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Veröffentlicht am 02.07.2022

East meets West

Liebesheirat
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Gesellschaftsromane haben in der britischen Literatur eine lange Tradition, dafür stehen so großartige Autorinnen/Autoren wie Jane Austen, Charles Dickens, William Thackeray und George Eliot, um nur einige ...

Gesellschaftsromane haben in der britischen Literatur eine lange Tradition, dafür stehen so großartige Autorinnen/Autoren wie Jane Austen, Charles Dickens, William Thackeray und George Eliot, um nur einige zu nennen. In der Gegenwart fallen mir dazu als erstes Ian McEwan, Julian Barnes, Zadie Smith und Monica Ali ein, letztere mit ihrem Debüt „Brick Lane“ 2003 in der Endauswahl/Shortlist für den renommierten Booker Prize.

Nun also ihr neuer Roman „Liebesheirat“, in dem sie über die Komplexität von Beziehungen, über kulturelle Identität, über Emanzipation, Rassismus und das multikulturelle Großbritannien nach dem Brexit schreibt. Und diesmal sind wir nicht bei den Migranten im East End, sondern schauen auf zwei Familien aus der gehobenen Mittelschicht. Die Familie der angehenden Ärztin Yasmin, die bengalischen Ghoramis, eine gutsituierte, vierköpfige Einwandererfamilie im Londoner Süden, und die weißen Sangsters in Primrose Hill mit ihrem zukünftigen Ehemann Joe, der bei seiner radikalfeministischen Mutter Harriet aufgewachsen ist. Man könnte meinen, dass diese Ausgangssituation jede Menge Konfliktpotenzial bietet, aber weit gefehlt. Es gibt keine unangenehmen Gesprächspausen, keine politisch unkorrekten Bemerkungen, die beiden Mütter verstehen sich prächtig.

Interessant wird es, als Harriet auf einer traditionellen muslimischen Hochzeitszeremonie besteht, denn damit betritt die Autorin das verminte Gelände der kulturellen Identität und rüttelt an den Stereotypen. Aber das ist nicht das einzige Thema, an dem sie sich in diesem fast 600seitigen Roman abarbeitet. Die mediale Welt, der Brexit und seine Auswirkungen, die Frage danach, wie heutzutage Feminismus gelebt werden kann, plus die persönlichen Baustellen und die sich daraus ergebenden Konflikte. Zu viele Themen, die zwar die Handlung überfrachten, aber dennoch unterhaltsam und stellenweise auch sehr humorvoll sind. Außerdem regen sie dazu an, eigene Positionen zu hinterfragen. Und deshalb habe ich Alis Plädoyer für einen toleranten Umgang miteinander sehr gerne gelesen.

Veröffentlicht am 23.06.2022

Überleben in schweren Zeiten

Der Buchladen von Primrose Hill
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„Lädchen-Bücher“ sind mir ein Gräuel, laufen sie doch immer nach dem gleichen Schema ab. Protagonistin wagt einen Neuanfang/erbt einen Laden, muss mit Problemen kämpfen, trifft eine gutaussehenden Mann, ...

„Lädchen-Bücher“ sind mir ein Gräuel, laufen sie doch immer nach dem gleichen Schema ab. Protagonistin wagt einen Neuanfang/erbt einen Laden, muss mit Problemen kämpfen, trifft eine gutaussehenden Mann, den sie nicht ausstehen kann, aber verliebt sich dann in ihn, weil er edel, hilfreich und gut ist, und dann leben sie glücklich bis ans Ende ihrer Tage. Groschenroman-Niveau.

Aber der Klappentext mit London, Bücher und Blitzkrieg hat mich getriggert, und deshalb ich meine Vorurteil über Bord geworfen und mich an Madeline Martins „Der Buchladen von Primrose Hill“ herangewagt. Wie erwartet sind ähnliche Handlungselemente zwar auch in diesem Roman zu finden, aber glücklicherweise nur wohldosiert. Eine junge Frau kommt nach London, findet Arbeit in einer Buchhandlung, entdeckt ihre Liebe zu Büchern, und lernt - natürlich – auch einen Mann kennen, der nicht nur die Liebe zur Literatur in ihr weckt. Er spielt allerdings keine große Rolle, weil er zum Kriegsdienst eingezogen wird und erst kurz vor Ende des Romans wieder auftaucht.

Es ist eine Geschichte über das Leben im Krieg zwischen 1939 bis 1945. Über Menschen, die sich allen Widrigkeiten stellen, Entbehrungen ertragen, Verluste beklagen, trauern und weitermachen, auch wenn die Welt um sie herum aus den Fugen gerät und alles zusammenbricht.

Es ist eine Geschichte über Hoffnung und die Magie der Bücher, Trostspender selbst in dunkelsten Zeiten. Wenn der Bunker unter den Bombeneinschlägen erzittert, Menschen Angst um ihr Leben haben, die Düsternis heller wird, weil die Protagonistin aus George Eliots „Middlemarch“ vorliest und sie mit in eine Zeit nimmt, in der der Alltag unbeschwert ist.

