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Veröffentlicht am 21.07.2023

Intelligenter Thriller

Ingenium
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Wenn man den Spuren des Puzzlemasters Mike Brink und der inhaftierten Jess Price folgen möchte, sollte man schon ein gewisses Maß an Interesse für Fragestellungen aus Mystik und Mathematik mitbringen, ...

Wenn man den Spuren des Puzzlemasters Mike Brink und der inhaftierten Jess Price folgen möchte, sollte man schon ein gewisses Maß an Interesse für Fragestellungen aus Mystik und Mathematik mitbringen, sind die zu lösenden Rätsel und Fragestellungen doch wesentlich komplexer als beispielsweise in den Thrillern Dan Browns. Dabei schreibt die Autorin aber nicht trocken, sondern verpackt diese Fragestellungen in eine spannende Handlung, die den Leser nur so durch die Seiten fliegen lässt.

Brink ist ein Savant, der in allem, was ihn umgibt, Muster erkennt, und diese außergewöhnliche Fähigkeit hat auch bei Jess Price die Gewissheit ausgelöst, dass nur er ihr helfen kann, das uralte Rätsel der jüdischen Mystik, das die Menschheit retten und ihre eigene Unschuld beweisen kann, zu lösen. Dazu muss aber zuerst eine ganz besondere Reliquie, eine Porzellanpuppe, gefunden werden, ein Unterfangen, das selbst Brink mit seinen Fähigkeiten immens fordert.

Vergangenheit und Gegenwart, Zeitsprünge und Handlungsorte über die Kontinente hinweg, geheimnisvolle Rituale und wissenschaftliche Erkenntnisse aus der Quantenphysik, all das macht aus diesem genreübergreifenden Roman ein höchst ungewöhnliches und dabei spannendes Lesevergnügen.

Veröffentlicht am 04.07.2023

Der etwas andere historische Roman

Sünde
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Megan Campisis Debüt „Sünde“ nimmt uns mit an den englischen Hof und in die Elendsquartiere Londons, zeigt das Leben Annas, einer jungen Waise aus prekären Verhältnissen, die ums Überleben kämpfen muss. ...

Megan Campisis Debüt „Sünde“ nimmt uns mit an den englischen Hof und in die Elendsquartiere Londons, zeigt das Leben Annas, einer jungen Waise aus prekären Verhältnissen, die ums Überleben kämpfen muss. Als sie beim Diebstahl eines Brotlaibs erwischt und ihrer Bestrafung zugeführt wird, wendet sich ihr Schicksal. Allerdings nicht unbedingt zum Besseren, denn die männliche Gerichtsbarkeit kennt keine Gnade mit Frauen, die sich nicht regelkonform verhalten und bestraft diese gnadenlos. Anne entgeht dem Tod, aber sie bekommt ein Halseisen angelegt und ein S in die Zunge gestochen, denn sie wird dazu verurteilt, fortan bis zu ihrem Tod eine Sündenesserin zu sein.

Einschub: Die Existenz von Sündenessern ist historisch verbürgt und muss hier im zeitlichen Kontext, dem Elisabethanischen Zeitalter, gesehen werden. Nach der Abkehr Heinrich VIII. von der katholischen Kirche und der anglikanischen Reformation besteht bei den Sterbenden Bedarf, sich von ihren Sünden freisprechen zu lassen. Nun schlägt die Stunde der Sündenesserin. Sie wird von Armen und Reichen an das Sterbebett geholt, lauscht dieser Beichte und ordnet jedem Vergehen eine Speise zu, die nach dem Tod auf den jeweiligen Sarg gestellt werden, bevor sie diese verzehren muss, damit die Sünden der Sterbenden auf sie übergehen. Ihr Einsatz endet mit dem Spruch „Die Sünden sind nun auf mich übergegangen. Stumm trage ich sie zu Grabe.“ (S. 55)

Die Sündenesserin macht den Menschen Angst, wird von ihnen gemieden, ist eine Ausgestossene und kann nur dann beichten und freigesprochen werden, wenn sie ein unauffälliges, frommes Leben führt und sich im Sinne der männlichen Obrigkeit wohlverhält.

