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Veröffentlicht am 15.10.2018

Ein Roman über Freundschaft, zarte Liebesbande und eine abenteuerliche Flucht

Gefährten für immer
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„Gefährten für immer“ ist ein Jugendbuch ab 13 Jahren von Anne C. Voorhoeve. Die Erzählung ist weit mehr als das Cover zunächst andeutet. Die Gestaltung des Titelbilds in Sepia deutet schon darauf hin, ...

„Gefährten für immer“ ist ein Jugendbuch ab 13 Jahren von Anne C. Voorhoeve. Die Erzählung ist weit mehr als das Cover zunächst andeutet. Die Gestaltung des Titelbilds in Sepia deutet schon darauf hin, dass die Geschichte in die Vergangenheit führt. Es ist aber nicht nur eine Geschichte, die sich um ein Pferd und seiner Reiterin dreht, sondern es ist eine Fluchtgeschichte, die von Hannover zum Trakehnergestüt Waldeck nach Ostpreußen führt. Eine Landkarte, die man auf den ersten Seiten im Buch findet, zeigt die Grenzen des Deutschen Reichs 1944 und ermöglicht es so, die Fluchtroute nachzuvollziehen.

Die 14-jährige Lotte hat ihre Mutter zu Beginn des Zweiten Weltkriegs bei einem Unfall verloren. Im Jahr 1943 wohnt sie mit ihrem blinden Vater in einer Wohnung in Hannover. Vor kurzem wurden im Stadtzentrum bei einem Tagesangriff der US-Luftflotte viele Gebäude zerstört und Menschen getötet oder schwer verletzt. Ihr Vater sorgt sich sehr um ihre Sicherheit und schickt sie nach Ostpreußen wo eine Freundin der Mutter das Gestüt ihrer Familie leitet. Emilia, eine Nichte der Freundin im gleichen Alter wie Lotte, wohnt ebenfalls dort und Harro, der wenig ältere Sohn des früheren Verwalters, übernimmt kleine Arbeiten. Lotte hat einige Schwierigkeiten sich einzuleben. Zu der Trakehnerstute Lilie entwickelt sie eine ganz besondere Beziehung. Nie hätte Lotte nach über fünf Jahren Krieg damit gerechnet, dass sie auch in ihrer neuen Heimat davon eingeholt wird. Wieder stehen Verabschiedungen an, auch von ihrem Pferd …

Mit Lotte hat die Autorin eine starke und mutige Protagonistin geschaffen. Ihr Schicksal hat mir viele Fakten des Zweiten Weltkriegs wieder in Erinnerung gerufen, auch an Schilderungen meiner Mutter über ihre Evakuierung. Lotte hat früh gelernt selbständig, aber auch hilfsbereit zu sein. Schnell hat sie meine Sympathie gewonnen. Sie handelt lebensnah und überlegt, ist einfühlsam und passt sich schnell an. Die Zeit in der sie lebt bietet ihr wenig Alternativen. Ich hoffte für sie und die ihr liebgewordenen Personen, dass es ihnen gelingt, den Krieg zu überlegen. Interessiert verfolgte ich die Entwicklung der zarten Band zu Harro, der aber ebenfalls Emilia zugeneigt ist. Die Autorin zeigt für den Konflikt zwischen den Dreien eine realitätsnahe und faire Auseinandersetzung auf. Ich war überrascht darüber, wie weit eines der beiden jungen Mädchen bereit ist, im Sinne der Freundschaft zu gehen.

Anne C. Voorhoeve deutet an einigen Stellen an, was Lotte in der nahen Zukunft zu erwarten hat, was die Spannung erhöhte. Ihre eignen Erfahrungen mit Trakehner fließen in ihre Geschichte ein, so dass das Miteinander zwischen Pferd und Reiter authentisch wirkte. Der Roman ist an die wahren Ereignisse der Flucht von Marion Gräfin Dönhoff angelehnt, wie aus dem Nachwort zu erfahren war.
„Gefährten für immer“ ist ein Roman über Freundschaft, über zarte Liebesbande, über eine abenteuerliche Flucht und große Zuneigung zu Pferden. Er ist gefühlvoll und realistisch geschrieben und gerade daher so berührend. Das Buch ist geeignet für Jugendliche ab 13 Jahren, jedoch genauso interessant für ältere Leser. Gerne gebe ich hierfür eine Leseempfehlung.