Es ist eine Geschichte über Menschen, die den Wert des gedruckten Wortes erkennen. Exemplarisch dafür steht der Buchhändler, der Exemplare mit Brandstellen, die aus den Flammen der Bücherverbrennungen der Nazis gerettet wurden, aufkauft und sammelt, sie in einen Safe einschließt, damit sie der Nachwelt erhalten bleiben.

Es ist eine Geschichte über das Überleben in schweren Zeiten, eine Hommage an die Literatur, Bücher, Buchhandlungen und nicht zuletzt auch an die Leser.

Nachtrag: Wer sich schon einmal mit diesem historischen Zeitraum beschäftigt hat, ist vielleicht auch auf ein ganz besonderes Ereignis gestoßen, den „Blitz“ am 29. Dezember 1940. In dieser Nacht ging durch das massive Bombardement der Nationalsozialisten die Innenstadt in Flammen auf. Zwischen 18 Uhr und 6 Uhr morgens wurden 100.000 Brandbomben und 24.000 Sprengbomben abgeworfen. Unter anderem auch auf die Paternoster Row, Zentrum des Londoner Buchhandels, die komplett ausbrannte, wobei über 5 Millionen Bücher ein Opfer der Flammen wurden.

Veröffentlicht am 08.06.2022

Reflexionen aus dem Jenseits

Was die Nacht verschweigt
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Üblicherweise mache ich einen großen Bogen um Romane, deren wesentlicher Bestandteil das Übernatürliche ist. Im Fall von Louise Doughtys neuem Roman „Was die Nacht verschweigt“ haben jedoch sowohl der ...

Üblicherweise mache ich einen großen Bogen um Romane, deren wesentlicher Bestandteil das Übernatürliche ist. Im Fall von Louise Doughtys neuem Roman „Was die Nacht verschweigt“ haben jedoch sowohl der Klappentext als auch die Besprechung in einer englischen Tageszeitung mein Interesse geweckt: Eine Nacht im November, ein verlassener Bahnsteig im Osten Englands, ein Mann, der im Begriff ist, sein Leben zu beenden, und eine Frau, die keine Möglichkeit sieht, ihn von seinem Vorhaben abzubringen. Warum? Gibt es einen Grund dafür, dass Selbstmörder exakt diese Stelle auswählen, um ihrem Leben ein Ende zu setzen? Mysteriös, oder?

Die Story wird behutsam aufgebaut und zeigt in der Konsequenz das gesamte Spektrum einer toxischen Beziehung. Zuerst führt sie die Umgebung und die Akteure anhand von alltäglichen Begebenheiten ein, danach fokussiert sie den Blick auf das vergangene Leben der mittlerweile toten Protagonistin, beschreibt nicht nur ihr unglückliches Dasein sondern auch rückblickend die Unfähigkeit, diesem mit heiler Haut zu entkommen. Trotz dieser „dunklen“ Thematik schafft es Doughty glücklicherweise immer wieder, kleine Momente des dringend benötigten Durchatmens zu integrieren, indem sie sich augenzwinkernd auf banale Alltagssituationen konzentriert, die Distanz schaffen.

Doughty ist nicht Stephen King, bei ihr hausen keine Monster im Schrank, vor denen man sich fürchten muss, sie verstecken sich in den dunklen Ecken der Psyche. Ihr Interesse gilt den Brüchen innerhalb der zwischenmenschlichen Beziehungen und den Konsequenzen, die schließlich daraus erwachsen. Dass die Erzählerin im vorliegenden Fall bereits tot ist, gibt der Autorin die Möglichkeit, tragische Ereignisse reflektierend und mit Abstand unter die Lupe zu nehmen. Ein erzählerisches Mittel, das zwar halbwegs funktioniert, meiner Meinung nach aber nicht zwingend nötig gewesen wäre.

Veröffentlicht am 26.05.2022

Urlaubsflair auf dem Teller

Einfach griechisch kochen
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Falls es mit der geplanten Auszeit einmal nicht klappen sollte, kann man sich auch in der heimischen Küche Urlaubsgefühle auf den Teller holen. Das neue Kochbuch von Katerina Dimitriadis „Einfach griechisch ...

Falls es mit der geplanten Auszeit einmal nicht klappen sollte, kann man sich auch in der heimischen Küche Urlaubsgefühle auf den Teller holen. Das neue Kochbuch von Katerina Dimitriadis „Einfach griechisch kochen“ eignet sich dafür bestens und versorgt uns mit authentischen, bodenständigen Rezepten aus der „Zu-Hause-Küche“ der Autorin, die zeigen, dass es neben den bei unseren griechischen Wirten üblichen Gyros, den Poseidon- und Dionysos-Platten noch viele Spezialitäten zu entdecken gibt.

Was macht nun aber die griechische Küche aus? Diese Fragen beantwortet die Autorin in den einleitenden Kapiteln. Zum einen wären da die zahlreichen Hauptmahlzeiten aus Gemüse und Hülsenfrüchten und die zahlreichen Backofen-Gerichte, zum anderen aber auch die Zutaten, die für den typischen Geschmack verantwortlich sind. Olivenöl, am besten von einem lokalen Erzeuger, Kräuter (z. B. Oregano, Thymian, Rosmarin, Minze), Gewürze wie Zimt, Piment und Nelken, und nicht zu vergessen Zitronen, die nicht nur gebratenen Kartoffeln den besonderen Twist verleihen.

