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Veröffentlicht am 15.01.2023

Atmosphärischer Thriller aus dem stalinistischen Russland

Das dunkle Lied der Toten
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Winter 1952/53. In einem sibirischen Arbeitslager hoch im Norden kämpft der Milizleutnant Revol Rossel ums Überleben. Um ihn herum fordern die harten Lebensbedingungen, die Zwangsarbeit in immerwährender ...

Winter 1952/53. In einem sibirischen Arbeitslager hoch im Norden kämpft der Milizleutnant Revol Rossel ums Überleben. Um ihn herum fordern die harten Lebensbedingungen, die Zwangsarbeit in immerwährender Kälte, der Hunger und die Gewaltexzesse der Bewacher und Mitgefangenen tagtäglich Opfer. Aber Rossel, der die Belagerung von Leningrad mit- und überlebt hat, lässt sich nicht unterkriegen.

Die Verbannung in den GULAG hat er seinem mittlerweile im militärischen Geheimdienst tätigen Erzfeind Major Nikitin zu verdanken, und deshalb überrascht es ihn umso mehr, als dieser im Lager auftaucht und ihm die Freiheit anbietet. Aber sie hat ihren Preis, denn im Gegenzug soll Rossel ihn bei der Aufklärung einer besonders perfiden Mordserie in Leningrad unterstützen. Ein Unbekannter hat es auf altgediente Soldaten abgesehen, tötet sie, schneidet ihnen die Zunge heraus und platziert an deren Stelle Zettel mit Machiavelli-Zitaten. Rossel hat kaum eine Wahl, denn wenn er nicht in der Verbannung sterben will, muss er, ob er will oder nicht, den Vorschlag Nikitins annehmen. Und so beginnt die Zusammenarbeit dieser beiden in Feindschaft verbundenen Männer, in deren Verlauf unerwartete Ergebnisse zutage gefördert werden, die in das nationalsozialistische Deutschlands zurückreichen.

In „Das dunkle Lied der Toten“ schreibt Ben Creed (Pseudonym des britischen Autorenduos Chris Rickaby und Barney Thompson) die Leningrad-Trilogie fort und nimmt uns mit in das von Angst und Misstrauen geprägte stalinistische Russland mit seinen Geheimdiensten. Jeder bespitzelt jeden, niemand kann sicher sein. Die Story ist spannend und sehr komplex, ein Minimum an Kenntnis der historischen Zusammenhänge schadet nicht. Das Besondere an dieser Reihe ist aber die Dynamik, die sich aus dem Zusammenspiel zweier Protagonisten ergibt, die verschiedener nicht sein könnten. Sie haben keine Gemeinsamkeiten, scheinen aber in ihrem Willen, die Wahrheit aufzudecken, zumindest in diesem Fall am gleichen Strang zu ziehen. Sie ergänzen sich. Nikitin, bestens vernetzt, beschafft Informationen, Rossel prüft, analysiert, ordnet ein, stellt Zusammenhänge her, denen sie nachgehen. Nicht ungefährlich in einer Zeit, in der ein falsches Wort den Tod oder die lebenslange Verbannung bedeuten kann.

„Das dunkle Lied der Toten“ ist ein atmosphärischer Thriller, der am ehesten Ähnlichkeiten mit den Romanen der Leo-Demidow-Trilogie von Tom Rob Smith hat, was allerdings nicht die schlechteste Referenz ist. Allen historisch interessierten Lesern nachdrücklich empfohlen.

Veröffentlicht am 04.01.2023

Fremde werden Freunde

Das Wunder von Bahnsteig 5
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Was eignet sich besser als eine Fahrt mit öffentlichen Verkehrsmitteln, wenn man gerne Menschen betrachtet, die der Zufall an einem Ort zusammenführt? Man kann Vermutungen anstellen, über interessante ...

Was eignet sich besser als eine Fahrt mit öffentlichen Verkehrsmitteln, wenn man gerne Menschen betrachtet, die der Zufall an einem Ort zusammenführt? Man kann Vermutungen anstellen, über interessante Eigenschaften oder tragische Schicksale fantasieren, was natürlich besonders gut gelingt, wenn man sich immer wieder begegnet. Genau das ist die Ausgangssituation in Clare Pooleys neuem Roman „Das Wunder von Bahnsteig 5“:

Die Zugfahrt von dem Londoner Vorort Surbiton nach Waterloo dauert knapp vierzig Minuten, immer an Bord Iona Iverson auf dem Weg zu ihrem Arbeitsplatz. Die exzentrische Ratgeberkolumnistin ist immer in Begleitung ihres Schoßhündchens, und dass sie täglich den gleichen Platz besetzt, haben sämtliche Mitreisende mittlerweile zähneknirschend akzeptiert. Mit Argusaugen beobachtet sie alles, was um sie herum vor sich geht, und so ist sie auch die Erste, die den Ernst der Situation erfasst. Ein Mitreisender schnappt nach Luft, droht zu ersticken, wird aber durch das beherzte Eingreifen eines jungen Krankenpflegers gerettet. In den darauffolgenden Tagen kommt man miteinander ins Gespräch, lernt sich allmählich kennen und damit nimmt die Handlung an Fahrt auf, und aus Fremden werden Freunde, die sich umeinander kümmern.

