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Veröffentlicht am 30.09.2022

Acht Kurzgeschichten, acht Frauenschicksale

Miss Kim weiß Bescheid
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„Meine insgesamt sehr unterschiedlichen Texte, die alle aus meiner langen und komplizierten persönlichen Geschichte, der Vielzahl an mir zugewiesenen Rollen und meinen Grübeleien entstanden waren, wurden ...

„Meine insgesamt sehr unterschiedlichen Texte, die alle aus meiner langen und komplizierten persönlichen Geschichte, der Vielzahl an mir zugewiesenen Rollen und meinen Grübeleien entstanden waren, wurden versimpelt und nach Lust und Laune angeführt. […] Nach dieser Vereinnahmung meiner Texte konnte ich kein Wort mehr schreiben.“ (S. 69f.)

Seit ich Cho Nam-Joos Debutroman „Kim Jiyoung, geboren 1982“ gelesen hatte, der einen bleibenden Eindruck bei mir hinterließ, wusste ich, dass ich jedes weitere Buch, das diese Autorin schreiben würde, lesen würde. Wie groß war somit meine Freude, als ich feststellte, dass bereits ein Jahr später ein neues Buch der südkoreanischen Autorin erscheint! Mit großer Vorfreude habe ich mich auf das neue Buch gestürzt und wurde – natürlich! – nicht enttäuscht.

„Miss Kim weiß Bescheid“ ist im Gegensatz zu ihrem Erstlingswerk, in dem sich die ganze Geschichte um die Figur der Kim Jiyoung dreht, eine Kurzgeschichtensammlung. Wir tauchen hier in acht verschiedene Frauenschicksale unterschiedlichster Altersstufen ein. Während in der Geschichte „Junge Liebe, 2020“ die Hauptfigur im Schulalter ist, befindet sich die Erzählerin von „Unter dem Pflaumenbaum“ bereits in Rente. Meistens jedoch handeln die Kurzgeschichten von jungen Frauen, die einer Arbeit nachgehen, was oftmals mit einem Kampf gegen die Reduzierung auf Frau und Mutter einhergeht. Wir sehen wie sich diese Frauen stets weiterbilden, hart arbeiten und geradezu verausgaben, um dieselbe gesellschaftliche Position und Anerkennung wie die Männer ihres Landes zu erhalten. Doch Männer spielen in Cho Nam-Joos Kurzgeschichten eine eher untergeordnete Rolle, sie sind lediglich Randfiguren. Nur eine Kurzgeschichte springt in dieser wie auch in stilistischer Hinsicht aus dem Schema heraus und zwar die Geschichte unter dem Titel „Lieber Hyunnam“, die in Form eines Briefes verfasst ist. Die Briefschreiberin schreibt einen Abschiedsbrief an ihren Partner, mit dem sie zehn Jahre lang zusammen war. In diesem Brief reflektiert die namenlos bleibende Schreiberin über die Natur ihrer zehnjährigen Beziehung zu Hyunnam. Sie kommt zu dem Ergebnis, dass sie in einem unausgewogenen und ungesunden Verhältnis steckte, das durch Demütigung und Manipulation von Seitens ihres Partners charakterisiert war. Folgerichtig endet der Brief mit einer völligen Loslösung und den Worten „du Arschloch!“ Die anderen Kurzgeschichten werden uns ebenfalls meistens von der Ich-Erzählerin, manchmal aber auch aus der Perspektive der personalen Erzählerin näher gebracht.

Die Autorin überrascht und begeistert auch in diesem ihrem zweiten Werk mit einer nüchternen, ungeschönten Sprache. Doch so wie die erste Blume im Frühling die noch von Frost gehärtete Erde durchbricht, bricht auch hier in jede Erzählung unvermittelt die poetische Schönheit ein. Wie bereits in ihrem Erstlingswerk ist die Autorin auch hier ganz weit davon entfernt in irgendeiner Hinsicht nach Beifall heischen zu wollen. Ihre wahrheitsliebende Stimme möchte vielmehr gehört werden, sie möchte Aufmerksamkeit erwecken und sie möchte Veränderung herbeiführen. Sie möchte, dass die Frauen Südkoreas gesehen werden und sie möchte, dass sich ihr Alltag und ihre Ausgangsposition verändert. Chon Nam-Joo sehnt sich danach, dass sie ihr Dasein als lebenswert erachten und ihr Leben genießen können. Aber auch Mut zusprechen, möchte sie, und den unterdrückten Frauen Südkoreas und auf der ganzen Welt Trost spenden. Sie möchte ihnen zeigen: Ihr seid nicht allein. Das gelingt ihr wunderbar mit „Miss Kim weiß Bescheid“. Der Name Kim, der oft in dem Buch vorkommt, steht dabei stellvertretend für alle Frauen in Südkorea – Miss Kim weiß Bescheid, aber nicht nur sie, auch die anderen müssen Bescheid wissen, damit sich die Zustände für sie zum Besseren wenden können. Die Kurzgeschichtensammlung ist nach „Kim Jiyoung, geboren 1982“ das zweite bewegende Manifest der Autorin, das die Leserin wie einen kostbaren Schatz hegen, das sie aber genauso gut anklagend in die Hände eines Mannes drücken kann.

