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Veröffentlicht am 29.06.2021

Ähnlichkeiten vorhanden

Die Töchter des Nordens
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Der Klimawandel und dessen Auswirkungen auf Politik, Wirtschaft und Gesellschaft haben England in die Knie gezwungen. Die Umwelt ist zerstört, die wenigen Nahrungsmittel werden in Konserven aus Amerika ...

Der Klimawandel und dessen Auswirkungen auf Politik, Wirtschaft und Gesellschaft haben England in die Knie gezwungen. Die Umwelt ist zerstört, die wenigen Nahrungsmittel werden in Konserven aus Amerika geliefert. Das freudlose Dasein der Menschen ist aufs Überleben reduziert. Sie hausen zusammengepfercht auf engstem Raum, gehen sinnloser Arbeit nach, die ihnen von ihrer totalitären Regierung zugewiesen wird, Frauen werden zur Verhütung gezwungen. Eigenständiges Denken ist unerwünscht, jeglicher Form von Kritik wird mit Gewalt begegnet. Unterdrückung und totale Kontrolle, wohin man schaut.

Nicht alle beugen sich diesem Joch. Auf den Hügeln des Lake District bewirtschaftet das kämpferisches Frauenkollektiv von Carhullen, an dessen Spitze die charismatische, militärisch ausgebildete Jackie steht, eine Farm nach den alten Methoden. Die Frauen sind Selbstversorger, bewegen sich unterhalb des Radars der Regierung, aber trainieren auch für den Ernstfall.

Dorthin bricht Schwester, die Ich-Erzählerin, eines Tages auf. Sucht nach Selbstbestimmung und einem besseren Leben. Aber auch diese feministische Utopie hat ihre Schattenseiten, es gibt nicht nur den Gruppenzwang. Auch von außen wächst der Druck, bedroht das Leben in den Hügeln, da die Existenz der rebellischen Frauen den offiziellen Stellen ein Dorn im Auge ist. Das Überleben des Kollektivs steht auf dem Spiel, und so dauert es nicht lange, bis Schwester und ihre Mitstreiterinnen sich zwischen Gewalt oder Kapitulation entscheiden müssen.

Der Roman kann die Ähnlichkeit mit Atwoods „Magd“ nicht leugnen, aber Sarah Hall hat sich zu wenig Platz für ihre Themen genommen und bleibt deshalb weitgehend an der Oberfläche. Die dystopische Gesellschaft und das feministische Utopia, das Kollektiv und die Anführerin, die individuelle Selbstbestimmung und der Gruppenzwang, die Unterordnung und die Rebellion. Die Beschreibungen/Ausarbeitungen sind genauso unbefriedigend wie der Schluss, der völlig unvermittelt und ohne große Erklärung daherkommt.

Lobend erwähnen hingegen muss man die großartigen Landschaftsbeschreibungen Cumbrias. Wer die Gegend kennt, wird mir zustimmen: Das ist Nature Writing vom Feinsten.

Veröffentlicht am 25.06.2021

Nur wer die Vergangenheit kennt...

Die Glasperlenmädchen
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Zwei Protagonistinnen, zwei Zeitebenen und zwei komplett verschiedenen Leben, die doch verbunden sind.

Hannie, Tochter einer Sklavin, aufgewachsen auf dem Gossett-Anwesen in Louisiana, deren Familie unmittelbar ...

Zwei Protagonistinnen, zwei Zeitebenen und zwei komplett verschiedenen Leben, die doch verbunden sind.

Hannie, Tochter einer Sklavin, aufgewachsen auf dem Gossett-Anwesen in Louisiana, deren Familie unmittelbar nach dem Sezessionskrieg getrennt und an verschiedene neue Besitzer verkauft wird. 1875, zehn Jahre später, macht sich die junge Frau auf die Suche nach ihren Wurzeln.

Benny, frischgebackene Lehrerin, die mit großem Engagement 1987 ihre erste Stelle in einem Problemviertel antritt und die Hoffnung nicht aufgibt, ihre desinteressierten Schüler durch das hautnahe Erleben der Historie ihrer Vorfahren zu sensibilisieren, ihnen den strukturellen Rassismus ihrer Gesellschaft über die Jahrhunderte hinweg aufzuzeigen. Damit sie ihr Erbe erkennen, verstehen, Veränderung suchen.

