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Veröffentlicht am 25.07.2020

Entlarvende Überschreitung der Genregrenzen

American Spy
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In ihrem Erstling „American Spy“ schert sich die amerikanische Autorin Lauren Wiklinson nicht um Genre-Grenzen, im Gegenteil. Sie überschreitet sie souverän und bestätigt somit auch das Obama-Zitat auf ...

In ihrem Erstling „American Spy“ schert sich die amerikanische Autorin Lauren Wiklinson nicht um Genre-Grenzen, im Gegenteil. Sie überschreitet sie souverän und bestätigt somit auch das Obama-Zitat auf dem Cover. „Weit mehr als ein Spionagethriller“ – in der Tat.

Das Buch startet mit einem Paukenschlag: Es ist Nacht. Marie Mitchell, ehemalige FBI-Agentin, alarmiert von einem ungewöhnlichen Geräusch in ihrem Haus, schnappt sich ihre alte Dienstwaffe. Ein bewaffneter Mann betritt ihr Schlafzimmer, es kommt zu einem Kampf, und sie erschießt den Eindringling. Sie vermutet einen Zusammenhang mit ihrer früheren Tätigkeit und beschließt, ihre beiden Söhne aus der Schusslinie zu nehmen und bringt sie zu deren Sicherheit zu ihrer Mutter nach Martinique.

Natürlich bedarf diese Aktion einer Erklärung, und so schreibt sie einen langen Brief an die Kinder, in welchem sie auf ihre Vergangenheit zurück blickt. Wie wurde aus dem schwarzen Mädchen aus Queens eine Agentin, die in Amerikas Kaltem Krieg an den verschiedensten Fronten eingesetzt wurde und jetzt ausgeschaltet werden soll?

Maries Erinnerungen sind nicht chronologisch gehalten, springen zwischen Zeit, Personen und Orten, und liefern ganz nebenbei einen entlarvenden Blick auf die Rolle der Frauen in männerdominierten Organisationen, auf das Verhältnis zwischen Schwarz und Weiß, auf Diskriminierungen, auf gesellschaftliche Missstände in God’s own country, auf Amerikas eigennützige Einmischungen in die Weltpolitik. Das klingt nach Unmengen Stoff - ist es auch - aber die Autorin verliert nie den roten Faden, fordert deshalb aber natürlich die Konzentration des Lesers.

Ein spannender, entlarvender Roman, der auf den unterschiedlichsten Ebenen funktioniert und die Grenzen der Spionagethriller, die wir von den Meistern des Genres kennen, aufbricht, weshalb er von mir eine uneingeschränkte Leseempfehlung bekommt.

Veröffentlicht am 24.07.2020

Ein starkes Stück niederländischer Geschichte

Staub zu Staub
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Felix Weber, Pseudonym von Gauke Andriesse, hierzulande eher unbekannt. Nicht so in Holland, wurde er dort doch bereits mit zahlreichen Preisen für seine Kriminalromane ausgezeichnet. So auch für „Staub ...

Felix Weber, Pseudonym von Gauke Andriesse, hierzulande eher unbekannt. Nicht so in Holland, wurde er dort doch bereits mit zahlreichen Preisen für seine Kriminalromane ausgezeichnet. So auch für „Staub zu Staub“ (2016, Tot Stof), mit dem Gouden Strop prämiert, dem bedeutendsten Preis der niederländischen Kriminalliteratur.

Worum geht es? Nach dem Zweiten Weltkrieg lebt Siem Coburg, ein ehemaliger Widerstandskämpfer, zurückgezogen auf seinem Hausboot und trauert um all das, was er verloren hat, bis ihn ein alter Freund um Hilfe bittet. Dessen 17-jähriger Enkel Siebold ist unter dubiosen Umständen zu Tode gekommen, in einem Heim für geistig Behinderte, das von Mönchen geleitet wird. Coburg fühlt sich in der Pflicht und schaut sich, als Journalist getarnt, die Einrichtung an. Schnell stellt er fest, dass SieboldsTod kein Einzelfall ist und gräbt tiefer, auch wenn das beharrliche Schweigen der Mönche und Dörfler seine Nachforschungen torpediert.

Dieses Buch als Kriminalroman zu bezeichnen ist eindeutig zu kurz gesprungen, denn die Handlung rund um den Tod des Enkels tritt komplett in den Hintergrund, dient lediglich als Folie, vor der der Autor historischen Stoff aufarbeitet. Es ist ein Roman über den Krieg und dessen Auswirkungen auf die Menschen. Über den Umgang mit Schuld, die jeder Einzelne auf sich geladen hat. Über Vergeltung. Über Glauben, Sühne und Vergebung. Düster und berührend. Ein starkes, ein lesenswertes Stück niederländischer Geschichte.

