Profilbild von Evy_Heart

Evy_Heart

Lesejury Star
offline

Evy_Heart ist Mitglied der Lesejury

Melde dich in der Lesejury an, um dich mit Evy_Heart über deine Lieblingsbücher auszutauschen.

Anmelden

Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 20.06.2020

Was lange währt ...

City of Girls
0

Ich habe das Rezensionsexemplar angefordert, weil es nach einem Roman über New York und das Theater klang und nach starken Frauen. Lange Zeit ließ mich das Buch im Ungewissen, war letztlich aber ziemlich ...

Ich habe das Rezensionsexemplar angefordert, weil es nach einem Roman über New York und das Theater klang und nach starken Frauen. Lange Zeit ließ mich das Buch im Ungewissen, war letztlich aber ziemlich bereichernd.

Spoiler: Es ist keine "klassische" Liebesgeschichte. Aber eine Geschichte über die Liebe zum Leben.

Rezi enthält (wirklich) Spoiler!

**Worum geht es?*

Der Text ist ein Brief, den Vivian an Angela schreibt. In diesem berichtet sie davon, wie sie vom Land nach New York kam und im Theater ihrer "Tante" als Schneiderin arbeitete und dabei aufregende Zeiten erlebte, ohne wirklich dazuzugehören. Nach einem öffentlichen Fehltritt kehrt sie nach Hause zurück, nur, um nach einem Jahr wieder zu kommen. Und dann trifft sie (zum zweiten Mal) die Person, die ihr Leben verändern wird.

*Meine Meinung *

Bei diesem Buch wusste ich lange nicht, worauf es hinausläuft - geht es um das Theater, geht es um die Stadt, geht es um das Erwachsenwerden oder einfach das turbulente Leben eines jungen Mädchens? Hinzu kommt, dass anfangs nicht klar ist, wem die Hauptfigur den Brief schreibt - ich dachte an eine alte Freundin oder die Tochter, doch es ist kompliziert.

Vivian gehört nirgendwo hin - von ihren Eltern wird sie wenig beachtet, von ihrer Oma lernt sie nähen und hartes Arbeiten. In New York ist sie das junge, unerfahrene Mädchen, das hineinpurzelt in eine Welt, die einerseits glamourös ist, gleichzeitig immer am Rand des Abgrunds steht. Und die keine Aufstiegschancen bietet. Vivian wird die Gefährtin eines Showgirls und zieht mit ihr durch die Nacht. Bis sie aus Frust und ohne Lust den Mann einer befreundeten Schauspielerin küsst. Und dabei fotografiert wird. Während dieses "Vergehen" für andere völlig normal ist, wird Vivian geächtet und aus dem Theater "entfernt". Und schließlich sogar von ihrem Bruder beschimpft. Zurück bei ihren Eltern arbeitet sie im Büro des Vaters und verlobt sich kurz nach Kriegseintritt der USA mit einem jungen Soldaten. Doch zur Freude beider heiratete sie ihn nicht, geht zurück nach New York und baut sich ein Brautmodengeschäft auf. Nachdem der Krieg vorbei ist, trifft sie auf einen traumatisierten Soldaten, der jetzt als Streifenpolizist arbeitet - jener Mann, der im Auto saß, als ihr Bruder seiner Verachtung Ausdruck verlieh und der damals nichts tat. Sein Schweigen war es, das ihr Selbstbewusstsein ruinierte. Doch es ist nicht die aufrichtige Entschuldigung, die sie rettet. Sondern die Erkenntnis, dass die beiden "seelenverwandt" sind, dass sie sich ähnlich fühlen. Und obwohl der Soldat keine körperliche Nähe zulassen kann und immer in Bewegung sein muss, führen beide eine jahrelange Beziehung, die von Intimität geprägt ist.

Das zentrale Thema für mich ist "Schuld" - Vivian fühlt sich schuldig, weil sie etwas moralisch Verwerfliches getan hat, der Soldat, weil er überlebt hat; er wurde bei einem Angriff ins brennende Wasser geschleudert und hat zufällig überlebt; er hat niemanden gerettet. Beide verzweifeln daran und geben sich Halt. Vivian lernt auch, dass ihre Probleme nicht die einzigen sind.

