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Veröffentlicht am 30.03.2018

Solider Krimi mit mehreren potentiellen Tätern, falschen Fährten und unerwarteten Wendungen

Neunauge
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„Neunauge“ von Till Raether ist der vierte Fall für Adam Danowski, dem inzwischen fest zur Abteilung „Operative Fallanalyse“ am Landeskriminalamt Hamburg gehörenden Hauptkommissar. Die Erhebungen auf der ...

„Neunauge“ von Till Raether ist der vierte Fall für Adam Danowski, dem inzwischen fest zur Abteilung „Operative Fallanalyse“ am Landeskriminalamt Hamburg gehörenden Hauptkommissar. Die Erhebungen auf der Oberseite des Brückenbogens auf dem Cover erinnern bei einem flüchtigen Blick an das Aussehen eines „Neunauges“, einem aalartigen Fisch, der zwar keine neun Augen hat, dessen ausgeprägte Kiemenspalten irrigerweise jedoch daran denken lassen. Zweimal schon wurde an unterschiedlichen Schulen eine mumifizierte Leiche im Keller gefunden, beide tragen Bissspuren eines Neunauges.

Seit den Ermittlungen zum dritten Fall „Fallwind“ sind zwei Jahre verstrichen und Adam Danowski wohnt während der Woche in einer kleinen Wohnung in der Nähe seiner Arbeitsstätte. Er befindet sich weiter in Therapie, aktuell soll er ein Tagebuch führen und drei Dinge täglich aufschreiben, die ihn glücklich stimmen. Er erhält bei den Ermittlungen Unterstützung von einem der bekanntesten Fallanalytiker Deutschlands, der in München beheimatet ist und schnell zu dem Ergebnis kommt, dass Mobbing als Tatmotiv anzunehmen ist. Danowski kommt nicht gut zurecht mit der Art des unterstützenden Kollegen. Prekär wird die Lage für ihn als seine Kollegin Meta Jurkschat, die sonst streng nach Vorschrift arbeitet, ihn darum bittet, ihre frühere Beziehung mit einem der Opfer zu verschweigen, weil sie ansonsten Probleme bei ihrer eventuellen Beförderung sieht. Stattdessen beginnt sie auf eigene Faust zu ermitteln.

Beide Morde liegen Jahre auseinander, die Leichenfunde allerdings nur ein paar Wochen. Durch die Bisse des Neunauges werden die Fälle in direkten Zusammenhang gebracht. Lehrer, Eltern und Schüler anderer Schulen in Hamburg sind höchst aufgeregt und vermuten weitere Funde, eventuell mordet der Täter sogar aktuell weiter. Eine schnelle Aufklärung ist nötig.

Eigentlich hat Danowski inzwischen zu einem gewissen Gleichgewicht in seinem Leben gefunden. Die Zusammenarbeit mit dem Münchner Kollegen wühlt ihn jedoch auf, die Bitte seiner Kollegin bringt ihn in einen Gewissenszwiespalt. Die Ermittlungen nehmen erst an Fahrt auf, als Meta und Finzi, der Ex-Partner von Danowski und jetzige Lebenspartner von Meta, auf Hinweise zum möglichen Mordmotiv stoßen, das außerhalb des schulischen Umfelds liegt und vom Thema her noch wenig benutzt ist. Bis dahin hat Till Raether geschickt Spuren ausgelegt, die er einerseits in eine Richtung führt, andererseits hat er Szenen eingeflochten, die noch nicht zum Gesamtbild passen und daher zum Miträtseln anregen.

Ich schätze es, dass die Figuren ein Privatleben haben dürfen, das regelmäßig in den Fall hinein spielt. Auf diese Weise glaubt man die Protagonisten besser zu kennen und fiebert mit, ob sie sich in brenzligen Situationen behaupten werden. Lediglich die Darstellung einiger Schilderungen mit Gewaltanwendung bei die Ermittler persönlich betroffen sind finde ich etwas übersteigert. Über allem liegt wieder der manchmal ironische, oft amüsante und immer unterhaltsame Plauderton mit dem Till Raether seine Kriminalromane erzählt.