Veröffentlicht am 20.07.2020

Sean Duffy hat's noch drauf...

Alter Hund, neue Tricks
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Anfang der Neunziger neigt sich Sean Duffys Karriere, die wir seit 1981 verfolgen, dem Ende zu. Mittlerweile lebt er mit Frau und Kind über dem Wasser in Schottland, und aus einem unkonventionellen DI ...

Anfang der Neunziger neigt sich Sean Duffys Karriere, die wir seit 1981 verfolgen, dem Ende zu. Mittlerweile lebt er mit Frau und Kind über dem Wasser in Schottland, und aus einem unkonventionellen DI ist ein „nutzloser Teilzeitpolizist in Reserve“ geworden, der an sechs Tagen im Monat Schreibtischdienst beim Carrickfergus CID ableistet. Lawson, sein Nachfolger, hat eine beeindruckende Aufklärungsrate, genießt aber aktuell seinen Urlaub auf den Kanaren. Nur gut, dass Duffy vor Ort ist und den aus dem Ruder gelaufenen Autodiebstahl übernehmen kann. Ermittlungen im Duffy-Style, nicht immer gerne gesehen - unterstützt dabei von seinem Kollegen Crabbie, der ebenfalls nur noch Teilzeit arbeitet. Aber die beiden sind ein eingespieltes Team und erkennen recht schnell, dass es hier um mehr als einen gestohlenen Jaguar und einen toten Maler gehen muss, zumal auch die Geheimdienste sich in die Ermittlungen einschalten.

McKinty verknüpft sehr geschickt reale Ereignisse der Troubles mit einer spannenden Story, bei der nichts so ist, wie es auf den ersten Blick scheint und die den „alten Hund“ mehr als einmal an seine Grenzen bringt. Insbesondere hier zeigt sich die sprachliche Eloquenz des Autors (und des Übersetzers Peter Torberg), dem oft nur ein einziges Wort genügt, um eine Aktion, einen Gefühlszustand etc. zu beschreiben. Ein weiterer Punkt, der nicht unerwähnt bleiben darf ist der trockene Humor, mit dem Duffy häufig seine Gegenüber konfrontiert. Wenn er Klassiker zitiert…herrlich. Und natürlich auch seine Lästereien über die Interpreten der aktuellen Charts…erfrischend. Wer sagt denn, dass ein inhaltlich anspruchsvoller Thriller nicht unterhaltsam sein darf?

Es gibt viele Verweise auf zurückliegende Fälle, Personen tauchen wieder auf, die wir aus früheren Büchern kennen. Nicht zu vergessen, der Bogen zu einer früheren Reihe des Autors, der Michael Forsythe-Trilogie. Diese Rückblicke erfüllen mich schon mit einer leichten Wehmut, denn es ist ja bekannt, dass wir nur noch einen einzigen Band aus dem Duffy-Universum zu erwarten haben. Der englischsprachige Titel steht bereits nach Aussage Adrian McKintys fest und lautet „The Ghost of Saturday Night“ – wie immer einem Songtitel von Tom Waits entlehnt.

Veröffentlicht am 16.07.2020

Italienische Nudelküche...di buon gusto

Pasta Mia!
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Nudeln kochen kann jeder. Ob Groß oder Klein, alle lieben Pasta. Und damit Abwechslung auf den Teller kommt und es nicht immer die gleiche Tomatensoße sein muss, sollte man einen Blick in Gennaro Contaldos ...

Nudeln kochen kann jeder. Ob Groß oder Klein, alle lieben Pasta. Und damit Abwechslung auf den Teller kommt und es nicht immer die gleiche Tomatensoße sein muss, sollte man einen Blick in Gennaro Contaldos „Pasta Mia!“ werfen. Der in Italien geboren und aufgewachsene Wahlengländer – wir kennen ihn als Mentor von Jamie Oliver – greift hier auf die traditionellen Nudelgerichte seiner italienischen Heimat zurück und zeigt uns, dass neben Spaghetti und Penne noch unzählige Sorten beachtenswert sind, vor allem dann, wenn sie mit der passenden Begleitung in Form leckerer Soßen serviert werden. Nicht zu vergessen die Oberflächenbeschaffenheit der Nudeln (perfekt bei Herstellung in Bronzeformen), damit man die passenden Sugos kombinieren kann.