Das verbindende Element zwischen diesen beiden Erzählsträngen in Vergangenheit und Gegenwart ist das mittlerweile verlassene Herrenhaus der Gossetts, dessen Geschichte und dessen Geheimnisse…

Lisa Wingates „Die Glasperlenmädchen“ thematisiert einen wichtigen und oft vernachlässigten Aspekt der Sklaverei und somit auch der Geschichte des schwarzen Amerika. Familien wurden auseinandergerissen, die Kinder rücksichtslos von ihrer Familie getrennt. Wer sich damit nicht abfinden und etwas über den Verbleib seiner Angehörigen herausfinden wollte, hatte – wenn überhaupt – nur sehr eingeschränkte Möglichkeiten. Eine davon war die Kolumne „Lost Friends“ in der methodistischen Zeitung „Southwestern Christian Advocate“, die nicht nur Abonnenten sondern auch Predigern zuging. Letztere waren aufgefordert, diese Suchanzeigen im Anschluss an ihre Predigten zu verlesen, um so Hinweise auf vermisste Familienmitglieder zu erhalten. Bis in die heutige Zeit kümmert sich die „Historic New Orleans Collection“ und stellt dafür Suchenden eine Datenbank mit den relevanten Informationen all jenen zur Verfügung, die auf der Suche nach ihren Vorfahren, ihren Wurzeln sind.

Ein berührender Roman, der weitgehend auf Sentimentalitäten verzichtet und einmal mehr zeigt, dass man die Gegenwart nur dann verstehen und verändern kann, wenn man die Vergangenheit kennt.

Veröffentlicht am 22.06.2021

Über Leben

English Monsters
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Britische Internate sind schlechter als ihr Ruf. Sie haben zwar den Anspruch, die künftige Elite der Upper Class zu erziehen, aber wenn man in der jüngeren Vergangenheit die Artikel der englischen Presse ...

Britische Internate sind schlechter als ihr Ruf. Sie haben zwar den Anspruch, die künftige Elite der Upper Class zu erziehen, aber wenn man in der jüngeren Vergangenheit die Artikel der englischen Presse verfolgt hat, stellt man schnell fest, dass viele Kinder dort ein unsägliches Martyrium erdulden mussten.

So auch Max Denyer, der, als die unbeschwerten Kindheitstage bei den Großeltern vorbei sind und seine abwesenden Eltern die Erziehung in die Hände des Lehrpersonals der Schule auf dem Hügel legen, den Übergriffen der „English Monsters“ ausgesetzt sein wird. Dort geht es weniger um das Vermitteln von Fähigkeiten und das Formen der Persönlichkeit, sondern vielmehr um deren Auslöschung, das Brechen des Willens. Psychische und physische Gewalt ist Usus, Unterdrückung, an der Tagesordnung, und obwohl wir das Jahr 1986 schreiben, ist das an den Privatschulen noch immer erlaubt. Die Lehrer agieren allesamt in einem rechtsfreien Raum und nutzen das weidlich aus, ganz gleich, ob sie wie „Crimble“ sanftmütig erscheinen oder ihre Brutalität offen ausleben. Und der tatterige Schulleiter? Lässt seinem Kollegium freie Hand und setzt selbst gerne die Reitpeitsche ein. Insbesondere die Übergriffe des Geschichtslehrers „Weapons“ Davis machen nicht nur Max das Leben zur Hölle. Der Alltag schweißt zusammen, geteiltes Leid ist halbes Leid. In Simon und Luke findet er nicht nur Leidensgenossen sondern auch eine Freundschaft, die die Zeit überdauert. Aber dennoch gibt es Dinge, über die sie schweigen. Bis ins Erwachsenenleben hinein.

Ein aufwühlender Roman, brutal und zärtlich zugleich, über ein menschenverachtendes Erziehungssystem, das auf Unterdrückung fußt und dessen traumatisierende Auswirkungen die Generationen überdauern. Aus dem Führungspersönlichkeiten in Politik und Wirtschaft hervorgehen, die einem eklatanten Mangel an Einfühlungsvermögen, an Empathie für ihre Mitmenschen haben.

1998 wurde die Prügelstrafe an Privatschulen in England und Wales abgeschafft, in Schottland 2000 und in Nordirland 2003.

Veröffentlicht am 20.06.2021

Ein hochpolitischer Krimi auf der Höhe der Zeit

Der Tintenfischer
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Die Serenissima ist im Lockdown-Modus und zeigt sich in ihrer ganzen Pracht. Die Straßen sind wie ausgestorben, durch das Ausbleiben der unsäglichen Kreuzfahrtschiffe samt ihrer Passagiere kann man endlich ...

Die Serenissima ist im Lockdown-Modus und zeigt sich in ihrer ganzen Pracht. Die Straßen sind wie ausgestorben, durch das Ausbleiben der unsäglichen Kreuzfahrtschiffe samt ihrer Passagiere kann man endlich wieder die Schönheit der Lagunenstadt bewundern. Aber das Verbrechen schläft nie. Seien es die Möwen, die es auf das Panino in Morellos Hand abgesehen haben oder die Bande, die sich die Angst der älteren Bewohner vor dem Virus zunutze macht und sich mit fadenscheinigen Begründungen Zutritt zu deren Wohnungen verschafft, um sie auszurauben. Wobei dies allerdings nur Nebenschauplätze sind, denn Dreh- und Angelpunkt in dem zweiten Band der Morello-Reihe des Autorenduos Schorlau/Caiolo ist der Selbstmordversuch eines nigerianischen Migranten, den Morellos Kollegin Anna Klotze glücklicherweise durch ihr beherztes Eingreifen vereiteln kann.