Veröffentlicht am 04.10.2018

Zeigt viele Facetten des Lebens und tiefe Gefühle

Meine beste Bitch
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„Meine beste Bitch“ ist im gleichnamigen Roman von Nataly Elisabeth Savina die Ich-Erzählerin und Protagonistin Faina Maris für die ein Jahr ältere Berenice, von allen Nike genannt, und umgekehrt. Verbunden ...

„Meine beste Bitch“ ist im gleichnamigen Roman von Nataly Elisabeth Savina die Ich-Erzählerin und Protagonistin Faina Maris für die ein Jahr ältere Berenice, von allen Nike genannt, und umgekehrt. Verbunden mit dem Begriff „Bitch“ ist für mich Lebensfreude und Selbstbewusstsein. Zu der Protagonistin will die Betitelung zunächst nicht so richtig passen. Sie lebt in einer Kleinstadt und besucht dort die Oberstufe des Gymnasiums. Faina ist hochsensibel und wird von ihrer Mutter, einer Psychiaterin, vor allem vermeintlichem Unbill beschützt. Dennoch kommt sie immer wieder in Panik und ihre Haut juckt oft unerträglich ohne ersichtlichen Grund. Zur Beruhigung geht sie spazieren, gerne mit dem nahegelegenen Friedhof als Ziel. Aber sie ist auch ein High Sensitive Seeker, immer auf der Suche nach neuen Erfahrungen und aufregenden Erlebnissen. Sie wünscht sich ein Leben, das bunt und prickelnd ist und immer wieder Ungewöhnliches bietet. Das Cover zeigt ein Stück solcher Ausgelassenheit. Sie möchte sich wohlfühlen wie bei einer Performance mit einem Stück Melone in der Hand und das gefärbte Wasser in der Wanne zum Rumspritzen nutzend.



Nachdem sie die ein Jahr ältere Nike bei einer Streikaktion kennengelernt hat werden die beiden sehr schnell vertraut miteinander. Faina fühlt sich von ihr verstanden. Nike hat immer neue, manchmal übersprudelnde Ideen und hilft ihr auch dabei, dem Aktionskünstler Julian näherzukommen, den sie auf einem ihrer Spaziergänge getroffen hat. Faina hat noch keine klaren Zukunftsvorstellungen. Ihre Mutter plädiert für ein Studium in einem bodenständigen Fach. Ihr bester Schulfreund bietet ihr schließlich die Wohnung seines abwesenden Bruders in Berlin zur vorläufigen Benutzung an. In der pulsierenden Großstadt fühlt sie sich sofort wie zu Hause und hier wohnt inzwischen auch Julian. Natürlich ist die inzwischen in Hamburg wohnende Nike als Gast gerne gesehen, wäre da nicht eine Nähe zu Julian, die Faina mit zwiespältigen Gefühlen beobachtet und ihre enge Freundschaft in Frage stellt.



Nataly Savina ist es gelungen, die emotionale Zerrissenheit ihrer Hauptfigur gelungen darzustellen. Faina war immer schon einfühlsam. Ihre Eltern waren oft entgegengesetzter Meinung über ihre Erziehung und auch über andere Dinge haben sie gestritten bis ihr Vater ausgezogen ist. Früh hat sie sich also schon mit verschiedenen Ansichten auseinander setzen müssen und doch nicht herausfinden können, welche die bessere ist. Ein Anschlag auf ihre Mutter hat ihr vor Augen geführt, wie leicht man einen nahestehenden Menschen verlieren kann. Von ihrem Vater hat sie vermutlich den Sinn für die schönen Künste, ihre Mutter denkt eher rationaler. Bereits bei ihrer ersten Begegnung ist sie fasziniert von Nikes Ausdrucksfähigkeit und wird auch im Folgenden davon nicht enttäuscht. Durch Julian wird ihr Interesse an Kunst noch weiter geweckt.