Ich fand es sehr beklemmend zu lesen, wie sehr der Soldat vom Krieg geschädigt wurde und dass es für ihn nur schwer möglich ist, eine Beziehung zu führen, sich um sein Kind zu kümmern. Dass das System auf diese Spätfolgen nicht ausgerichtet war. Gleichzeitig macht es mich wütend zu sehen, dass junge Frauen (und Männer) vor hundert Jahren so strenge Maßstäbe angelegt wurden - man kann leben, wie man möchte - solange man es im Verborgenen tut. Wenn Frauen nicht sittsam und Männer nicht stark sind, gibt es kaum jemanden, der zu ihnen hält.

Gut gefallen hat mir auch die Darstellung New Yorks. Es ist schwer, Schauplätze in Worte zu fassen, aber hier fühlte ich mich mittendrin.

Das Figurenkollektiv in der ersten Hälfte, in New York, ist bunt - die flippige Tante, die konservative Buchhalterin (?), die Tänzerinnen, die kluge Tochter der Betreiber des Lumpenlagers. Dazu die Schauspielerin. Sie bilden eine Ersatz-Familie und sind vielfältig. Später ist das Ensemble reduziert, der Schwerpunkt des Buches wechselt.

Für mich ließ sich der Text gut lesen, ich habe niemals das Gefühl gehabt, festzustecken oder mich zu langweilen.

*Fazit**

"City of Girls" ist nicht das, was es zu sein scheint, sondern eine Achterbahnfahrt, bei der man hochfährt, um dann in die Tiefe zu stürzen. Wenn man die Unsicherheit des ersten Teils überwindet und sich treiben lässt, wird man mit einer gefühlvollen zweiten Hälfte belohnt, die ich beeindruckend fand.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 29.03.2020

Sie hat Bock, aber sie traut sich nicht

Sie hat Bock
0

Nachdem ich bisher Bücher zur Treue und auch zu Frauen gelesen haben, wagte ich mich an dieses. Geködert hat mich das bunte Cover und der freche Titel. Humor habe ich in diesem Buch wenig gefunden, stattdessen ...

Nachdem ich bisher Bücher zur Treue und auch zu Frauen gelesen haben, wagte ich mich an dieses. Geködert hat mich das bunte Cover und der freche Titel. Humor habe ich in diesem Buch wenig gefunden, stattdessen Melancholie. Denn obwohl die Autorin in einer erstrebenswerten Situation lebt (eine offene Beziehung, die von allen Beteiligten akzeptiert wird), scheint sie mit sich, ihrer Beziehungsform und ihrem Frau-Sein und der Liebe zu hadern. Aber vielleicht ist genau das die Botschaft.

"Bento" hat das Buch in die Top 5 der Bücher gepackt, die man als Mann lesen sollte, wenn man mit Frauen diskutieren will - ich denke, das Buch ist ein Ansatz, aber kein Endpunkt.

**Warum geht es?*

In 29 Kapiteln spricht Lewina an, was Frauen bewegt - das Alter, die Periode, Aufklärung, Mastrubation, Grenzen usw. Jeder Abschnitt ist autobiografisch geprägt.

Die Texte stellen erweiterte Kolumnen dar, die die Autorin für zahlreiche Magazine geschrieben hat.

*Was hat mir gut gefallen?*

Es gibt Sätze, die ich mir in Stein über mit Bett meißeln würde, weil ich sie noch nicht kannte. Prägnant war, dass Frauen kritisiert werden, wenn sie offen über Sexualität reden - Männer sprechen das überhaupt nicht an. Es waren kleine Momente, in denen ich mich verstanden fühlte.

Außerdem hat das Buch mein Selbst-Bewusstsein als Mensch gestärkt. Wie oft ich im Alltag Kompromisse eingehe, weil mir die Beziehung wichtiger ist als meine Bedürfnisse. Wie selbstverständlich das geworden ist. "Sie hat Bock" hat mich wieder aufgeweckt.