Der Rezeptteil startet mit Salaten. Viele kennt man, aber auch Neues wie Koliva mit Granatapfel ist zu finden. Und natürlich darf auch der allgegenwärtige Bauernsalat nicht fehlen.

Mit Abstand das größte Kapitel ist den verschiedenen Mezedes plus Dips, den kleinen Leckereien vorweg, gewidmet, die man aber jederzeit auch als Hauptmahlzeit zu sich nehmen kann. Keftedakia (Fleischbällchen) mit Dill und Minze gewürzt, Zucchini in Variationen oder Gigantes mit Feta, da ist für alle Esser etwas dabei.

Die Fleischrezepte fand ich etwas enttäuschend, da sie sich ausnahmslos auf Rind und Hähnchen konzentrieren. Hier hätte ich mir gewünscht, dass auch Lamm berücksichtigt wird, denn das ist es, was ich aus den Tavernen der griechischen Dörfer kenne.

Leider orientiert sich auch der Abschnitt mit den Fischrezepten meiner Meinung nach etwas zu sehr am deutschen Geschmack. Kabeljau? Wäre mir jetzt nicht bekannt, dass dessen Fanggebiete im Ägäischen, Ionischen oder im Libyschen zu finden sind. Dennoch, lecker sind auch diese Gerichte allemal.

Das Kapitel mit Gemüserezepten wird dominiert von Eintopfzubereitungen mit Hülsenfrüchten und hätte durchaus auch etwas umfangreicher sein können.

Bei den abschließenden Desserts hingegen befinden wir uns wieder auf bekanntem Terrain: Loukoumades, Halva oder Portokalopita, genossen mit einem Frappé, runden ein leckeres Essen ab, bei dem man in Erinnerungen an vergangene Urlaube schwelgen kann.

Alle Rezepte sind präzise beschrieben und werden mit ansprechenden Fotos vorgestellt. Die Zutaten überall erhältlich, die Zubereitungszeit überschaubar. Alles in allem ein ansprechendes Kochbuch, dessen Gerichte Urlaubsflair auf den Teller bringen.

Veröffentlicht am 04.05.2022

In der Schwebe

Der Morgenstern
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Ausufernde persönliche Nabelschauen sind so überhaupt nicht mein Fall, weshalb ich um das autobiografische Werk des Norwegers Karl Ove Knausgård bisher einen großen Bogen gemacht habe. Aber nun hat er ...

Ausufernde persönliche Nabelschauen sind so überhaupt nicht mein Fall, weshalb ich um das autobiografische Werk des Norwegers Karl Ove Knausgård bisher einen großen Bogen gemacht habe. Aber nun hat er mit „Der Morgenstern“, wiederum Auftakt eines mehrbändigen Zyklus‘, einen fiktionalen Roman abgeliefert, der allein schon durch die Ausgangssituation absolut passend für unsere Gegenwart scheint, die von Ungewissheit und Zweifeln geprägt ist.

Mit dieser Ungewissheit müssen sich auch seine Protagonisten an diesen Tagen im August auseinandersetzen, als am Himmel eine noch nie gesehene Erscheinung auftaucht, für die es keine Erklärung gibt. Nur ein Stern oder die Ankündigung einer Katastrophe? Es herrscht Uneinigkeit bei den neun Menschen, aus deren Sicht wir dieses Ereignis betrachten. Die eine Fraktion erklärt es naturwissenschaftlich rational, die andere tendiert zu einer spirituellen Erklärung, sieht darin ein Omen, das auf das Ende der Welt hinweist und begreift es als Aufforderung, das eigene Dasein zu hinterfragen. Dass Seltsames geschieht, sieht man zuerst am unnatürlichen Verhalten der Tiere. Krebse verlassen ihr natürliches Habitat und spazieren durch den Wald, Elche nähern sich den Menschen, Marienkäfer verdunkeln den Himmel, der Gesang der schwarzen Vögel klingt anders als sonst. Über allem hängt eine graue Endzeitstimmung.

Zwei Tage, neun Perspektiven, minutiös geschildert. Vier Frauen, fünf Männer, die allesamt in schwierigen Lebensumständen feststecken und ihre Situation reflektieren, Fragen nach dem Sinn des Lebens stellen, über die Allgegenwart des Todes sinnieren. Aber er beschreibt nicht nur deren Gedankengänge minutiös, sondern auch deren Alltagsleben mir etwas zu Detail verliebt im Angesicht der (eventuell) drohenden Katastrophe. Über die Bedeutung des Morgensterns lässt er sowohl die Protagonisten als auch die Leser im Unklaren. Es gibt keine Gewissheiten mehr, alles ist in der Schwebe, aber dennoch ist Weitermachen angesagt. Auch in Zeiten, in denen Klimaveränderung, Pandemie oder Krieg gravierende Auswirkungen auf den Alltag haben.