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Veröffentlicht am 22.09.2022

Roman trifft Essay

Auf See
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Ort: Das Meer, in unmittelbarer Nähe zum Festland. Zeitpunkt: Ein nicht näher spezifizierter Zeitraum in der Zukunft. Yada, fast achtzehn Jahre alt, lebt mit ihrem Vater und einigen anderen Bewohnern auf ...

Ort: Das Meer, in unmittelbarer Nähe zum Festland. Zeitpunkt: Ein nicht näher spezifizierter Zeitraum in der Zukunft. Yada, fast achtzehn Jahre alt, lebt mit ihrem Vater und einigen anderen Bewohnern auf einer Seestatt, denn das Festland ist aufgrund von Naturkatastrophen in einem chaotischen Zustand. An ihre Mutter kann Yada sich kaum erinnern, es heißt, sie wäre ihrer psychischen Krankheit unterlegen. Um die Tochter vor demselben Schicksal zu bewahren, wird Yada von ihrem Vater beschützt – oder sollte man lieber sagen: überwacht? Denn die Ungereimtheiten häufen sich und als Yada eines Tages die Flucht aufs Festland gelingt, stellt sie fest, dass ihr Vater nicht nur in Bezug auf die Zustände in Deutschland, sondern auch in Bezug auf ihre Mutter gelogen hat. Ein über Jahre hinweg sorgfältig aufgebautes Kartenhaus an Lügen stürzt zusammen und Yada findet sich in einer Realität wieder, in der sie erst lernen muss, sich zurechtzufinden. Womit sie am wenigsten gerechnet hat: Yada findet ihre totgeglaubte Mutter wieder, die als freischaffende Künstlerin in Berlin lebt. Sie ist eine Berühmtheit, weil sie einst Prophezeiungen über die Zukunft verkündete, von denen viele in Erfüllung gingen. Seitdem wird sie als „das Orakel“ bezeichnet, wogegen Helena unermüdlich ankämpft – doch ohne Erfolg. Als wieder eine ihrer Verkündungen wahr wird, beschließt sie gemeinsam mit ihrer Tochter und ein paar engen Freunden ihre Stimme für eine gute Sache zu nutzen.

Dem Roman „Auf See“ liegt nicht nur eine äußerst interessante Idee zugrunde, sondern auch ein ungewöhnliches Konzept. Wir tauchen abwechselnd in die Perspektive der Tochter, Yada, und der Mutter, Helena, ein – gegen Ende des Romans kommen noch weitere Stimmen hinzu. Die Passagen, die Yada und Helena gewidmet werden, werden von Essays zu historischen Themen unterbrochen. Sie gehören romanintern zu dem von Helena erarbeiteten und sukzessive erweitereten Archiv, sind aber gleichzeitig Themen, die die Autorin selbst brennend interessieren – die, so lässt sich vermuten, sie zu ihrem dystopischen Werk inspiriert haben – und die sie für uns, die Leser, in ansprechender und spannender Form interpretiert und zusammengefasst hat. So erfahren wir über den Betrüger Gregor MacGregor, der sein Geld damit verdiente, dass er Land einer von ihm erfundenen Insel verkaufte; wir lernen Ernest Hemingways jüngeren Bruder Leicester kennen; wir erhalten Geschichtsunterricht für die Insel Nauru und wie deren reiche Phosphatreserven – nichts anderes als Vogelscheiße – das Leben seiner Einwohner über Jahrzehnte hinweg bestimmen sollte; wir erhalten einen groben Überblick über die Entstehung der Sekte Scientology und dürfen zusammen mit der Autorin zu dem Geburtsort des modernen Neoliberalismus reisen – um nur einige Beispiele zu nennen. Wir haben hier somit einen utopischen Roman vorliegen, der um eine Essaysammlung bereichert wurde. Mit anderen Worten, uns liegt mit „Auf See“ ein fiktional-wissenschaftliches Konglomerat vor – wenn das mal keine innovative und spannende Idee ist! Ich habe die Lektüre von „Auf See“ sehr genossen und habe mich gerne auf derartig anregende Weise weiterbilden lassen. Allerdings gerät zugunsten der historischen Einschübe die fiktive Ebene teilweise zu kurz, was mich zu der Schwachstelle des Romans kommen lässt, und zwar löst sich die Geschichte gegen Ende etwas zu schnell und abrupt in Wohlgefallen auf, wodurch einige Fragen unbeantwortet und einige Nebenhandlungen unaufgelöst bleiben. Nichtsdestotrotz handelt es sich bei „Auf See“ um einen wertvollen und nachdenklich stimmenden Roman, den ich allen Lesern, die ich sich sowohl für utopische/dystopische Ideen als auch für historische Themen interessieren, aufs Wärmste empfehlen kann.