Durch ihre Freunde kommt Faina bei ihrem Aufenthalt in Berlin in eine ungewohnte Umgebung, deren Eindrücke sie wie einen Schwamm einsaugt. Zuerst verbessert sich dadurch ihr Hautleiden und so fühlt sie sich bestätigt in ihrer Annahme, dass sie hier richtig am Platz ist. Aber bald stellt sich Ernüchterung ein, denn ihre Feinfühligkeit lässt sie auch die Schattenseiten wahrnehmen. Ihre widerstreitenden starken Gefühle zu Julian laugen sie aus, ihre Suche nach Selbstverwirklichung hält an. Dennoch zeigt sich letztlich, dass wahre Freundschaft oft auch verlangt, über seinen eigenen Schatten zu springen.



Nataly Savina zeigt in ihrem Roman „Meine beste Bitch“ tiefe Gefühle und viele Facetten des Lebens. Ohne Schnörkel bringt die Autorin jede Beschreibung auf den Punkt, hinterließ aber bei mir den Eindruck einer reichhaltigen Darstellung. Faina ist eine sympathische Charaktere die voller Zwiespalt steckt bei der Suche nach einem sinnerfüllten Leben. Lachen löst Weinen ab, Wut und Hass Liebe, Verstehen folgt auf Unverständnis. Es ist bewegend, Fainas Weg zu verfolgen und bleibt in Erinnerung. Gerne empfehle ich das Buch weiter an Jugendliche ab 14 Jahren und Erwachsene die nach einer anspruchsvollen Geschichte suchen

Veröffentlicht am 29.09.2018

Historischer Roman mit SciFi-Elementen und beunruhigendem Szenario

NSA - Nationales Sicherheits-Amt
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Das Buch „NSA – Nationales Sicherheits-Amt“ von Andreas Eschbach ist ein historischer Roman mit Elementen der Science-Fiction. Die Idee, die dem Roman zugrunde liegt ist die Vorstellung, dass es bereits ...

Das Buch „NSA – Nationales Sicherheits-Amt“ von Andreas Eschbach ist ein historischer Roman mit Elementen der Science-Fiction. Die Idee, die dem Roman zugrunde liegt ist die Vorstellung, dass es bereits im Zweiten Weltkrieg Computer und Mobiltelefone gegeben hat. Ich fand den Gedanken sehr interessant und war gespannt auf die Umsetzung. Passend zum Inhalt wurde die äußere Gestaltung des Buchs vorgenommen. Das Cover ist wie ein Plakat der 1940er gestaltet, der Zeit also, in der die Haupthandlung spielt. Ein stilisiertes Auge nimmt einen breiten Platz auf dem Umschlag ein und symbolisiert die Möglichkeit einer ständigen Überwachung allerorts.

Im Oktober 1942 kämpft das Nationale Sicherheits-Amt in Weimar um seine Daseinsberechtigung, denn auch das Reichssicherheits-Hauptamt in Berlin kommt einer ähnlichen Aufgabe nach. Als sich der Besuch eines Reichsführers ankündigt, möchten die Mitarbeiter mit einer neuen Möglichkeit der Datenauswertung überzeugen. Zum Team des NSA gehören die beiden Protagonisten des Romans Helene Bodenkamp und Eugen Lettke. Helene ist 21 Jahre alt, Programmiererin und ebenso wie der einige Jahre ältere Datenanalyst Eugen in keiner festen Partnerschaft. Ein Erlebnis in der Vergangenheit bringt Eugen dazu, Rache an den damals daran beteiligten Personen zu üben, wobei ihm die Zugriffsmöglichkeiten seines Jobs zugutekommen.