Mit „Neunauge“ ist Till Raether wieder ein solider Krimi gelungen, in dem er mehrere Täter präsentiert, falsche Fährten auslegt und für unerwartete Wendungen sorgt, so dass der Spannungsbogen nicht abbricht. Daher empfehle ich das Buch gerne an Krimileser und vor allem an Fans von Danowski & Co.

Veröffentlicht am 26.03.2018

Der abschließende Band eines unvergesslichen Stücks Literatur

Die Geschichte des verlorenen Kindes
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„Die Geschichte des verlorenen Kindes“ ist der vierte und abschließende Band einer Romanserie von Elena Ferrante, die sich rund um die Freundschaft der inzwischen 66-jährigen Ich-Erzählerin Elena und ihrer ...

„Die Geschichte des verlorenen Kindes“ ist der vierte und abschließende Band einer Romanserie von Elena Ferrante, die sich rund um die Freundschaft der inzwischen 66-jährigen Ich-Erzählerin Elena und ihrer gleichaltrigen Freundin Raffaella dreht. Die Erzählung umfasst die beiden Teile „Reife“ und „Alter“ sowie einen Epilog. Das Buch beginnt mit Elenas Rückblick auf die Zeit Ende der 1970er Jahre, in denen ihre Ehe scheiterte und sie schließlich zum Schreiben nach Neapel zurückkehrte. Der Titel des vierten Teils verhüllt ein tragisches Geheimnis, das erst nach etlichen Seiten im Buch gelüftet wird. Wieder ist der Geschichte ein Verzeichnis der handelnden Personen mit einer Kurzfassung zu den bisherigen wichtigsten Ereignissen vorweg gestellt. Dennoch entfaltet sich der volle Lesegenuss nur bei Kenntnis der vorigen Bände. Die Übersetzung von Karin Krieger ließ die Handlung für mich bis ins Detail verständlich werden.

Elenas Ehe steckt in der Krise seit aus ihrer Jugendschwärmerei Liebe geworden ist, die erwidert wird. Nach vielen Auseinandersetzungen mit ihrem Ehemann Pietro zieht sie schließlich mit ihren beiden Kindern in eine Wohnung, die ihr Geliebter ihr in Neapel gemietet hat in einer ansehnlichen Gegend. Inzwischen ist aus Lila, wie sie Raffaella seit Kindertagen nennt, eine erfolgreiche Unternehmerin geworden. Lila hat den Rione, die Gegend Neapels in der sie lebt, nie verlassen. Bei ihren Besuchen nimmt Elena die Spannungen dort wahr, die durch die kriminellen Organisationen des Viertels hervorgerufen werden.

Im Laufe der Zeit erfährt sie immer mehr über das geheime Leben ihres Geliebten. Zwar wird sie als Autorin auch weiterhin wahrgenommen, aber für einen weiteren neuen längeren Roman hat sie keine guten Einfälle. Sie möchte gerne unabhängig leben, jedoch verschlechtert sich ihre finanzielle Situation zunehmend. Als ihr ein Vorschuss zu einem Roman angeboten und eine erste Abgabefrist gesetzt wird, fällt ihr der Entwurf zu einer Geschichte ein, die sie vor Jahren geschrieben hat und die im Rione spielt. Um die Erzählung zu überarbeiten nimmt sie den Vorschlag von Lila an, in die Wohnung über ihr zu ziehen, auch damit die Umgebung auf sie wirken kann. In den folgenden Jahren unterstützen sich die Freundinnen gegenseitig in der Betreuung ihrer Kinder bis eines davon verloren geht.

Bereits am Ende des dritten Bands deutete sich an, dass Elena mit ihrem Leben nicht zufrieden ist. Nun sucht sie zu Beginn es abschließenden Teils den direkten Vergleich mit Lila in einem ständigen Kampf um den Vorrang, der durch Kriterien bestimmt wird die alleine Elena festlegt und bei denen finanzielle Unabhängigkeit und Ansehen weit oben stehen. Obwohl beide Frauen so unterschiedliche Wege eingeschlagen haben, möchte Elena ihrer Freundin vor allem als gute Mutter in nichts nachstehen, an einer entsprechenden Kritik durch Lila reibt sie sich auf. Doch von ihrer neuen Liebe lässt sie dennoch nicht ab, obwohl sie die Nachteile für ihre Töchter sieht. Sie genießt die neue Zuwendung und ignoriert alle gutgemeinten Ratschläge.