*Was hat mir nicht gefallen?*

Die Tiefe: Ich fand es sehr schade, dass das Buch aufhört, wenn es am spannendesten ist. Das ist gut, um fokussiert zu bleiben und das Thema "Sexualität und Selbstbewusstsein" abzuarbeiten. Aber es nimmt der Erzählerfigur sehr viel. Zum Thema "offene Beziehung" gibt es weiterführende Texte der Autorin auf "Vice" und "Jetzt" - hier bleibt sie an der Oberfläche, erklärt nicht, wie das konkret funktioniert und wie sie das den Kindern vermittelt hat. Es wird dem Thema und der Kraft, die dahinter steht, nicht gerecht. Auch beim Bereich Mastrubation geht der Text nicht in die Tiefe, er diskutiert keine Möglichkeiten, er zeichnet ein einziges Bild. Hinter jeder Maschine liegt ein Mensch, der sie benutzt. Das liegt aber vielleicht am Medium - eine Kolumne soll provozieren, soll ein Thema knackig umreißen, soll zur Diskusion anregen. Und wenn sie in einem Männermagazin erscheint, erwartet man in einer Kolumne keine differenzierte Auseinandersetzung mit Männlichkeit, sondern eine Löwin, die den Leser zeigt, wo der Eierstock hängt.

die Klischees: Das Buch zeichnet viele Frauen, Männer nur selten. Und noch seltener positiv. Die Welte ist dunkel und fies. Ich habe nur wenige neue Gedanken mitgenommen, stattdessen wirkt auch das Frauen-Bild altbacken. Es reduziert Frauen auf ihre Problem, anstatt die Stärken zu betonen. Wenn Männer positiv erwähnt werden z.B. weil sie sich jeder Berührung versichern, dann ist das außergewöhnlich. Von diesen Stellen, der Auseinandersetzung mit den eigenen Vorurteilen, hätte ich mir mehr gewünscht.

die Erzählerin: Ich konnte mich mit der Erzählerin nicht identifizieren. Einen Text tippen, danach ein Akt mit dem Freund und dann in einer Bar abhängen, überhaupt viel Alkohol trinken, viel feiern, viele Akte mit unterschiedlichen Menschen haben - das ist eine Welt, die sehr schön klingt, die aber von meiner weit entfernt ist. Entfernt von einem klassischen Alltagsjob, in der Hobbys eine größere Rolle spielen und Kontakte zu Männern und Frauen ein meist positives Extra sind. Und trotzdem ist auch dieser Alltag nicht frei von Konflikten. Ich hätte mich gefreut, wenn die Erzählfigur mehr "auf dem Boden", nahbarer wäre. Aber auch das kann dem geschuldet sein, dass es Kolumnen sind.

*Fazit**

"Sie hat Bock" will Positives bewirken und hat sicher manchen Lesern, ob männlich, weiblich oder divers, Denkanstöße geliefert. Für mich zeichnet aber auch dieses Buch den ständigen Kampf um die Interpretation nonverbaler Signale und die Anforderungen der Gesellschaft nach. Es wirkt ehrlich und von einer interessanten Persönlichkeit geschrieben, hat aber eine Atmosphäre, die nicht sagt, dass "Bock haben" Spaß macht, sondern eine Protesthaltung ist. Und es war nicht das richtige Medium für mich.

Veröffentlicht am 27.03.2020

Und immer wieder ... Traurigkeit

Dichterkinder
0

Alles hat ein Ende - das betont das Buch - am Anfang, in der Mitte und am Ende. Was der Klappentext preist als "Die erotisch aufgeladene Freundschaft der fünf und deren Umkreis gewährt Einblick in radikale ...

Alles hat ein Ende - das betont das Buch - am Anfang, in der Mitte und am Ende. Was der Klappentext preist als "Die erotisch aufgeladene Freundschaft der fünf und deren Umkreis gewährt Einblick in radikale literarische und politische Umbrüche jener Zeit." ist weder erotisch noch gibt es wirklich Auskunft über die poltischen Umstände und auch die Literatur spielt nur selten eine Rolle. "Anja und Esther" wird ausführlich behandelt. Ansonsten fühlt sich der Text überwiegend an, als hätte man ein Klatschblatt 100 Jahre in die Vergangenheit geschickt und auf 200 Seiten gestreckt. Ausführlich schwelgt das Werk in den Gemütszuständen Carl Steinheims und dessen Syphilis, immer wieder der Syphilis. Gleiches gilt für das traurige Leben Mopsa Sternheims.