Bei Helene steht eines Tages ein Freund, mit dem sie einen bezaubernden Abend verbracht hat, vor der Tür des Elternhauses indem sie immer noch wohnt. Arthur ist von der Front geflohen und erfreut darüber, dass Helene ihm hilft, ein Versteck zu finden. Fortan sieht die junge Frau ihre Arbeit mit anderen Augen, denn zu den Aufgaben des NSA gehört die Auswertung von Daten rund um Haushalt und der in ihm lebenden Personen, um daraus auf untergetauchte Personen zu schließen.
Dem Autor ist es gelungen, die realen historischen Personen mit den ihnen zugeschriebenen Eigenschaften treffend darzustellen und ihnen ergänzend seine eigenen Charaktere wirklichkeitsnah zur Seite zu stellen. Die Protagonisten Helene und Eugen sind gekonnt gezeichnete mehrschichtige Figuren, die von ihrer Art her perfekt ins Bild passen.

Es ist ungewohnt, sich vorzustellen, dass es bereits vor hundert Jahren die Technik von heute gegeben haben soll. Andreas Eschbach schafft es, das Thema sachlich umzusetzen und passend in die historische Umgebung einzubinden. Dazu hat er beispielsweise die Bezeichnungen so verändert, dass ich sie nach der heutigen Auffassung als antiquiert bezeichnen würde. Auch die Hardware entspricht von der Größe her dem Ambiente der 1940er und beinhaltet doch Software auf dem neuesten Stand. Etliche historische Daten und Figuren hat der Autoren beibehalten, jedoch an einigen Stellen der Zeitgeschichte eine Änderung gegeben, was der Erzählung eine Überraschungskomponente gegeben hat.

Was mir durch den Roman nochmal bewusst wurde und vom Autor in leicht überspitzem Maße aufgezeigt wird, ist die Rolle der Frau in der Gesellschaft der nationalsozialistischen Zeit. Deutlich wird die Trennung der Geschlechter in der Schilderung vor allem in der Zuweisung von Aufgaben in Alltag und Beruf. Helene übt beispielsweise als Programmiererin einen Job aus, der in Deutschland ausschließlich für Frauen vorgesehen ist. Die daraus folgende Aufgabe der korrekten Auswertung der so gewonnenen Daten wird ihnen nicht zugetraut, dazu wird die Analysefähigkeit der Männer genutzt, denen im Gegenzug die Auseinandersetzung mit einfachen Tätigkeiten wie das Schreiben eines Programms nicht zugemutet wird.

Es wirft sich die große Frage danach auf, ob unsere heutige Technik Fluch oder Segen in den heute herrschenden Kriegen ist und ob mit ihr ein weiterer Weltkrieg verhindert werden kann oder erst möglich gemacht wird. Beunruhigend sind gestern wie heute nicht nur die Möglichkeiten der Gewinnung von Daten und deren Auswertung, sondern auch die Macht, die die analysierten Daten denjenigen geben, die in deren Besitz sind. „NSA“ ist ein Buch, das beängstigende Szenarien aufzeigt und mich darüber ins Grübeln brachten, wie durchschaubar wir heute inzwischen tatsächlich sind. Mir erscheint das Szenario realistisch, undenkbar der Gedanke selber weiterzuspinnen und sich das Hier und Jetzt auszumalen, wenn es sich so wie von Eschbach geschildert dargestellt hätte. Der Roman ruft förmlich schon nach einer Fortsetzung …

Veröffentlicht am 25.09.2018

Ein Roman, in dessen Verzweigungen man sich gerne verliert

Bruder und Schwester Lenobel
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Das Cover des Romans „Bruder und Schwester Lenobel“ zeigt eine Ansicht der Stadt Wien. Michael Köhlmeier hat seine Geschichte hier angesiedelt. Über der Stadt spannt sich der Himmel weit auf, so wie die ...

Das Cover des Romans „Bruder und Schwester Lenobel“ zeigt eine Ansicht der Stadt Wien. Michael Köhlmeier hat seine Geschichte hier angesiedelt. Über der Stadt spannt sich der Himmel weit auf, so wie die Erzählkunst des Autors sich im Buch entfaltet. Doktor Robert Lenobel, der Bruder in diesem Buch, ist Psychiater in Wien. Seine Schwester Henriette, Jetti genannt, lebt aber inzwischen in Dublin. Das überraschende Verschwinden von Robert und die Suche nach ihm ziehen sich als roter Faden durch den Roman.