Lila hat sich inzwischen ein Netzwerk an Seilschaften geschaffen, die sie und ihr Unternehmen stützen, um damit in einer Welt der Korruption zurecht zu kommen. Sie scheut sich nie, ihrer Freundin die Realität nahe zu bringen. Von Elena wird das skeptisch gesehen und sie ist sich nie sicher, ob Lila ihr mit ihren Aussagen nicht schaden möchte. Nach einem schweren Erdbeben, das die Freundinnen erleben, findet Lila Worte für ihre Empfindungen, die nicht nur ihre Freundin berühren und wodurch ich neben Elena einen ungeschönten Blick auf Lila werfen konnte. Sie ist keine Konstante in ihrer Welt, sondern ängstigt sich davor durch nicht voraussehbare Variablen ins Trudeln zu geraten und die selbst geschaffene Sicherheit zu verlieren.

In ihrer Zeit in Neapel geben die Freundinnen sich gegenseitig Kraft und Halt, während dabei sowohl Stolz als auch Neid aufeinander, Hass und Verständnis zum Tragen kommen. Mit dem vierten Band konnte ich nochmals tief in Elenas und Lilas Gefühlswelt eintauchen und mit ihnen Höhen und einen besonders schweren Schicksalsschlag erleben. Der Epilog schließt den Kreis zum Prolog der Serie. Elena Ferrante hat mit ihrer Romanreihe ein Stück unvergessliche Literatur geschaffen, dem ich meine uneingeschränkte Leseempfehlung gebe.

Veröffentlicht am 25.03.2018

Jugendroman mit viel Spaß und Tiefgang

DUMPLIN'
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Der Roman „Dumplin‘ – Go Big Or Go Home“ von Julie Murphy besticht durch ein auffälliges Cover mit schwarzem Hintergrund und weißer Schrift, einer kleinen Krone im oberen Drittel und einer stilisierten ...

Der Roman „Dumplin‘ – Go Big Or Go Home“ von Julie Murphy besticht durch ein auffälliges Cover mit schwarzem Hintergrund und weißer Schrift, einer kleinen Krone im oberen Drittel und einer stilisierten vollschlanken Figur im roten Abendkleid, die sich in ihrer Pose dem Leben öffnet. Die Gestaltung hängt eng mit der Erzählung zusammen, denn die 16-jährige übergewichtige Protagonistin Willowdean bewirbt sich um die Krone, die jede Gewinnerin des ältesten Schönheitswettbewerbs von Texas erhält. Der Titel „Dumplin‘“ ist Willowdeans Kosenamen, den ihr ihre Mutter gegeben hat. Er lässt sich ins Deutsche mit „Knödel“ oder „Pummelchen“ übersetzen. Der Zusatz im Titel bedeutet, dass man zu etwas stehen oder es sein lassen soll. Wessen Herz nicht bei der Sache ist, der sollte damit erst gar nicht beginnen.

Willowdean, kurz Will genannt, wohnt in der texanischen Kleinstadt Clover City. Mit ihrer selbstbewussten Art ist sie bei vielen beliebt. Sie arbeitet an der Kasse eines Fast-Food-Ladens und trifft dort auf den gutaussehenden Bo, der sich entgegen ihrer Erwartung für sie interessiert. Einige Mitschüler mobben Will in der Schule wegen ihrer molligen Figur und auch ihre Mutter legt ihr immer wieder nahe, abzunehmen. Eigentlich fühlt sie sich bisher gut mit den überflüssigen Pfunden, doch je mehr Bo sich ihr nähert, desto größer werden ihre Bedenken, dass ihm ihr Körper zu füllig sein könnte und er sich dann doch noch von ihr abwenden wird. Den jährlichen Schönheitswettbewerb kann sie nicht ignorieren, weil ihre Mutter ihn in ihrer eigenen Jugend gewonnen hat und seit Jahren den Vorsitz im Planungsausschuss einnimmt. Doch statt den Kilos den Kampf anzusagen, stellt Will sich der großen Herausforderung und meldet sich zum Wettbewerb an.

