt des Romans. Die Charaktere haben unterschiedliche Auffassungen von Heimat und ziehen unterschiedliche Konsequenzen für ihr Leben.

Ich mag die Sprache von Iris Wolff sehr gerne. Irgendwie ganz zart und leicht, sehr bildlich, eben poetisch. (Dazu passt das wunderschön gestaltete Cover, das sich auch auf das Zeichentalent von Kato bezieht.) Auf der anderen Seite ganz bodenständig. Meine zahlreichen Post-Its zeugen davon, dass es viele Sätze gibt, die mir unheimlich gut gefallen haben. Der Roman ist ohne Frage eine Herausforderung an die Leserschaft, denn er benötigt viel Aufmerksamkeit. Immer wieder hatte ich das Gefühl, etwas Wichtiges überlesen zu haben. Daher sollte man sich Zeit nehmen und auch größere Abschnitte am Stück lesen. Kleine Leseeinheiten zerpflücken die mosaikartige Handlung noch mehr. Mit der Lesezeit und der Konzentration, die man diesem Roman widmen muss, würdigt man jedoch auch gleichzeitig die Schreibarbeit der Autorin. Vielleicht kommt das heute tatsächlich oftmals zu kurz, wenn man in rascher Folge Buch auf Buch "konsumiert".

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 21.10.2023

Die Psychiatrie als Großfamilie

Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war
0

Der siebenjährige Josse, eigentlich Joachim, entdeckt auf dem Schulweg im Kleingartenverein einen toten Rentner. Mit dieser frohen Kunde erhofft er sich in seiner Klasse einen tollen Auftritt. So stolpern ...

Der siebenjährige Josse, eigentlich Joachim, entdeckt auf dem Schulweg im Kleingartenverein einen toten Rentner. Mit dieser frohen Kunde erhofft er sich in seiner Klasse einen tollen Auftritt. So stolpern wir in das Leben von Joachim, das skurriler nicht sein könnte. Sein Vater ist der Leiter einer Kinder- und Jugendpsychiatrie in der Nähe von Schleswig mit über 1.000 "Gästen" und unzähligen Gebäuden, dazu gehört auch das Wohnhaus der Familie, mitten auf dem Gelände. Josse ist tagtäglich umzingelt von Personen mit ganz besonderen Eigenschaften, die ihm teilweise so vertraut sind, wie die eigene Familie. Die beiden älteren Brüder, die kaum mehr als Spott und Häme für ihn übrig haben, der Mutter, die alles wuppt und innerlich so viel Kummer trägt und dem imposanten Vater, der sein Leben außerhalb des Dirketorendaseins lesend in seinem Sessel verbringt - von gelegentlichen, völlig überzogenen Aktivitätsversuchen abgesehen.

Meyerhoff schreibt unglaublich witzig über diesen autobiografischen Alltag, über das Erwachsenwerden zwischen dem beruhigenden Gebrüll der "Gäste". Sein Schreibstil ist voller ungewöhnlicher, überraschender Kombinationen von Adjektiven und Substantiven und Neuwortschöpfungen; ich musste so oft laut lachen. Auch die scheinbar absurdeste Situation wird in völliger Ernsthaftigkeit aus der Sicht eines Kindes dargestellt. Mich hat das total angesprochen. Die episodenhafte Darstellung hat schon mal zu Kritik an diesem Buch geführt, es gäbe keinen roten Faden. Das habe ich so nicht empfunden, denn die Geschichte von Josse und seiner Familie wird fortlaufend erzählt, in Episoden, dennoch ist deutlich eine Linie zu erkennen. Da reihen sich denkwürdige Ereignisse aneinander. Einige meiner Highlights waren: Der Glöckner, Der große Klare aus dem Norden (völlig missratener Besuch von Ministerpräsident Dr. Gerhard Stoltenberg), Der Segelschein, Schneekastrophe (habe ich auch miterlebt) und natürlich Blutsbrüder (mit dem geliebten Familienhund).

Bei aller Komik macht sich Meyerhoff über seine Figuren nicht lustig. Er durchschaut sie, sieht auch hinter die Fassade, besonders bei den Eltern, deren Lebensgemeinschaft alles andere als harmonisch verläuft. Im Zentrum steht die Beziehung zum Vater, den Josse über alles liebt und den er doch bis zum Ende nicht richtig kennenlernt. Der tote Rentner zu Beginn des Buches ist bereits ein Hinweis darauf, dass es auch Verluste im Leben von Josse geben wird, nicht wenige und unglaublich schmerzlich. Der Roman hat mich sehr gut unterhalten, es flossen Tränen vor Lachen und vor Traurigkeit.


  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 09.10.2023

Bergsteiger und Bildhauer nähern sich dem Himmel

Den Himmel finden
0

Schon seit einem Jahr sucht der Pfarrer nach einem Bildhauer, der die lebensgroße Darstellung des gekreuzigten Jesus in seiner Kirche in den ursprünglichen Zustand zurückversetzt, d.h. den Lendenschurz ...