Als nach dem Tod von Corliss ein Hirschherz, das Symbol für Mord, auf dem Sarg liegt, weckt das Annas Misstrauen, denn diese Sünde hat die Hofdame Bethanys (= Elisabeth I.) nicht gebeichtet. Sie besinnt sich auf ihre Stärke und macht sich daran, den dafür Verantwortlichen zu entlarven. Aber wie soll sie das anstellen, wenn sie keine Ahnung hat, wer das Opfer sein könnte?

Gerade im Hinblick auf die vielen verfremdeten Namen schadet es nicht, wenn man mit der Geschichte der Tudors ab Heinrich VIII. vertraut ist, erleichtert es doch die Zuordnung der Akteure. Aber „Sünde“ ist nur auf den ersten Blick ein historischer Roman. Gerade wenn man sich die willkürlichen Einschränkungen der Freiheit durch die Kirche und die männliche Obrigkeit und den allmählichen Emanzipationsprozess der Protagonistin anschaut, die alles daransetzt, sich von deren Zwängen zu befreien, werden durchaus die Parallelen zu unserer Gegenwart sichtbar.

Atmosphärisch, spannend und sehr empfehlenswert!

Veröffentlicht am 28.06.2023

Wie immer intelligente Unterhaltung

Wie die Saat, so die Ernte
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Commissario Brunetti ermittelt mittlerweile seit Anfang der neunziger Jahre in Venedig, und, man glaubt es kaum, mit „Wie die Saat, so die Ernte“ ist kürzlich der 32. Band der Reihe erschienen.

November, ...

Commissario Brunetti ermittelt mittlerweile seit Anfang der neunziger Jahre in Venedig, und, man glaubt es kaum, mit „Wie die Saat, so die Ernte“ ist kürzlich der 32. Band der Reihe erschienen.

November, Business as usual in der Questura. Die üblichen Diebstahlsanzeigen, Vandalismus, Körperverletzungen und langweiligen Verwaltungsaufgaben. Doch dann der Anruf von Vianello, im Canale wurde eine Leiche gefunden. Die Identität klärt sich per Zufall, es ist Inesh Kavinda, ein illegaler Einwanderer aus Sri Lanka, der im Gartenhaus eines ehemaligen Kommilitonen Brunettis lebte, wo er den Garten des heruntergekommenen Palazzos pflegte und kleinere Reparaturen im Haus erledigte. Nichts als Ahnungen und Vermutungen, aber keine konkreten Hinweise auf Täter und Motiv. Wer könnte einen Grund gehabt haben, diesen sympathischen, unauffälligen Mann, als den ihn die Nonnen aus dem angrenzenden Kloster beschreiben, zu töten? Um diese Frage zu beantworten, muss der Commissario sich seinen Erinnerungen stellen, auch wenn diese für ihn schmerzhaft und beschämend sind.

Wer einen rasanten Pageturner erwartet, ist bei Donna Leons Brunetti-Romanen fehl am Platz. Die Krimihandlung gibt wie immer zwar den Rahmen vor, ist aber eher nebensächlich.

Leon nimmt uns mit in das tägliche Leben der Venezianer mit all den negativen Veränderungen, die die Touristenmassen und die von Profitinteressen getriebenen Entscheidungen der Politiker mit sich bringen. Aber es ist nicht nur die Gegenwart, die sie im Blick hat. Sie nimmt uns auch mit in die italienische Vergangenheit und konfrontiert im vorliegenden Fall ihren Protagonisten mit seinen eigenen politischen Aktivitäten Ende der siebziger Jahre, der Bleiernen Zeit der Roten Brigaden. Ein weiteres Puzzlestück, das sie der komplexen Persönlichkeit Brunettis hinzufügt, der weit mehr ist als der verständnisvolle Commissario, der liebenswerte Familienmensch und der belesene Klassikerfan.

Wie immer intelligente Unterhaltung mit einem sympathischen Protagonisten. Eine lesenswerte Ergänzung der Reihe.