Will und einige Personen, die sie sehr gerne mag, sind große Verehrerinnen der US-Amerikanischen Country-Sängerin Dolly Parton. Deren Songs beleben die Geschichte und gaben mir beim Lesen den einen oder anderen Ohrwurm. Dolly’s Marotte ist es, seit Jahren ihren Körper zahlreichen Schönheitsoperationen zu unterziehen. Sie steht dazu und bleibt trotz dieser körperlichen Veränderungen glaubwürdig mit der Aussagekraft ihrer Songs und ihrem Handeln. Das bewundert auch Will. Die Erzählung wird von ihr in der Ich-Form erzählt, was mir die Möglichkeit gab an ihrer Gefühls- und Gedankenwelt teilzuhaben. Mit den gegen ihre Korpulenz gerichteten Beleidigungen geht sie lässig um und ist um keine Antwort verlegen. Ganz im Gegenteil nimmt sie auch gerne Mitschülerinnen in Schutz, die ähnlich wie sie von anderen schikaniert werden. In dieser Hinsicht bewundert sie ihre langjährige Freundin Ellen, die sehr groß ist und noch selbstbewusster auftritt als sie selbst.

Ich war auf den ersten Seiten über die Art und Weise überrascht wie Will über ihre eigene und die Unzulänglichkeiten ihrer Mitschülerinnen hinweist ohne etwas zu Beschönigen. Doch der Grundton, den die Autorin in ihrer Erzählung anschlägt ist locker-leicht und auch witzig. Dennoch hat das Buch jede Menge Tiefgang. Julie Murphy macht dem Leser in ihrem Buch deutlich, dass es egal ist, wie man aussieht, denn nur die innere Einstellung zählt. Die Selbstverwirklichung, nach der wir streben, zu erreichen ist zwar großartig, gleichzeitig ist es anstrengend, den erreichten Level zu halten. Freundschaft, verbunden mit Zusammenhalt stärkt uns in jeder Lebensphase. Gemeinsam durchleben wir Höhen und Tiefen und müssen nicht immer einer Meinung sein. Gegenseitiger Respekt gehört dazu und das Einlassen auf einen Antrag zur Versöhnung.

Von Beginn an macht die Autorin allerdings auch deutlich, dass jemand mit zu großem Übergewicht gesundheitliche Probleme bekommen kann. Dazu führt sie Will’s Tante Lucy als Beispiel an, deren plötzlicher Tod vor einiger Zeit ihre Nichte immer noch traurig stimmt. Lucy hat aber auch auf viele Vergnügungen verzichtet, weil sie glaubte, diese nicht ausführen zu können. Will entscheidet sich aufgrund der Erfahrungen von Lucy dafür, in ihrem eigenen Leben viel mehr auszuprobieren.

Die Charaktere sind liebevoll und originell gestaltet, die Handlung beeindruckt durch manche unerwartete Wendung. Neben einer Auseinandersetzung zum Mobbing unter Jugendlichen enthält der Roman ebenso eine Konfrontation mit dem Umgang von Meinungsverschiedenheiten mit Freunden und eine romantische Liebesgeschichte. „Dumplin‘ – go big or go home“ macht einfach Spaß, weil die vergnüglichen Szenen die ernsten überspielen. Daher empfehle ich den Roman gerne weiter an Jugendliche ab 13 Jahren, aber auch an junge Erwachsene und Ältere.

Veröffentlicht am 20.03.2018

Wagemutiges Abenteuer eines verwegenen Helden, der seinen Träumen nachging

Louis oder Der Ritt auf der Schildkröte
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Der Roman mit dem verwegenen Titel „Louis oder Der Ritt auf der Schildkröte“ ist der erste aus der Feder von Michael Hugentobler. So ein wenig lässt der Titel bereits ahnen, dass die Geschichte in Richtung ...