Menschenhandel, Zwangsprostitution, Drogen, Wirtschaftskriminalität, Korruption, Auftragsmord. In diesem Kriminalroman ist alles vertreten, was man mit dem Thema organisiertes Verbrechen in Verbindung bringt, ganz gleich, ob es die nigerianische Mafia oder die sizilianische Cosa Nostra betrifft. Es ist bereits seit langem bekannt, dass Sizilien der europäischen Anlauf- und Stützpunkt für die nigerianischen Geheimbünde und Bruderschaften, wie beispielsweise die Schwarze Axt, ist. Weniger bekannt ist wahrscheinlich die Tatsache, dass deren Aktivitäten seit langem eng mit denen der Cosa Nostra verbunden sind.

Aber wie wir es schon aus der Dengler-Reihe Schorlaus kennen, haben die Autoren ihre Hausaufgaben gemacht, diese Thematik akribisch recherchiert (entsprechende Verweise werden genannt) und die Ergebnisse in Handlung einfließen lassen. Ich begrüße diese Vorgehensweise, zeigt sie doch im Detail auch die Verflechtungen der kriminellen Organisationen mit der Politik sowie deren Einflussnahme, wenn es beispielsweise um die Verteilung von EU-Geldern geht (siehe dazu das Projekt „Ponte sullo Stretto di Messina“).

Ein hochpolitischer Krimi auf der Höhe der Zeit, den man ohne Kenntnis des Vorgängers lesen kann. Nachdrücklich empfohlen!

Veröffentlicht am 19.06.2021

Tod auf der Belle-Île-en-Mer

Bretonische Idylle
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Die Dupin-Reihe des Wahlbretonen Jean-Luc Bannalec aka Jörg Bong lese ich nicht wegen der Krimihandlung, die, wie auch in „Bretonische Idylle“, üblicherweise nach den klassischen Mustern aufgebaut ist ...

Die Dupin-Reihe des Wahlbretonen Jean-Luc Bannalec aka Jörg Bong lese ich nicht wegen der Krimihandlung, die, wie auch in „Bretonische Idylle“, üblicherweise nach den klassischen Mustern aufgebaut ist und kaum Überraschungen bietet. Womit der Autor punktet, sind die detaillierten und tiefgehenden Beschreibungen der verschiedenen Handlungsorte. In jedem Band sucht sich der Autor eine andere Region aus, nimmt uns mit und bringt uns nicht nur die Landschaft sondern auch die Eigenheiten dieser Landstriche nahe. Und das macht er sehr gut, teilweise weitaus besser als die meisten Reiseführer, die meist an der Oberfläche bleiben, auf Landschaftsbeschreibungen fokussiert sind, und sich weniger um jahrzehntelang gewachsene Strukturen kümmern. Also eine Krimi-Reihe mit Mehrwert, insbesondere dann, wenn man ein Faible für den Nordwesten Frankreichs und/oder Meerweh hat.

Im vorliegenden 10. Fall ermittelt Kommissar Dupin, unterstützt von dem Insel-Commandanten und natürlich seinen Kollegen Kadeg und Riwal, auf der größten bretonischen Insel Belle-Île-en-Mer. Riwal stammt von dort und versorgt seinen Vorgesetzten mit allerhand Informationen, nicht nur zu deren Geschichte und Mythen sondern auch zu den persönlichen Beziehungen und Animositäten der Inselbewohner. Und letztere sind in dem aktuellen Mordfall zur Genüge vorhanden, denn das Mordopfer war beileibe kein angenehmer Zeitgenosse. Der vermögende Schafbaron Patric Provost lag offenbar mit jedem Insulaner im Clinch, sperrte sich gegen Neuerungen und setzte den Einfluss, den ihm Geld und Ländereien boten, gnadenlos zum Nachteil seiner Nachbarn und Pächter ein. Aber dann geschieht ein weiterer Mord…

Die Story an sich ist eher mäßig spannend und behäbig. Der Handlungsort ist ein geschlossenes System, ein „closed room“, die Anzahl der Verdächtigen ist übersichtlich, Motive sind reichlich vorhanden, laufen aber immer wieder auf das gleiche hinaus, die Auflösung nicht überraschend, aber stimmig.

Dem gegenüber stehen die atmosphärischen Beschreibungen von allem, was dieses bretonische Kleinod zu bieten hat. Die Menhire und die Strände, die unterschiedlichen Vegetationen und die Fauna, alles sehr bildhaft in Szene gesetzt. Eine engagierte Werbung des passionierten Wahlbretonen, die die Begehrlichkeit der Leserin weckt, diese schöne Gegend mit eigenen Augen zu sehen. Und offenbar hat auch der Regionalrat der Bretagne erkannt, dass der Autor ein engagierter Botschafter für die Region ist und ihm deshalb bereits 2016 den Titel „Mäzen der Bretagne“ verliehen.