Veröffentlicht am 23.05.2023

Vom Lieben in schweren Zeiten

Als Großmutter im Regen tanzte
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Drei Frauen, drei Schicksale und viele schmerzhafte Erinnerungen, denen sich Juni, die Enkelin, nähert, als sie vor ihrem gewalttätigen Mann in das Haus der Großeltern auf der kleinen norwegischen Insel ...

Drei Frauen, drei Schicksale und viele schmerzhafte Erinnerungen, denen sich Juni, die Enkelin, nähert, als sie vor ihrem gewalttätigen Mann in das Haus der Großeltern auf der kleinen norwegischen Insel flieht, um sich über ihre weiteren Schritte und ihre Zukunft klar zu werden. Nicht wissend, dass sie sich dafür zuerst einmal mit den verdrängten Geheimnissen ihrer Mutter und Großmutter auseinandersetzen muss.

Tekla, eine junge Norwegerin, verliebt sich in Otto, einen deutschen Soldaten, was weder von ihren Eltern noch von ihrem Umfeld gerne gesehen wird. Sie wird offen dafür angefeindet, wahlweise als „Deutschenmädchen“ oder „Deutschenflittchen“ bezeichnet und sogar bei einem Ausflug angegriffen, misshandelt und kahlgeschoren (die ältere Generation erinnert sich vielleicht auch noch an die Schimpfwörter, mit denen hierzulande Frauen belegt wurden, die sich mit ehemaligen Kriegsgefangenen oder Amerikanern nach Kriegende einließen). Wenn ihre Liebe eine Zukunft haben soll, müssen sie Norwegen verlassen, und so entschließt sich Tekla, Otto in dessen Heimatort zu folgen, nicht wissend, dass in Demmin seit den letzten Tages des Zweiten Weltkriegs, auch im übertragenen Sinn, kein Stein auf dem anderen geblieben ist.

Ein berührender, beeindruckender Roman von Trude Teige, einer in Norwegen sehr populären TV-Moderatorin und Journalistin, der bereits 2015 im Original erschienen ist, und in dem sie sich mit einem vergessenen Kapitel der Nachkriegsgeschichte (nicht nur) ihres Heimatlandes auseinandersetzt. Eine bewegende Geschichte vom Lieben in schweren Zeiten und einem Familientrauma, das bis in die Gegenwart nachwirkt.

Veröffentlicht am 21.05.2023

Ironischer Pessimismus

Blue Skies
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In seinen Romanen greift T. C. Boyle immer wieder Themen auf, die gesellschaftlich relevant sind und uns alle angehen. So auch in „Blue Skies“, dem neuesten Werk aus seiner Feder, in dem er sich mit der ...

In seinen Romanen greift T. C. Boyle immer wieder Themen auf, die gesellschaftlich relevant sind und uns alle angehen. So auch in „Blue Skies“, dem neuesten Werk aus seiner Feder, in dem er sich mit der Frage auseinandersetzt, wie Menschen im Angesicht einer ökologischen Katastrophe handeln.

Wird das Wissen darum und die Konfrontation mit deren Auswirkungen im Alltag das Verhalten beeinflussen, ja gar verändern? Vielleicht sogar bereits im Vorfeld? Ist doch nicht so, dass man sich mit einem Das-habe-ich-doch-nicht-gewusst herausreden könnte, oder?

Boyles Ausblick in eine nahe Zukunft ist pessimistisch. Florida ertrinkt in permanenten Regenfällen und dadurch verursachten Überschwemmungen, Kalifornien hingegen kämpft seit einigen Jahren mit außergewöhnlicher Hitze und nachfolgender Dürre. Und das ist nur die Spitze des Eisbergs. Die Menschen registrieren zwar die Veränderungen und passen ihr tägliches Leben diesen an, unterlassen es aber, Verantwortung zu übernehmen, ihr Verhalten auf den Prüfstein zu stellen und zu korrigieren. Alles wie gehabt.

Verpackt in einen Familienroman klagt Boyle nicht an sondern beschreibt. Und das macht er eindringlich, wenngleich sich sein Anliegen, seine Botschaft auch hinter Zynismus und schwarzem Humor versteckt. Er hält uns einen Spiegel vor, appelliert an unser Verantwortungsgefühl, denn die Zeiten des blauen Himmels sind längst Vergangenheit.