Jetti folgt der Aufforderung ihrer Schwägerin Hanna, die sie per E-Mail erhält. Hanna wünscht sich, dass sie zu ihr nach Wien kommen soll, denn ihr Mann würde verrückt. Als sie zwei Tage später in der Stadt eintrifft ist er verschwunden, gemeinsam geben sie eine Vermisstenanzeige auf. Beide glauben nicht, dass Robert den Freitod gewählt hat, aber Gründe für eine planlose Reise können sie sich auch nicht vorstellen.

Der 55 Jahre alte Robert und die sechs Jahre jüngere Jetti sind sich von Kindheit an in besonderer Weise verbunden. Der Bruder ersetzte der Schwester in einigen Dingen den Vater, der noch eine zweite Familie hatte und irgendwann ganz fern blieb. Jetti unterstützte Robert während seines Studiums als sich bei der Mutter die Symptome einer psychischen Erkrankung verstärkten. Nachdem Robert mit Hanna liiert war, haben die beiden ihre Fürsorge auf diese ausgedehnt und auch bereits zu dritt manche Krise miteinander.

Das Ehepaar hat zwei Kinder, doch Hannas erste Wahl, ein Familienmitglied über das Verschwinden ihres Manns zu informieren, fiel auf Jetti. So stark die Bande zu ihren Kindern auch sein mögen, umso stärker ist Hannas Vertrauen in Jetti von der sie sich Hilfe erhofft, die Gründe für Roberts Handeln zu verstehen. Doch die beiden kennen sich gut, zu gut erschien es mir manchmal, denn sie agieren ohne große Worte, beobachten einander und deuten jedes kleinste Tun auf der Basis vergangener Erfahrungen miteinander. Dabei erinnern beide sich nicht nur an positive Ereignisse, was zu deutlichen Spannungen führt. Schließlich sucht Jetti den Kontakt zu Roberts Freund Sebastian Lukasser, einem Wiener Schriftsteller, der schon in früheren Romanen Köhlmeiers eine tragende Rolle spielte. Es stellt sich heraus, dass er nicht nur für Robert ein Anlaufpunkt ist, sondern auch zu den beiden Frauen eine einzigartige Beziehung pflegt. Stückchenweise erfuhr ich als Leser schließlich auch die Beweggründe Roberts die dazu führten, dass er Abstand von einer Familie suchte.

Michael Köhlmeiers Erzählkunst ist detailreich. Er verfolgt jede Handlung möglichst aus der Sicht aller beteiligter Personen. Die Gedankengänge seiner Figuren zeigt er mit den Abwägungen über das Für oder Wider auf. Obwohl der Roman in der Gegenwart zeitlich nur wenige Wochen beinhaltet, schildert er die Vergangenheit aller Familienmitglieder und fächert die Erlebnisse des Einzelnen breit auf. 13 Kapiteln in vier Teilen stellt er zu Beginn jeweils ein Märchen voraus, welches man in der Nachbetrachtung durchaus in Bezug auf die folgende Handlung interpretieren kann.

„Bruder und Schwester Lenobel“ ist eine überbordende Geschichte, die wirklichkeitsnahe Gefühle des gelebten Lebens beinhaltet. Hass, tiefe Liebe, Vertrauen, Neid, Zweifel, Eifersucht, Missgunst sind zu finden, das Verzeihen ist von besonderer Dringlichkeit. Ein Roman, in dessen Verzweigungen man sich gerne verliert.

Veröffentlicht am 24.09.2018

Ein einziger Sommer, der die Gefühle eines Jugendlichen stark bewegt

Junger Mann
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Im Roman „Junger Mann“ lässt Wolf Haas den Ich-Erzähler, einen 13-jährigen Österreicher, über den Sommer 1973 erzählen. Sein Protagonist ist so alt wie der Autor zur damaligen Zeit auch gewesen ist. Neben ...

Im Roman „Junger Mann“ lässt Wolf Haas den Ich-Erzähler, einen 13-jährigen Österreicher, über den Sommer 1973 erzählen. Sein Protagonist ist so alt wie der Autor zur damaligen Zeit auch gewesen ist. Neben dem unbenannten Erzähler spielt auch das junge Ehepaar Elsa und Tscho eine große Rolle. Das Cover ist als Waage mit orangefarbenen Bezug gestaltet, denn eine solche besitzt die Familie des Jugendlichen zur Gewichtskontrolle.

Der junge Mann lebt in Maria Alm am Steinernen Meer in Österreich unweit der Grenze zu Deutschland. Hier besitzt unter anderem der amtierende Bundespräsident Walter Scheel ein Ferienhaus und hier wurde auch der Autor des Romans geboren. Mehrfach hat der junge Mann als Kind sich die Beine gebrochen und bekam sie daher eingegipst, wie damals üblich. Als Seelentrost für die relative Unbeweglichkeit erhielt er Schokolade, dessen Verzehr sich schon früh in Übergewicht bei ihm zeigt. Der Ich-Erzähler kennt Tscho bereits von Kindheit an, denn er ist der große Bruder eines älteren Freunds von ihm. Zusammen mit seiner Frau Elsa ist er Housesitter reicher Amerikaner und fährt außerdem noch LKW. Der junge Mann nimmt einen Job an der örtlichen Tankstelle an, sieht eines Tages die Frau vom Tscho in dessen Pkw und verliebt sich in sie. Ihm wird bewusst, dass er einige Kilogramm zu viel wiegt, um ihr zu gefallen und beschließt deshalb, in den Sommerferien abzunehmen. Während es zu einer schrittweisen Annäherung mit Elsa kommt, hat plötzlich Tscho eine ganz spezielle Aufgabe für den jungen Mann.

Wolf Haas schreibt mit viel Witz und Sarkasmus gerade so, wie ein 13 1/2-Jähriger sich seine Welt, mit der er trotz Pubertätsproblemen klar kommen muss, schön redet. Ich weiß natürlich nicht, wieviel eigene Erlebnisse in den Schilderungen des Autors stecken, aber dadurch, dass er im Setting beheimatet ist und im gleichen Alter wie sein Protagonist, wirkt seine Erzählung authentisch. Ich kann mich selbst auch noch an die staatlich verordneten autofreien Tage erinnern die im Roman thematisiert werden, auch wenn sie in Österreich anders geregelt wurden als in Deutschland. Es ist für mich immer wieder schön, gedanklich in die Vergangenheit, in diesem Fall in die 1970er Jahre zu reisen.

Während ich es zunächst für unmöglich ansah, dass Elsa Interesse an dem noch jungen Ich-Erzähler finden könnte, so fand er doch in kleinen Schritten das Vertrauen von ihr. Kaum zeigte sich die Möglichkeit einer beginnenden Romanze dreht der Autor unerwartet die bis dahin nur in eine Richtung weisende Erzählung in eine ganz andere. Was bis dahin eine überwiegend amüsante Geschichte war, wird zum Roadmovie mit reichlich bewegenden Momenten, wenn auch weiterhin mit heiterem Unterton. Die Dialoge mit durchweg kurzen Sätzen enthalten eine gehörige Portion Schmäh.

Bewusst lässt Wolf Haas seine Figur unbenannt, denn viele Leser werden deren Handlung gut nachvollziehen können und sich an deren Stelle fühlen, weil sie einiges so oder so ähnlich in ihrer eignen Pubertät empfunden haben. „Junger Mann“ ist ein Coming-of-Age-Roman, der zeigt, dass ein einziger Sommer die Gefühle eines Jugendlichen auf mannigfache Weise stark bewegen kann. Aufgrund der Situationskomik ergibt sich eine Heiterkeit, die auch bei ernsteren Themen nicht weicht. Gerne empfehle ich das Buch weiter.