Schon seit einem Jahr sucht der Pfarrer nach einem Bildhauer, der die lebensgroße Darstellung des gekreuzigten Jesus in seiner Kirche in den ursprünglichen Zustand zurückversetzt, d.h. den Lendenschurz entfernt. Da klopft eines Tages ein etwa 60-jähriger Mann aus einem kleinen Bergdorf an seine Tür, der auf der Suche nach Arbeit ist. Kleine Reparaturen an Skulpturen, vielfach in Kirchen, sind eines seiner vielen Talente, aber er ist kein professioneller Bildhauer; vor dem Krieg war er Bergsteiger. Schließlich nimmt er den Auftrag an und nähert sich der Statue auf höchst ungewöhnliche Weise. Immer wieder wird er von Zweifeln geplagt, als er jedoch die Verhüllung vorsichtig entfernt hat, gibt es kein zurück mehr. Er muss nun die Nacktheit darstellen.

Dieser Zufallsfund vom Wühltisch hat mich wegen des Covers und des ungewöhnlichen Klappentextes angesprochen; der in Italien sehr bekannte Autor war mir bisher nicht geläufig. Das war mal wieder ein richtiger Glücksfund. Was für ein schönes Büchlein. Der Bildhauer, der ebenso wie alle anderen Figuren im Roman namenlos bleibt, erzählt aus der Ich-Perspektive. Die respektvolle, fast ehrfürchtige Kontaktaufnahme mit dem Gekreuzigten, mit dem Kunstwerk eines anderen, bereits verstorbenen Bildhauers, ist außergewöhnlich dargestellt. Er geht bis zur Schmerzgrenze, will die Situation so gut wie möglich nachempfinden, um der Darstellung gerecht zu werden - von Körper zu Körper. Indem der Mann die Statue regelrecht erforscht, wie er auch die Berge erforscht hat, nähert er sich ebenso der Religion an. Durch den Kontakt zu einem Rabbiner und einem algerischer Moslem, zieht er über den Gekreuzigten geschickt Verbindungslinien von einer Region zur anderen. Er, der vorher keinen Kontakt zur Religion hatte, steht jetzt im Zentrum von drei Religionen.

Das Buch hat mir sehr gut gefallen. Eine klare Sprache, kurze Sätze und eine wirklich ungewöhnliche Geschichte, die von Religion, Philosophie und Menschlichkeit handelt.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 22.09.2023

Mikrokosmos Harlem

Die Regeln des Spiels
0

Im zweiten Teil seiner Harlem-Trilogie begegnen wir vertrauten und lieb gewonnenen Figuren aus Harlem Shuffle wieder. Mehr oder weniger im Zentrum steht erneut Ray Carney, der sympathische Familienvater ...

Im zweiten Teil seiner Harlem-Trilogie begegnen wir vertrauten und lieb gewonnenen Figuren aus Harlem Shuffle wieder. Mehr oder weniger im Zentrum steht erneut Ray Carney, der sympathische Familienvater und Möbelhändler, der inmitten des kriminellen Chaos von Harlem in den 1970er Jahren nur eins will: mit seiner Familie gut über die Runden kommen. Aber man lässt ihn einfach nicht. Seine frühere Verbindung zu Munson, einem korrupten Cop, sorgt dafür, dass er schneller wieder in kriminelle Machenschaften verwickelt ist, als er bis drei zählen kann.

Die eigentliche Hauptfigur des Romans ist aber wieder der New Yorker Stadtteil Harlem, das Zentrum der afroamerikanischen Kultur. Allerdings werden wir gemeinsam mit Ray und seinem alten Kumpel Pepper Zeuge, wie Harlem langsam vor die Hunde geht. Kriminalität, Armut, Brände und Korruption auf allen Ebenen hinterlassen tiefe Narben in der Stadt und den Menschen. Whitehead nähert sich aus verschiedenen Perspektiven diesem Elend, über Ray/Munson, über einen Film, der in Harlem gedreht wird (u.a. in Rays Möbelgeschäft) und über die Korruption in städtischen Behörden gepaart mit einem unsinnigen Sanierungsprojekt. Dabei bedient sich der Autor eines besonderen Schreibstils, der viel Aufmerksamkeit erfordert und zudem voller trockenen Humors steckt. Ständig wechselt Whitehead zwischen Personen und Begebenheiten, erläutert Vergangenes und zieht Verbindungslinien kurz und quer durch den Stadtteil, dass einem schwindelig werden kann. Ein bisschen hat es mich an "Berlin Alexanderplatz" von Döblin erinnert, der die Stadt durch seine Montagetechnik zum Leben erweckt und zum Gegner des Helden macht. Wie der Titel schon sagt, muss man sich in Harlem an die Spielregeln halten, sonst geht man unter.

Mir hat das Buch sehr gut gefallen, es kommt aber nicht ganz an Harlem Shuffle heran. Es können hier nur ein paar der spannenden und signifikanten Themen erwähnt werden, die im Roman eine Rolle spielen: Black Panthers, Black Liberation Army, Knapp-Kommission, Frank Serpico, Blaxploitation-Horrorfilme, Jackson Five, warme Sanierungen, korrupte Politiker, Rassentrennung und Polizeigewalt. Wieder gibt es drei Hauptteile, die jeweils mit ein paar Jahren Abstand die Handlung weiterführen und immer bestimmte Blickwinkel auf Harlem haben. Insgesamt verfolgen wir die Vorgänge von 1971 bis 1976. Das Ende des Romans macht absolut neugierig auf den letzten Teil. Ein starkes und gleichzeitig unterhaltsames Stück amerikanische Geschichte.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere