Profilbild von Havers

Havers

Lesejury Star
offline

Havers ist Mitglied der Lesejury

Melde dich in der Lesejury an, um dich mit Havers über deine Lieblingsbücher auszutauschen.

Anmelden

Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 06.04.2024

MI6 und Der dritte Mann

Das Haus am Gordon Place
0

Dass Karina Urbach spannende Spionagethriller schreiben kann, hat sie hinlänglich mit dem 2017 „Cambridge 5 – Zeit der Verräter“ (unter dem Pseudonym Hannah Coler veröffentlicht) bewiesen.

Nun also „Das ...

Dass Karina Urbach spannende Spionagethriller schreiben kann, hat sie hinlänglich mit dem 2017 „Cambridge 5 – Zeit der Verräter“ (unter dem Pseudonym Hannah Coler veröffentlicht) bewiesen.

Nun also „Das Haus am Gordon Place“, ein Kriminalroman, erzählt auf zwei Zeitebenen samt der dazugehörigen Handlungsorte: In der Gegenwart wird in der Wohnung eines Historikers im Londoner Stadtteil South Kensington eine Leiche gefunden, was den Geheimdienst auf den Plan ruft. Seltsam, oder? Um Motiv und Täter zu entschlüsseln, zeigt es sich sehr bald, dass dafür ein Ausflug in die Vergangenheit nötig ist.

Grund für das Interesse des Geheimdienstes ist Daphne Parson, eine ehemalige Bewohnerin im Haus am Gordon Place, was den Handlungsstrang in der Gegenwart mit dem der Vergangenheit verbindet. 1948 ist diese nämlich als Agentin für den MI6 tätig. Ihr Arbeitsplatz befindet sich in einem extra für diese Zwecke gegrabenen Tunnel in Wien, von dem aus eine Gruppe britischer Nachrichtenoffiziere den russischen Telefonverkehr abhört.

In einem dieser Telefonate erkennt Parson die Stimme eines SS-Schergen wieder. Eine Stimme, die sie in die Vergangenheit in Griechenland zurück versetzt und ein altes Trauma wieder aufleben lässt. Ihr Wunsch nach Rache wird übermächtig, aber dafür muss sie unbemerkt in den russischen Sektor gelangen. Eine Möglichkeit bietet sich förmlich an, denn genau zu dieser Zeit laufen im unterirdischen Wien die Vorbereitungen für die Verfilmung von Graham Greenes „Der dritte Mann“. Und was könnte unverfänglicher sein, als sich unter die zahlreichen Hilfskräfte am Drehort zu schmuggeln? Und dann ist da ja auch noch ein Goldschatz, dessen Verbleib bis heute nicht hinreichend geklärt ist.

Die Historikerin Karina Urbach zeichnet in ihrem Roman ein realistisches Bild der Wiener Nachkriegszeit. Es ist die Anfangszeit des Kalten Krieges, im geteilten Wien sind die Siegermächte bemüht, Informationen über die Gegenseite zu sammeln und sich dadurch Vorteile zu sichern. Spione treiben ihr Unwesen, beäugen sich misstrauisch, wechseln die Seiten. Elend, Mangel und Hunger bestimmen den Alltag der einfachen Menschen, die für eine Scheibe Brot Skrupel und Moral vergessen.

Frau Urbach hat ihre Hausaufgaben gemacht, was nicht nur aus dem Nachwort sondern auch aus dem umfangreichen Quellenmaterial ersichtlich ist. Viele der Akteure haben reale Vorbilder, allen voran Daphne Parson, die im Wesentlichen auf der MI6-Agentin Daphne Park, Baroness Park of Monmouth, basiert. Aber auch die Filmemacher Reed und Korda hatten offenbar Verbindungen zum britischen Geheimdienst, so dass bis heute in weiten Teilen völlig unklar ist, was sich in den Abwasserkanälen im Wiener Untergrund warum zugetragen hat. Diente der Film nur als Vorwand für größere,geheime Operationen? Wer weiß…

Höchst informativ, spannend und mit viel Tempo erzählt. Lesen. Unbedingt!

Veröffentlicht am 01.04.2024

Zwei Brüder, zwei Leben, ein Suizid

O Brother
0

John und Gary. Zwei Brüder. Zwei Leben, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Geboren in Irvine, einer schottischen Kleinstadt, setzt John, der Ältere, alles daran, diese zu verlassen. Guter Schüler, ...

John und Gary. Zwei Brüder. Zwei Leben, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Geboren in Irvine, einer schottischen Kleinstadt, setzt John, der Ältere, alles daran, diese zu verlassen. Guter Schüler, Studium in Glasgow, Karriere in der Musikindustrie, erfolgreicher Schriftsteller. Alles paletti. Ganz anders Gary, das schwarze Schaf, der den Absprung nicht schafft. Von Anfang an ein schwieriges Kind, unangepasst, eigensinnig, zornig. Er überfordert die Familie, woraufhin insbesondere der Vater immer öfter zuschlägt. Gary kehrt der Familie den Rücken, gleitet ab, strauchelt, rappelt sich wieder auf, gerät auf die schiefe Bahn, macht Schulden, bittet seinen Bruder um Hilfe, was dieser ablehnt, und begeht schließlich mit 42 Jahren Selbstmord.

John möchte verstehen und nutzt dafür die Mittel, die er beherrscht. Er schreibt. Schreibt sich die Trauer von der Seele, erinnert sich in „O Brother“ an Situationen aus der gemeinsamen Vergangenheit. An Situation der Nähe, aber auch an die schwierigen Zeiten. An Liebe und Unverständnis. An Zeiten, in denen sie gemeinsame Wege gegangen sind. An Höhen und Tiefen, bis jeder von ihnen in einen andere Richtung abgebogen ist.

Ein ungeschönter Rückblick, bei dem sich auch Niven nicht schont. In welcher Situation hat er falsch reagiert, was hätte er besser machen können? Wo hat die Familie versagt? Das Elternhaus, in dem seitens des Vaters das Verständnis für den „Missratenen“ fehlt und Prügel an der Tagesordnung sind?

John Nivens Erinnerungen an seinen Bruder Gary setzen diesem ein Denkmal .Zwar gibt es durchaus auch, wie wir es von dem Autor kennen, schwarzhumorige Passagen in „O Brother“, aber dennoch ist dieses Memoir über weite Strecken herzzerreißend, das unvergessliche Porträt einer Geschwisterbeziehung. Große Leseempfehlung.

Veröffentlicht am 26.03.2024

Das Parfüm des Todes

Tödlicher Duft
0

René Anour startet nach seinen vier Totenärztin-Krimis eine neue Reihe, die uns in den Südosten Frankreichs entführt. Handlungsort ist Grasse, das verschlafene, provenzalische Städtchen, das weltweit als ...

René Anour startet nach seinen vier Totenärztin-Krimis eine neue Reihe, die uns in den Südosten Frankreichs entführt. Handlungsort ist Grasse, das verschlafene, provenzalische Städtchen, das weltweit als Hauptstadt der Düfte bekannt ist und in dem zahlreiche bekannte und alteingesessene Parfümfabriken ihren Sitz haben. Und so ist es nicht weiter verwunderlich, dass die Handlung des Reihenauftakts „Tödlicher Duft“ von diesem Hintergrund inspiriert ist.

In einem Bottich mit Kamelienblüten wird die Leiche eines renommierten Parfümeurs entdeckt. Pech für Commissaire Campanard, dessen fachliches Können jetzt mehr denn je gefordert ist, denn eigentlich wollte der die sonntägliche Ruhe genießen. Aber erstens kommt es anders, und zweitens als man denkt. Doch so wirklich vorwärts gehen seine Ermittlungen nicht, ein anderer Blick ist gefordert, und das geht nur in Teamarbeit. Unterstützung erhält er durch den Kollegen Pierre Olivier, aber wesentlich interessanter sind die Interna, zu denen Linda Delacours Zugang erhält. Die Polizeipsychologin aus Paris wird nämlich undercover in einen Parfümer-Lehrgang eingeschleust, hält dort Augen und Ohren offen und fördert erstaunliche Informationen zu Tage.

Einmal mehr gelingt es René Anour außerordentlich gut, seine Leserinnen und Leser mit ins Innere einer Welt zu nehmen, die üblicherweise für Außenstehende nur schwer zugänglich ist. Keine Frage, die Landschaftsbeschreibungen sind getränkt von Eindrücken, die wir mit der Provence und dem südfranzösischen Lebensgefühl verbinden, was jede/r bestätigen wird, der Grasse und das Umland kennt. Wesentlich interessanter fand ich allerdings die Informationen und Innenansichten, vermittelt über die Beschreibungen von Lindas Lehrgang, die sich rund um das Kreieren außergewöhnlicher Düfte ranken.

Ein sympathisches Team, ein spannender Mordfall, den es zu lösen gilt, verbunden mit wunderbar treffenden Landschaftsbeschreibungen, dies alles verbunden mit der richtigen Portion Savoir vivre. Ein rundum gelungener Reihenauftakt für provenzalische Erst- und Wiederholungstäter, der es hoffentlich in Serie schafft und unbedingt ins Reisegepäck gehört.

Veröffentlicht am 23.03.2024

Brüchige Beziehungen

Meeresfriedhof
0

Wenn ein Autor den Entschluss fasst, eine Familiengeschichte verteilt auf drei Bände zu erzählen, benötigt er schon eine immense Menge Stoff, wenn er seine Leserinnen und Leser nicht mit banalen Beschreibungen ...