Der Roman mit dem verwegenen Titel „Louis oder Der Ritt auf der Schildkröte“ ist der erste aus der Feder von Michael Hugentobler. So ein wenig lässt der Titel bereits ahnen, dass die Geschichte in Richtung Abenteuer geht. Louis ist der Protagonist des Romans, Louis de Montesanto hat der Autor seinen Protagonisten mit vollständigem Namen benannt. Das fiktive Leben der Hauptfigur ist angelehnt an eine reale Person, nämlich an die des Schweizers Louis de Rougemont. Der Titel steht in Bezug zu einem Foto, das den Louis des Romans gemeinsam mit einer Schildkröte zwischen den Beinen zeigt, so dass leicht der Eindruck entsteht, er würde auf ihr reiten. Aber vielleicht hat er das ja auch.

Geboren wurde Louis als Hans Roth in einem kleinen Dorf in den Schweizer Bergen Mitte des 19. Jahrhunderts. Sein Vater war Kutscher und starb vier Jahre nach seiner Geburt. Im Verhältnis zu seinem Kopf war sein Körper recht klein, so dass er physisch auffiel. Bereits als Kind wurde er verspottet und daher verließ er seine Heimat mit dreizehn Jahren, um sein Glück in der Fremde zu suchen. Nach einigen Monaten beim Pfarrer im Tal nahm er dort seinen Abschied und zog durch die Gegend. Seinen Lebensunterhalt sicherte er mehrere Jahre lang durch Gelegenheitsjobs. Als er die Schauspielerin und Schriftstellerin Emma kennen lernt folgt er ihr nach Paris, um ihr den Haushalt zu führen. Hier wird Hans zu Louis. Das ist jedoch erst der Beginn einer langen Reise, die ihn nach England, Amerika, Australien und viele weitere Orte der Welt bringt. Kurz vor der Jahrhundertwende wird er für seine Reiseerzählungen bekannt und bei einem wichtigen Vortrag in London als Lügner tituliert.

Michael Hugentobler liebt das Reisen und lässt seine Leidenschaft in seinen Roman einfließen. Mit Louis de Rougemont hat er ein Vorbild für seinen Protagonisten gefunden, das wenig bekannt, aber überaus interessant ist. Was von den Geschichten, die der reale Louis erzählte, tatsächlich wahr ist, bleibt rätselhaft. Für seinen eigenen Louis erfindet der Autor einen ganz eigenen Ablauf der Erlebnisse, die heldenhaft, verträumt, versponnen und manchmal auch grotesk sind. Unterbrochen werden die Schilderungen durch einen Sprung in die 1960er Jahre in der eine Australierin, offensichtlich auf den Spuren von Hans Roth, die Szene betritt. Diese rätselhafte Gestalt nimmt im Laufe der Erzählung immer mehr Konturen an. Neben unerwarteten Wendungen im Leben von Louis sorgt sie für einen geheimnisvollen Touch der Erzählung.

Der Roman zeigt auf, dass die Menschen sich immer schon für tollkühne, aberwitzige Geschichten besonders interessiert haben, wenn sie gut erzählt und präsentiert wurden. Dazu reichte das Printmedium der Zeitschrift oder Zeitung bereits aus, unterstützt von Mund-zu-Mund-Propaganda. Auch die damaligen Konsequenzen ähneln den heutigen, denn sobald ein vermeintliche Lüge aufgedeckt wird, echauffieren sich die Gutgläubigen, wenden sich im besten Fall ab und im schlechteren sorgen sie für weitere Häme des Betroffenen.

„Louis oder der Ritt auf der Schildkröte“ ist das wagemutige Abenteuer eines verwegenen Helden, der seinen Träumen nachgegangen ist und sich dabei gelegentlich in ihnen verstrickt hat. Der Roman erzählt von der Liebe, dem Leben eines Freigeistes, nicht ohne dabei die Schattenseiten der Unabhängigkeit zu vergessen. Ich empfehle den Roman allen Leser, die sich gedanklich gerne auf ereignisreiche Reisen begeben.

Veröffentlicht am 15.03.2018

Verkopplung einer erwachenden Liebe und der aufregenden Aufklärung eines Selbstmords

Nackt über Berlin
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„Nackt über Berlin“ ist der Debütroman von Axel Ranisch, der in Berlin lebt und hier auch seine Geschichte überwiegend spielen lässt. Die Handlung spielt im Herbst 2015, die Kapitel sind entsprechend mit ...

„Nackt über Berlin“ ist der Debütroman von Axel Ranisch, der in Berlin lebt und hier auch seine Geschichte überwiegend spielen lässt. Die Handlung spielt im Herbst 2015, die Kapitel sind entsprechend mit dem jeweiligen Tag betitelt. Das Cover ist auffällig gestaltet und deutet bereits an, dass hier wohl jemand „in die Pfanne gehauen“ wird.

Die Erzählung hat mehrere Protagonisten, einer davon ist der übergewichtige 16-jährige Jannik, der weite Strecken lang als Ich-Erzähler fungiert. Eine weitere Hauptfigur ist sein gleichaltriger Mitschüler und Freund Tai, der vietnamesischer Herkunft ist. Sie werden von Freunden und Bekannten auch „Fetti“ und „Fidschi“ gerufen. Während Jannik ein großer Freund klassischer Musik ist, hält Tai seinen Alltag mit einem Camcorder fest.

Eines Tages sammeln sie den Rektor ihrer Schule, Jens Lamprecht, von der Straße auf und bringen ihn, stark alkoholisiert, zu seinem Appartement im 25. Stock eines Neubaus. Hieraus resultiert der Titel des Buchs, weil Herr Lamprecht sich im Folgenden teilweise unbekleidet hier aufhält. Den Hausschlüssel nehmen Tai und Jannik mit. Tai ist durch Verwandte und Bekannte mit den Räumlichkeiten vertraut. Gemeinsam beginnen die beiden ein perfides Spiel mit dem Rektor. Für Herrn Lamprecht als weiterer Protagonist des Romans ist die Situation zunächst gar nicht so schlimm, doch im weiteren Zeitablauf gehen seine Vorräte langsam zur Neige. Dadurch gerät auch seine Stimmung in Schieflage. Tai und Jannik sorgen für immer neue Überraschungen. Allmählich beginnt das Gewissen Jannik zu drücken. Wird er handeln und das Spiel beenden?

Jannik hat ein Jahr vorher die Schule gewechselt. Jetzt ist er froh, dass er in Tai einen guten Freund gefunden hat, der nicht nur seine Liebe zur Klassik akzeptiert sondern auch gerne mithört. Bisher hat Jannik sich noch nicht verliebt, ahnt aber bereits, dass Mädchen dabei keine Rolle spielen werden. Zunächst ist er sich noch nicht sicher, aber immer mehr fühlt er sich zu Tai hingezogen. Die beiden reden in einem jugendlichen Slang, der manchmal auch unter die Gürtellinie geht, durch den beide sich aber ihrer Generation zugehörig fühlen.

Neben der Story, die Jannik aus seiner Sicht erzählt, wechseln die Kapitel später immer wieder zu Herrn Lamprecht. Diese Teile werden von einem allwissenden Erzähler geschildert. Mit wenigen Sätzen beschreibt Jannik zu Beginn der Geschichte seinen Rektor mit Ecken und Kanten und durchaus nicht bei allen beliebt. Ganz am Rand taucht der Selbstmord einer Mitschülerin auf, der immer mehr in den Fokus rückt. Während Jannik mit seiner erwachenden Liebe kämpft, gerät Herr Lamprecht durch die Einsamkeit mit immer neuen Widrigkeiten in derartige Seelennöte, die ihn dazu bringen über verschiedene Stationen seines Lebens nachzudenken und neu zu bewerten. Das Handeln von Jannik und Tai versucht der Autor zwar zu erklären, doch die Konsequenzen ihrer Aktion halte ich für unverhältnismäßig.

„Nackt über Berlin“ ist die Verkopplung einer erwachenden Liebe eines ungewöhnlichen Charakters und der aufregende Aufklärung eines Selbstmords. Dazu benutzt Axel Ranisch eine flotte, freie, humorvolle Sprache, die auch den ernsten Teil der Erzählung überlagert. Der Roman erhält dadurch einen besonderen Unterhaltungswert. Das Buch ist nicht für jeden geeignet, sondern eher für ältere Jugendliche und Erwachsene, die über die Auseinandersetzung von Jugendlichen mit der Adoleszenz lesen wollen und vor Übermut, der auf die Spitze getrieben wird, nicht zurück schrecken.