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Veröffentlicht am 24.08.2022

Ein leiser Roman mit tiefer Wirkung

Intimitäten
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„Aber wir alle sind außerstande, die Welt, in der wir leben, wirklich zu sehen, eine Welt, die den Widerspruch zwischen ihrer Banalität und ihren Extremen in sich trägt – wir sehen diese Welt höchstens ...

„Aber wir alle sind außerstande, die Welt, in der wir leben, wirklich zu sehen, eine Welt, die den Widerspruch zwischen ihrer Banalität und ihren Extremen in sich trägt – wir sehen diese Welt höchstens für kurze Augenblicke, und dann wieder für lange Zeit nicht, wenn überhaupt noch jemals. Es ist erstaunlich einfach, Wahrgenommenes wieder zu vergessen, einen entsetzlichen Anblick, die Stimme, die das Unsagbare sagt – um in dieser Welt bestehen zu können, müssen wir vergessen und tun es auch, wir leben in einem Zustand des »Ich weiß es, aber ich weiß es nicht«.“

Als der Vater nach einer langen Krankheit stirbt und die Mutter wieder nach Singapur zurückkehrt, gibt es nichts mehr, was die Ich-Erzählerin in New York hält. Sie bewirbt sich für die Stelle als Dolmetscherin am Internationalen Gerichtshof in Den Haag, wo sie angenommen wird. In Den Haag lernt sie Adriaan kennen, mit dem sie eine Beziehung anfängt, der allerdings für unabsehbare Zeit nach Lissabon verreist, um über die Scheidung und das Sorgerecht um die beiden gemeinsamen Kinder mit seiner Frau zu verhandeln, die ihn vor einem Jahr für einen anderen Mann verließ. Während die Beziehung der Erzählerin zu Adriaan während dieser Zeit in der Schwebe hängt, verfängt sie sich immer mehr als Dolmetscherin in den Fallstricken eines Prozesses gegen den westafrikanischen Ex-Präsidenten, einen Kriegsverbrecher, dem massive Menschenrechtsverletzungen vorgeworfen werden.