Das Buch hat so eine negative Atmosphäre, dass es mir trotz des spannenden Themas schwer fiel, weiterzulesen.

Für mich war der Text eine Enttäuschung, weil ich nur weniges über Klaus und Erika Mann erfahren haben und insgesamt kein Gefühl für die Personen bekommen habe. Der Autor hat viel Aufwand betrieben, in Briefen recherchiert und daraus zitiert. Diese Arbeit ist bewundernswert und macht den Text einzigartig. Und auch stilistisch wird die Meinung des Autors deutlich - er will mir die Figuren näher bringen, aber es fehlt etwas. Und immer wieder die Vorausdeutung.

Ein großes Problem waren die ständige Zeitsprünge und die Dopplungen, die sich ergeben. Wir folgen einer Figuren ein paar Jahre, wechseln zur nächsten und gehen dabei eine Zeitebene zurück und setzen später wieder ein. Vieles überlagert sich und an manchen Stellen war ich mir nicht sicher, ob Informationen mehrfach vorkamen, weil der Autor Angst hatte, man könnte etwas vergessen. Oder weil es keiner herausgestrichen hat.

Und mir fehlt ein Stammbaum bzw. eine Übersicht über die Personen.

**Fazit**

"Dichterkinder" geht tief und hält viele Informationen bereit. Ihm fehlt aber das Gefühl für das "große Ganze". Letztlich wirkt es wie ein regenverwaschenes Schema eines Untergangs.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 23.02.2020

Halbguter CEO

Most Wanted CEO
0

Rezi enthält Spoiler

Ich hatte das Buch gewählt, weil es um Schauspielerei geht, auch wenn sich bereits im Klappentext andeutete, dass es viele Klischees gibt. Letztlich funktioniert die Idee, den (vermeintlichen) ...

Rezi enthält Spoiler

Ich hatte das Buch gewählt, weil es um Schauspielerei geht, auch wenn sich bereits im Klappentext andeutete, dass es viele Klischees gibt. Letztlich funktioniert die Idee, den (vermeintlichen) Jäger zum Gejagten zu machen, besser, als ich gedacht habe. Ich hatte viel Spaß und freue mich, dass es im Roman eher um die Bedürfnisse der Frau geht denn um die des Mannes. Jedoch verpufft das Potential, nach der Hälfte - als die Figuren zusammen kommen. Die Flirt-Regeln, mit denen die Kapitel überschrieben sind, verkommen zum Stilmittel ohne Sinn, dazu kommen Zeitraffungen innerhalb einer Szene.

Die Charaktere sind einfach: Frau ist das hässlichen Entlein mit dem Jersey-Akzent, Mann der missverstandene Millionär mit Hang zur Wohltätigkeit. Ich finde es besonders für die männliche Figur schade, dass sie auf "das Wesentliche" reduziert wird.

Das unterstreichen einige Ähnlichkeiten zu "Shades of Grey" - Begriffe wie "köstlich", die Betonung des Animalischen und das intensive Bedürfnis, "in der Frau" zu sein. Er fühlte sich an wie Mr. Grey, aber mit erheblich kleinerem Kindheitstrauma.

Die Erotikszenen folgen guten Ansätzen - denn die Frau fordert die Akte. Genießen tut sie jedoch der Mann. Was sich auf den ersten Blick frauen-freundlich anhört, ist letztlich nur die Botschaft "Frau muss Mann glücklich machen. Dann ist auch sie glücklich" Dennoch haben sie mir gefallen, weil die Figuren schnell auf den Punkt kommen, besonders in den Dialogen.