Wenn ein Autor den Entschluss fasst, eine Familiengeschichte verteilt auf drei Bände zu erzählen, benötigt er schon eine immense Menge Stoff, wenn er seine Leserinnen und Leser nicht mit banalen Beschreibungen und irrelevanten Wiederholungen langweilen möchte. Glücklicherweise ist das, soweit ich es zumindest nach der Lektüre von „Meeresfriedhof“ (Band 1 der Falck-Trilogie) beurteilen kann, dem norwegischen Autor Aslak Nore außerordentlich gut gelungen.

Eine historisch verbürgte Schiffskatastrophe im Zweiten Weltkrieg, militärische Konflikte im Nahen Osten, ein vom Staatsschutz beschlagnahmtes Manuskript mit brisantem Inhalt, ein verschwundenes Testament. Vergangenheit und Gegenwart. Ereignisse, zwischen denen es auf den ersten Blick keinen Zusammenhang gibt.

Eine Reeder-Dynastie, brüchige Beziehungen, altes Geld, das Streben nach Macht und Einfluss, . Eine komplexe Familiengeschichte, die gekonnt mit Fakten und Fiktion hantiert und zwischen Vergangenheit und Gegenwart wechselt. Vielschichtige Spuren sind gelegt und wecken großes Interessen an den beiden nachfolgenden Bänden „Felsensgrund“ (ET 08.05.25) und „Schattenfjord“ (ET 12.02.26).

Veröffentlicht am 12.03.2024

Außen hui, innen pfui

9mm Cut
0

Sybille Ruge ist eine Autorin, die ich seit ihrem Erstling „Davenport 160x90“ auf der Watchlist habe. Mit „9mm Cut“ folgt nun ihr zweiter Roman, und auch dieser hat es geschafft, mich äußerst positiv zu ...

Sybille Ruge ist eine Autorin, die ich seit ihrem Erstling „Davenport 160x90“ auf der Watchlist habe. Mit „9mm Cut“ folgt nun ihr zweiter Roman, und auch dieser hat es geschafft, mich äußerst positiv zu überraschen.

9mm, das ist exakt die Höhe, auf die der Mähroboter eingestellt ist, der tagaus, tagein über den Rasen der Züricher Karnofsky-Villa fährt, um Außenstehenden den Eindruck von Funktionalität, Prosperität und Integrität zu suggerieren. Doch schiebt man die Kulissen beiseite, sieht’s dahinter ganz anders aus.

Der Prachtbau ist marode, die Familie im höchsten Maß dysfunktional. Max Karnofsky, Vorstand der NGO „Interni“, ist ein weinerlicher heavy Trinker und hat keine Kontrolle mehr über die Verwendung der Stiftungsgelder, seine Frau Hell (nomen est omen) kreist um ihr eigenes Projekt und bereitet klammheimlich ihren Abgang vor, die beiden Kinder, sich selbst überlassene Manövriermasse mit seltsamem Benehmen auf der Suche nach Zuwendung.

Im Zentrum des Vulkans eine taffe Spezialistin für besondere Missionen mit dem Decknamen Eve Klein, engagiert von Fleisch-Tycoon Wellinghofen, Hauptmäzen der Stiftung, der die Gelegenheit sieht, gleich zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen. Zum einen sind da die Barmittel, die eine Wäsche vertragen könnten, zum anderen macht er sich große Sorgen über die Vorgänge bei Interni (ein erschossener Geschäftsführer, ein abgetrennter Kopf auf der Schwelle, ein offensichtlich überforderter Stiftungsvorstand und nicht zuletzt der kreative Umgang mit den Barmitteln, die eigentlich benachteiligten Jugendlichen zugutekommen sollten), die seinen guten Ruf in der Öffentlichkeit gefährden könnten. Also muss Eve nach Zürich, um sich die Lage vor Ort anzuschauen und in die von Gier und Skrupellosigkeit dominierte Welt des Big Business einzutauchen.

Hört sich alles bekannt an, aber was diesen Roman von den üblichen 08/15-Thrillern unterscheidet, ist in erster Linie die Sprache. Bei Ruge gibt es kein Drumherumgerede, da ist jeder Satz ein Statement. Hart und präzise, kurz und knapp und dennoch auf den Punkt. Gleichzeitig überrascht sie mit entlarvenden Beobachtungen à la „Die Gäste standen Schlange für ein Foto mit dem Aufdruck A BETTER WORLD. Komplizen, die mit wohltemperierter Hilfe eine Eintrittskarte für die himmlische Seligkeit zu erschwinglichen Preisen erwarben. Die Oberschicht ergreift Partei für die Abgehängten, solange die Sicherheitsanlagen funktionieren…(S. 203)“. Dazu jede Menge pointierte Vergleiche und nicht zuletzt ein erfrischend trockener Humor. Eine seltene Kombination in einem Genre, das sich eher auf die Handlung als auf die Sprache konzentriert, aber gerade deshalb höchst willkommen ist.

Ein ungewöhnlicher, ein faszinierender Roman/Thriller, den ich allen nachdrücklich empfehle, die gerne auch abseits des Mainstream lesen.