Aber lassen wir keine Zweifel aufkommen, im Mittelpunkt der Rezepte steht IMMER die Pasta. Sechzig Seiten „Getrocknete Pasta“, fünfunddreißig Seiten „Frische Pasta“. Zwanzig Seiten „Gefüllte Pasta“, dreißig Seiten „Gebackene Pasta“ – jeweils mit unterschiedlichen Soßen, Ragús, Fisch und Gemüsen. Ansprechend bebildert, für jeden Geschmack etwas, oft abgerundet mit dem Saft der Amalfi-Zitrone (kann man problemlos durch eine gute Zitrone aus dem Bioladen ersetzen). Dazu noch zehn Seiten Grundsaucen, sowie ein ausführliches Register. Alle Zubereitungen ausführlich beschrieben (leider ohne Nährwert-Angaben), sodass auch ein Kochanfänger kein Problem damit haben wird.

Neben diesen unzähligen Rezepten, selbstverständlich auch für Pasta aus dem vollen Korn, gibt es einen leicht verständlichen Grundkurs für die Herstellung frischer Pasta. Und dafür ist noch nicht einmal eine Nudelmaschine zwingend erforderlich.

Wohl demjenigen – wir zählen zu den Glücklichen, obwohl wir nicht in der Stadt leben – der einen gutsortierten italienischen Supermarkt in der Nähe hat, bei dem ca. ein Drittel der Verkaufsfläche für Pasta in allen Variationen reserviert ist, Typo 00 Mehl selbstverständlich im Regal steht und der Wunsch nach Burrata, Taleggio, Guanciale und Salsiccia fresca erfüllt werden kann. Im üblichen Supermarkt wird man sich damit eher schwer tun. Aber keine Angst, man kann diese Zutaten natürlich mit einem bisschen Kreativität durch alternative Produkte ersetzen, so dass dem Pasta-Genuss nichts im Wege steht.

Veröffentlicht am 12.07.2020

Was ist Heimat?

Ich bleibe hier
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Ein eigentümliches Bild, das der Blick auf den Reschensee bietet. Eine spiegelglatte Oberfläche, aus deren Mitte ein Kirchturm ragt. Was ist hier geschehen? Und was hat es mit den Menschen gemacht, denen ...

Ein eigentümliches Bild, das der Blick auf den Reschensee bietet. Eine spiegelglatte Oberfläche, aus deren Mitte ein Kirchturm ragt. Was ist hier geschehen? Und was hat es mit den Menschen gemacht, denen keine andere Wahl blieb, als ihre Heimat zu verlassen?

Diesen Fragen geht der mehrfach ausgezeichnete Autor Marco Balzano in seinem neuen Roman „Ich bleibe hier“ nach, in dem er aus Sicht von Trina, Lehrerin und Bäuerin, die damaligen Ereignisse rekapituliert und den Leser am Beispiel des Städtchens Graun mit der schmerzhaften Geschichte Südtirols vertraut macht. Italienisch oder Deutsch, Mussolini oder Hitler. Eine Region, die vor dem Zweiten Weltkrieg zum Spielball der Mächte wird.

Die Muttersprache ist ein zentrales Thema, das sich wie ein roter Faden durch das gesamte Buch zieht. Sie stiftet Identität, dient aber gleichzeitig auch als Kontrollmechanismus der Herrschenden und ist auch dafür verantwortlich, dass nach der Zwangsitalienisierung Südtirols unter Mussolini viele Grauner ein strammes Deutschtum entwickeln und empfänglich für Hitlers „Heim ins Reich-Ruf“ werden. Es sind nicht viel, die bleiben, die weder dem einen noch dem anderen trauen, sondern misstrauisch sowohl gegenüber dem Duce als auch dem Führer sind. Die an ihrer Heimat hängen, sich ihre Skepsis bewahren, diese aber dennoch verlassen müssen. Trotz aller Widerstände lassen die Italiener von dem Staudamm-Projekt nicht ab, siedeln die Übriggebliebenen um, die sie mit lächerlichen Ausgleichszahlungen für den Verlust ihrer Heimat entschädigt haben. Wie es endet, ist bekannt. Das Tal wird 1950 geflutet.

„Ich bleibe hier“ ist eine Geschichte des Untergangs. Sie klagt nicht an, aber rüttelt auf, denn Balzano gibt in diesem dicht erzählten Roman den Vertriebenen eine Stimme. Er taucht in seine Figuren ein, schildert deren Gefühlswelt ohne überflüssige Sentimentalität und beeindruckt mit seiner klaren Sprache gerade deshalb den Leser. Jedenfalls werde ich beim nächsten Urlaub in Südtirol die zweisprachigen Hinweisschilder mit anderen Augen sehen.