Stilistisch bin ich wenig glücklich. Ich fand es gut, dass die Dialoge locker, aber nicht zu umgangssprachlich sind. Ich habe das gern gelesen. Leider war mir die Metaphern-Flut zuviel und ich finde die Übersetzung nicht überall gut. Ob der Dativ von "Kumpel" "Kumpeln" oder "Kumpels" ist, darüber kann man streiten. Aber "die Faust in ein Sandwich boxen", das fand ich nicht stimmig.

Amüsant war der Verweis auf die deutsche Sprache, weil nur das Deutsche soviel Oxymorone hat :)

Fazit: Der Roman ist einzigartig, wirkt aber nach der Hälfte verkrampft. Es sind einige schöne Sätze enthalten, aber letztlich wurde das Potential nicht ausgeschöpft.





  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 24.12.2019

Viele Fakten, wenig Einheit

Untrue
0


"Untrue" hat mich mit seinem Thema und dem fetzigen Cover geködert und ich hoffte, dass es ein lockeres, nahbares Buch mit vielen Fakten ist. Letztlich war es ein Buch, das mich bereichert, aber insgesamt ...


"Untrue" hat mich mit seinem Thema und dem fetzigen Cover geködert und ich hoffte, dass es ein lockeres, nahbares Buch mit vielen Fakten ist. Letztlich war es ein Buch, das mich bereichert, aber insgesamt nicht glücklich gemacht hat. An das im Buch zitierte "Sex - die wahre Geschichte" kommt die Autorin nicht heran.

Meine Meinung zum Inhalt

Der englische Titel spielt sehr gut mit dem Thema - "untrue" bedeutet "unwahr"; "untreu" übersetzt man meist mit "unfaithful". Es geht weniger um die Frage, ob Untreue gut ist, sondern wie der Begriff und seine Verwendung insgesamt zu bewerten sind. Warum wird von Frauen erwartet, dass sie "treu" sind - und stimmt das? Nicht gut ist, dass sich der deutsche Titel und der Untertitel auf "Treue" beschränken, während der englische verspricht, dass es auch im Lust und Frauen (allgemein) geht. Das wird dem Buch besser gerecht.

Zuerst geht es im Buch darum, warum der Frau die Rolle zugeschrieben wird, bevor die Autorin den Sinn und Un-Sinn von "Treue" erläutert und mittels matriarchalischer Gesellschaften zeigt, dass auch Frauen manipulieren und bewusst "untreu" sein können. Leider greift sie dabei meist auf Affen zurück, was ich wenig aussagekräftig fand. Trotzdem war das ein sehr spannendes Kapitel.

Später zeigt uns die Autorin, wie wichtig Frauen auch heute noch das Ideal der "treuen" Frau ist und wie die Partner das ausnutzen. Bedrückend fand ich die Geschichte einer Frau, die ihren Mann betrügt, von ihm auf's Land gedrängt wird, damit er seiner Affäre nachgehen kann - und das später lange Zeit als ausgleichende Gerechtigkeit sieht. Ähnliches bei einem lesbischen Ehepaar, bei dem eine Frau aus der unglücklichen Beziehung in Form des Betrugs und später einer offenen Beziehung flieht - und dann zurückkehrt, weil ihre Frau das nicht möchte. Und die Schuldgefühle hat, weil sie ihrer Frau so etwas angetan hat. Ob der Betrug "gerecht" war, darüber kann man streiten, aber es hat mich sehr traurig und wütend gemacht. Als leider sehr typisches Gegenbeispiel wird eine offene Ehe am Ende genannt, bei der die Frau einen dritten Partner eingeführt hat, während der Mann mit anderen Frauen schläft - aber unter Einhaltung bestimmter Regeln. Ich fand das gut, aber die Autorin ist hier an eine Grenze gestoßen, weil sie das nicht analysiert, aufbereitet, sondern nur erzählt.

Ohnehin stört mich im Buch, dass uns die Autorin eher Fakten darlegt, als Erzählerin zu sein. Das Buch versucht an einigen Stellen brachial, Atmosphäre zu erzeugen, indem die Autorin das Aussehen und die Umgebung ihrer Gesprächspartner beschreibt - obwohl das für den Inhalt nicht relevant ist. Ich habe sie eher als Diener der Sache gesehen, denn als jemand, der aktiv daran teilnimmt, der den Leser mitnehmen will auf seine Reise. Was der Begriff "Treue" mit der Autorin zu tun hat, wusste ich nicht. Ich habe keine Bindung zu ihr aufgebaut und mir ging die Glaubwürdigkeit verloren.