Die Autorin konzentriert sich auf sechs Personen, von denen jede ihr Päckchen zu tragen hat, was sich allerdings erst im Verlauf der Handlung herausstellt. Dabei gelingt es ihr, die üblichen romantisierenden Fallstricke und Happy Ends zu vermeiden, die man üblicherweise in diesem Genre erwartet. Stattdessen thematisiert sie Altersdiskriminierung, Jobverlust, Einsamkeit, toxische Beziehungen, Krankheit und Cybermobbing.

Clare Pooley ist mit „Das Wunder von Bahnsteig 5“ ein unterhaltsamer Feelgood-Roman gelungen, den ich gerne empfehle, da er sich mit seinen ernsten Untertönen wohltuend von all dem abhebt, das man üblicherweise in diesem Genre erwartet.

Veröffentlicht am 22.12.2022

Frey und McGrays letzter Fall

Der Teufel von Dundee
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Im viktorianischen Edinburgh hat der Handel mit Leichen Hochkonjunktur werden immer wieder auf dem Greyfriars Kirkyard die kürzlich bestatteten Leichname bei Nacht und Nebel ausgegraben und verhökert. ...

Im viktorianischen Edinburgh hat der Handel mit Leichen Hochkonjunktur werden immer wieder auf dem Greyfriars Kirkyard die kürzlich bestatteten Leichname bei Nacht und Nebel ausgegraben und verhökert. Adolphus „Nine Nails“ McGray soll diesem Spuk ein Ende bereiten und legt sich deshalb auf die Lauer. Er kann zwar die Leichenfledderer nicht dingfest machen, aber sie lassen bei ihrer Flucht ihre Beute zurück, an der ein schockierendes Detail ins Auge fällt. Im Gesicht des weiblichen Leichnams prangt das Zeichen des Teufels. Kurz darauf wird in der Königlichen Irrenanstalt ein Insasse ermordet und zeitgleich wird dort an einer Wand das mit Blut gemalte Zeichen des Teufels entdeckt. Hauptverdächtige in dem Mordfall ist Nine-Nails Schwester Pansy, die seit Jahren in dieser Anstalt verwahrt wird. Als der mittlerweile nach Gloucestershire zurückgekehrte Ian Frey von seinem ehemaligen Kollegen um Hilfe bei den Ermittlungen gebeten wird, ist er zwar nicht begeistert, möchte ihn aber nicht hängen lassen, gilt es doch, Pansys Unschuld zu beweisen und das Rätsel um das Zeichen des Satans zu lösen.

In den vergangenen Jahren war das Erscheinungsdatum der Frey & McGray Neuerscheinung einer meiner Fixpunkte im Lesejahr. Aber manchmal muss man sich leider von liebgewonnenen Gewohnheiten verabschieden. So auch jetzt, denn „Der Teufel von Dundee“ schließt diese Reihe ab. Und bei allem Bedauern muss ich eingestehen, dass dies ohne Frage ein würdiger Abschluss ist, denn neben einer eigenständigen Story in gewohnter Qualität wird auch der Bogen zu den vorherigen Bänden geschlagen. Fragen, die im Verlauf der Vorgänger am Rande auftauchten und unbeantwortet blieben, obwohl sie der Klärung bedurft hätten, werden hier zufriedenstellend beantwortet. Mission accomplished, und zwar nicht nur höchst spannend und unterhaltsam, sondern auch absolut zufriedenstellend.

Veröffentlicht am 20.12.2022

Ein Jahr, ein Tag, ein Bild, ein Text

Buch der Tage
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Patti Smith. Godmother of Punk. Hat schon seine Berechtigung, aber beschreibt nicht einmal in Ansätzen die vielfältigen Talente dieser Ausnahmekünstlerin, die über die Jahre bewiesen hat, dass sie neben ...

Patti Smith. Godmother of Punk. Hat schon seine Berechtigung, aber beschreibt nicht einmal in Ansätzen die vielfältigen Talente dieser Ausnahmekünstlerin, die über die Jahre bewiesen hat, dass sie neben Singer-Songwriterin auch noch Lyrikerin, Malerin und Fotografin ist.

In den vergangenen Jahren hat sie uns immer wieder in Form von Fotos und/oder Texten an ihren Erinnerungen teilhaben lassen, wobei leider deutscher Übersetzung lediglich Just Kids, Traumsammlerin, M Train, Hingabe sowie Im Jahr dessen Affen erhältlich sind. Neu hinzugekommen ist kürzlich „Buch der Tage“, eine Sammlung von 366 alten und neuen Fotos aus dem Privatarchiv der Künstlerin samt Text. Auf jeder Seite ein Bild für jeden Tag des Jahres (plus eines zusätzlich für das Schaltjahr), versehen mit reduzierten Bildunterschriften, die oft beschreiben, aber auch erinnern und damit zugleich intim, manchmal humorvoll, aber immer zutiefst menschlich sind. Eine gelungene Mischung aus alltäglichen und außergewöhnlichen Motiven, immer mit dem ihr eigenen Blick für die Details. Gleichzeitig ist diese persönliche Sammlung auch ein kulturelles Zeitzeugnis der vergangenen Jahrzehnte, getragen von Erinnerungen an Weggefährten und Verstorbene, nicht nur aus dem persönlichen Umfeld, sondern auch solche, die Patti Smith zeit ihres Lebens inspiriert haben.

Ergänzt wird dieses immerwährende Kalendarium im Anhang durch eine Leseliste, auf der neben vielen Werken der Weltliteratur auch Gerhard Richters „The daily practice of painting“ und überraschenderweise auch Mankells „Wallander-Romane“ zu finden sind.

In der Einleitung schreibt Smith „Einträge und Bilder sind Schlüssel, um die eigenen Gedanken freizuschalten.“ Dieser Aussage kann ich vorbehaltlos zustimmen, denn dieser großartige, ungewöhnliche Text- und Fotoband, der vollgepackt mit klugen Gedanken ist, lädt zum Innehalten und Nachdenken ein und wird im kommenden Jahr mein täglicher Begleiter sein.

Veröffentlicht am 18.12.2022

Wer die Gegenwart verstehen will, sollte einen Blick in die Vergangenheit werfen

Das Reich der Mitte
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Dass er ein Vielschreiber ist, kann man dem studierten Historiker Edward Rutherfurd wirklich nicht vorwerfen, denn seit der Publikation seines ersten Romans „Sarum“, in dem er tief in die Geschichte seiner ...

Dass er ein Vielschreiber ist, kann man dem studierten Historiker Edward Rutherfurd wirklich nicht vorwerfen, denn seit der Publikation seines ersten Romans „Sarum“, in dem er tief in die Geschichte seiner Heimatstadt Salisbury eintaucht, sind mittlerweile 35 Jahre vergangen. Nun also „Das Reich der Mitte“, der 2021 im Original erschienene China-Roman, der die Zahl seiner Werke auf neun Bücher ansteigen lässt, von denen jedes einzelne ein Fest für jeden historisch interessierten Leser ist. Dank akribischer Recherche taucht er tief in die Geschichte einer Stadt oder eines Landes ein, versorgt uns mit belegten Fakten, verbindet diese mit individuellen Schicksalen, stellt Bezüge zur Gegenwart her und hilft damit, aktuelle politische Entwicklungen besser zu verstehen.

Ausgangspunkt ist das Jahr 1839. Auf der einen Seite China, ein stolzes Reich, das auf Jahrhunderte alte Traditionen zurückblicken kann. Auf der anderen Seite die Briten unter der Regentschaft von Queen Victoria, die um jeden Preis ihre Handelsbeziehungen, im Wesentlichen die Teeimporte, mit China aufrechterhalten wollen, auch wenn sie nicht in der Lage sind, ihren Zahlungsverpflichtungen nachzukommen. Eine erfolgversprechende Möglichkeit, dieses Dilemma zu umgehen, ist der Tauschhandel. Tee gegen Opium. Das illegale Rauschmittel, das im Auftrag der East India Company von skrupellosen Mittelsmännern ins Land gebracht wird und schlussendlich zu den Opiumkriegen führt, Auftakt einer Reihe von Demütigungen Chinas durch den Westen, allen voran die Briten, was bis heute Nachwirkungen zeigt.

Aber es sind nicht nur die großen historischen Ereignisse, auf die Rutherfurd unseren Blick richtet. Über individuelle Schicksale macht er uns bekannt mit starren Traditionen, lässt uns eintauchen in philosophische und religiöse Weltanschauungen, nimmt uns mit in das Private von chinesischen, britischen und amerikanischen Familien und zeigt uns so im Kleinen die Auswirkungen dieser wechselhaften Epoche.

„Das Reich der Mitte“ ist ein unterhaltsamer, farbenprächtiger aber auch äußerst informativer historischer Roman, der Ursachenforschung betreibt und das Verhältnis des Westens zu China hinterfragt. Und das orientiert an Fakten und ohne Wertung oder ideologischer Brille. Wer die Gegenwart verstehen will, sollte einen Blick in die Vergangenheit werfen Und dabei helfen Rutherfurds Romane.

Nachdrückliche Empfehlung, nicht nur für historisch interessierte Leser!