Der Roman „Intimitäten“ von Katie Kitamura hat mich von der ersten bis zur letzten Seite gefesselt. Zum ersten Mal habe ich ein fiktionales Buch gelesen, in dem es um die Arbeit eines Dolmetschers / einer Dolmetscherin geht – und das auf derart tiefgehende, profunde Art behandelt und aufgearbeitet. Die Sprache und wie sie Sinnhaftigkeit und Weltbilder erzeugt und umgekehrt, wie sie gleichzeitig zu Sinnverlust führen kann – darum geht es unter anderem in dem Roman. „Das Dolmetschen kann massiv desorientierend wirken, man kann sich dermaßen in den Einzelheiten verlieren, in dem Bemühen, die einzelnen Wörter, die zu dolmetschen sind, möglichst getreu wiederzugeben, dass man den eigentlichen Sinn der Sätze nicht mehr recht erfasst: Man weiß im wahrsten Sinne des Wortes nicht, was man sagt. Die Sprache verliert ihre Bedeutung.“ Die Erzählerin lässt uns an ihren Erkentnissen teilhaben und kreiert mit ihren treffsicheren Bildern eine detaillierte, kenntnisreiche Erzählwelt. Die Beziehung zwischen der Erzählerin und Adriaan ist nur der Rahmen für eine viel wichtigere Geschichte. Die Fragen, die Adriaan hinterlässt, weiten sich im Zusammenhang mit dem Prozess gegen den Angeklagten, bei dessen Verhandlung sie dolmetscht, und der sie zu den privaten Treffen mit seinen Anwälten ins Gefängnis beordern lässt, zu existentiellen Ausmaßen aus. Der Buchtitel „Intimitäten“ und das darauf halb zu sehende Gesicht einer Person, die einer anderen Person etwas ins Ohr flüstert, ist nicht so sehr das Paar, das Liebesworte austauscht, sondern die Dolmetscherin, die dem Angeklagten die Worte seiner Anwälte und Verteidiger übermittelt. Es ist eine äußerst „intime“ Situation, da die Übersetzerin Worte, die ursprünglich nicht ihre eigenen sind, durch die Überführung in eine andere Sprache, mit einer unwillkürlich erfolgenden persönlichen Einfärbung durch Ton, Lautstärke, Gemütslage und Interpretation versieht. Während die Worte zunehmend an Bedeutung für sie selbst verlieren, fließen gleichsam die Grenzen zwischen Gut und Böse, zwischen Wahrheit und Lüge, zwischen Moral und Unmoral unbemerkt ineinander über. Dadurch baut sich eine – von der Dolmetscherin und Erzählerin ungewollte – Nähe zum Angeklagten auf: „Während dieser langen Stunden in der Kabine hatte ich manchmal das unangenehme Gefühl, dass ich von all den Menschen im Saal, ja von allen Menschen in der Stadt den Ex-Präsidenten am besten kannte. In diesen Momenten wurde er durch etwas, das ich nur als ein Übermaß an Fantasie bezeichnen kann, zu der Person, deren Perspektive ich einnahm. Ich zuckte zusammen, wenn sich die Verhandlung gegen ihn zu wenden schien, verspürte stille Erleichterung, wenn sie sich wieder zu seinen Gunsten entwickelte. Es war zutiefst beunruhigend, als wäre ich in einen Körper verpflanzt worden, in dem ich nicht sein wollte.“

Da ich mich sehr für sprachliche Fragen interessiere und gerne Bücher lese, in denen es um Sprache und die wechselseitige Einflussnahme von sprachlicher Welterzeugung und individueller Wahrnehmung geht, war der Roman „Intimitäten“ ein wahrer Glücksgriff für mich, den ich gleichzeitig jedem wärmstens ans Herz legen möchte. Es ist ein Roman, der leise daherkommt, aber mit seiner Tiefgründigkeit mitreißt und nachdenklich stimmt. Es ist eins dieser Bücher, das dem Leser einen neuen und tieferen Blick auf die Welt schenkt.

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Veröffentlicht am 27.07.2022

Ein Buch, das seinesgleichen sucht

Papyrus
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»Lesen errichtet eine innige Kommunikation, eine klangvolle Einsamkeit.«

Irene Vallejo nimmt uns in ihrem - äußerlich wie innerlich - wunderschönen Buch »Papyrus« auf die überaus spannende und abenteuerliche ...

»Lesen errichtet eine innige Kommunikation, eine klangvolle Einsamkeit.«

Irene Vallejo nimmt uns in ihrem - äußerlich wie innerlich - wunderschönen Buch »Papyrus« auf die überaus spannende und abenteuerliche Reise auf den Spuren des Buches mit. Auf eine äußerst ansprechende Weise verbindet die Autorin Historisches, Persönliches und Fiktives zu einem originellen, einzigartigen Buch. Parallelen und Assoziationen sowie intermediale Anspielungen lassen vor dem inneren Auge des Lesers eine lebhafte Welt entstehen, in der man gerne wandelt und sich Inspirationen holt.

Gemeinsam mit der Autorin tauchen wir ein in die Geschichte der Bibliothek von Alexandria, begleiten sie zu ihren Recherchearbeiten nach Oxford und machen uns Gedanken über das geschriebene Wort. Auch über die verschiedensten Schriftenträger - Papyrus, Pergament, Papier oder gar die menschliche Haut selbst - machen wir uns zusammen mit der Autorin ausführlich Gedanken. Entstanden ist auf diese Weise ein überaus lesenswertes Buch, das die allerwärmste Empfehlung von mir erhält. Es ist ein ebenso informatives wie bezauberndes Buch für alle Menschen da draußen, die restlos der Bibliomanie verfallen sind. »Papyrus« von Irene Vallejo sollte in ihrer Sammlung auf keinen Fall fehlen.

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Veröffentlicht am 10.05.2022

Ein vielschichtiger Roman

Das Leben eines Anderen
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„Wenn es stimmte, dass die Menschen erst durch ihre Erinnerungen sie selbst werden, konnte man dann nicht, indem man sich die Erinnerungen eines Anderen einverleibte, zu jemand Anderem werden?“

Rie ist ...

„Wenn es stimmte, dass die Menschen erst durch ihre Erinnerungen sie selbst werden, konnte man dann nicht, indem man sich die Erinnerungen eines Anderen einverleibte, zu jemand Anderem werden?“

Rie ist in tiefer Trauer um ihren kürzlich tödlich verunglückten Ehemann, als plötzlich ein neuer Schock hinzukommt: Ihr Mann war nicht der, für den er sich ausgegeben hat. Nicht nur der Name Taniguchi Daisuke, nein, auch die Vergangenheit gehört(e) einem Anderen. Doch warum hat er eine falsche Identität angenommen? Um Klarheit zu erlangen, sucht Rie Akira Kido auf, den Anwalt, der sie bereits bei dem Scheidungsverfahren gegen ihren ersten Mann unterstützt hat. Zunächst nimmt Kido den Fall mehr ihr zuliebe an, als dass er wirklich interessant und lukrativ für ihn wäre. Je mehr Kido sich jedoch mit dem Fall befasst, desto faszinierter ist er und desto mehr gerät er in die Fänge der Idee eines Identitätstausches. Er liebäugelt mit der Vorstellung das Leben eines Anderen zu führen. Gleichzeitig setzt er sich aufs Tiefste mit existenziellen Fragen auseinander. Wie lebt man, wie liebt man in der Lüge?

„Das Leben eines Anderen“ ist ein tiefsinniger, vielschichtiger Roman. Im Fordergrund steht der kriminalistische Fall des Identitätstausches. Der Fall wird Stück für Stück aufgedeckt, sodass der Leser der Handlung mit ununterbrochener Spannung folgt. Gleichzeitig handelt es sich bei „Das Leben eines Anderen“ um einen ausgeklügelten Psychologieroman mit vielen philosophischen Fragen. Es werden Fragen nach der Identität und Zugehörigkeit aufgeworfen. Worüber definiert sich der Mensch? Über seine Herkunft? Seine Vergangenheit? Wie wird er zu dem, der er ist? Und, wird er zu einem Anderen, wenn er einen anderen Namen annimmt, die Identität mit einer anderen Person wechselt? Wird er dann ein Stückweit zu dieser anderen Person und nimmt die Vergangenheit des Anderen an, um gleichzeitig seine eigene Vergangenheit abzustreifen wie eine Hülle? Und welche Rolle spielt die Vergangenheit für die Liebe? Kann aus der Lüge eine neue, eine andere Liebe entstehen?

Keiichirō Hiranokonfrontiert uns in „Das Leben eines Anderen“ mit einer glaubwürdigen Geschichte, authentisch wirkenden Geschehnissen und lebensnahen Figuren. Gleichzeitig spielt er mit uns als Lesern und dem Zusammenspiel von Wirklichkeit und Wahrhaftigkeit, wenn er im Prolog schreibt, er habe Akira Kido persönlich kennengelernt und von ihm die Geschichte erzählt bekommen. „Ein Schriftsteller ist immer“, so schreibt er, „auf der Suche nach Menschen, die ihm als Modell für seine Romane dienen könnten. Er hofft, dass eines Tages ganz plötzlich, wie durch einen glücklichen Zufall, Meursault oder Holly Golightly vor ihm stehen. Als Vorlage eignen sich vor allem außergewöhnliche Menschen, allerdings müssen sie auch etwas an sich haben, was sie zum Sinnbild für Andere oder einer ganzen Zeit werden lässt, damit sie, durch die Fiktion geläutert, Symbolcharakter erhalten.“

Auf die Frage hin, warum Kido sich so intensiv mit dem Fall des Mannes auseinandersetzt, der seine Identität mit einem Anderen gewechselt hat, antwortet er: „Durch das Leben des Anderen komme ich an mein eigenes Leben heran. Ich kann über Dinge nachdenken, über die ich nachdenken sollte. Aber einfach so, direkt, kann ich das nicht. Mein Körper stemmt sich dagegen. Es ist so, als würde ich einen Roman lesen und beim Lesen auch meinem eigenen Schmerz begegnen.“ Und ist es nicht auch so bei uns? Lesen wir nicht auch, um uns durch das Leben einer Romanfigur an unser eigenes Leben anzunähern? Um seinem eigenen Schmerz zu begegnen? Und hat nach Beendigung der Lektüre vielleicht auch der ein oder andere mit der Idee eines Identitätstausches geliebäugelt?

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