Ohnehin habe ich nicht verstanden, warum das Wort "Untreue" nicht hinterfragt, sondern im ganzen Buch verwendet wird. Warum sollte jemand nicht loyal zu seinem Partner sein, wenn er mit anderen schläft? Kann man das von außen bewerten?

Ein Begriff, der für mich neu war, war "Fortpflanzungserfolg" - die Autorin erklärt das leider nicht ausführlich, sondern bindet ihn nur ein. Aber er bedeutet die Anzahl der überlebenden Nachkommen bzw. Maßnahmen, die sie erhöhen. "Untreue" kann den Fortpflanzungserfolg erhöhen, wenn sich die Frau z.B. in einer sozial schwachen Schicht befindet und offen lässt, wer der Vater des Kindes ist. Dann hat sie mehrere Männer, die sie versorgen, was von Vorteil ist.

Schuld an der Untreue ist übrigens ein alter Bekannter - die "Neolithische Revolution". In dieser Zeit wandelten sich die Menschen von umherziehenden Jägern und Sammlern zu sesshaften Ackerbauern. Die Techniken zur Bewirtschaftung verbesserten sich, bis die Erfindung des Pfluges den Wert von Mann und Frau trennte - trugen Frauen bis dahin gleichberechtigt zum Lebensunterhalt bei, konnte die schwere Arbeit des Pfluges eher von Männern durchgeführt werden, sodass die Frau am Herd stand und die Kinder versorgte. Manchmal ging dieser "Wertverlust" als Teil der Gemeinschaft bzw. "Wertsteigerung" als Objekt soweit, dass es sich manche Männer "leisten" konnten, eine "Frau am Herd" wie ein Schmuckstück zu haben. Dieser Werteverfall durch die patriachalische Gesellschaft reicht bis in die heutige Zeit.

Interessant fand ich, dass manche Frauen, besonders in weiblich organisierten Gesellschaften, weder "brav" noch "nett" sind. Ganz im Gegenteil: Sie nötigen Männer zum Akt, nutzen körperliche Nähe, um Bündnisse zu schließen.

Wie wurde das Wissen präsentiert?

Ich habe zum Erzähler keinen Zugang gefunden, konnte das Buch aber gut lesen. Mehr Erklärungen wären gut gewesen.

Es wird viel zitiert und das sehr korrekt - 512 Fußnoten gibt es, einschließlich des konkreten Wortlautes und der Stelle. Ich hätte mich gefreut, wenn man mehr davon eingebunden hätte, weil ich es, besonders bei kleiner Schrift, mühselig finde, die Fußnote auf dem Reader zu treffen.

In den seltenen Fällen, in denen mehr als eine Wortgruppe zitiert wird, ist diese mit einem Absatz abgegrenzt - in Grau. Das ist digital sehr schlecht lesbar.

Fazit

Der engliche Untertitel verspricht "Why Nearly Everything We Believe About Women, Lust, and Infidelity Is Wrong and How the New Science Can Set Us Free" - besonderes letztes habe ich nicht so empfunden. Die Autorin geht oft zurück zu den Ursprüngen, vergleicht mit Gesellschaften, die weiblich geprägt sind. Aber sie zeigt nicht, was wir in unserer (männlich) dominierten Gesellschaft ändern können, damit die Last der Untreue gleichmäßig auf beide Geschlechter verteilt wird. Warum (sexuelle) Untreue oft gleichgesetzt wird mit emotionaler Untreue. Im Nachwort relativiert die Autorin: dass das nur ein Ausschnitt aus einem sehr umfassenden Thema sei, dass ihre Forschung weitergeht usw. Trotzdem habe ich das Gefühl, dass ich hier eher ein Klecks-Gemälde aus Fakten, vielen Zitaten anderer Forscher und einigen Geschichten habe. Aber kein stimmiges Ganzes. Immerhin habe ich einiges gelernt.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung