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Veröffentlicht am 17.04.2019

Dicht und intensiv

Fünf Tage im Mai
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„Dieser Ort und ich, wir hatten eine Geschichte.“

Ully ist eine junge Frau, die in einem Dorf in Tirol aufwächst. Im Alter von fünfundzwanzig Jahren lässt sie uns rückblickend an fünf Maitagen teilhaben, ...

„Dieser Ort und ich, wir hatten eine Geschichte.“

Ully ist eine junge Frau, die in einem Dorf in Tirol aufwächst. Im Alter von fünfundzwanzig Jahren lässt sie uns rückblickend an fünf Maitagen teilhaben, die einschneidende Ereignisse in ihrem Leben markierten oder sie auf auf eine andere Art und Weise besonders prägten. Große Bedeutung spielt in ihrem Leben dabei stets ihre innige Beziehung zu ihrem Urgroßvater, den sie liebevoll Tat‘ka nennt. Er ist ihr Vorbild, Lehrer und Leitstern auf ihrem Weg. Kein anderer Mensch in ihrem Leben bringt ihr so viel Verständnis entgegen und lehrt sie so viel über das Leben. Er begegnet ihr mit Geduld, Zuneigung und Weisheit. Einen Einschnitt in diese innige Beziehung markiert einzig die Phase ihrer ersten großen Jugendliebe, die ihr Leben auf den Kopf stellt und schließlich ein verhängnisvolles Ende nimmt.

Fehlerfrei und lückenlos schlüpft die Autorin zunächst im ersten Buchabschnitt in die Perspektive eines Kindes, um in den zwei darauf folgenden Abschnitten nahtlos in die Sichtweise einer Jugendlichen überzugehen und schließlich die letzten beiden Kapitel der Erwachsenenperspektive zu widmen. Wer sich noch gut an seine eigene Kindheit erinnert, der wird sich unweigerlich darin wiederfinden, wie für die kleine Ully ein aus Erwachsenenperspektive wahrscheinlich nicht so großes Vergehen, das sie sich hat zu Schulden kommen lassen, nach und nach so große Ausmaße annimmt, dass es in einer Art Fiebertraum kulminiert. („Durch meine Schuld, durch meine Schuld, durch meine große Schuld. Die Seele ist ein Vierklee. Jedes vierte Blatt ist verstrahlt.“) In den Kapiteln, die Ullys Jugendzeit gewidmet sind, ist es geradezu beklemmend, wie präzise die Autorin die Gefühle beschreibt, die einen in dieser äußerst schwierigen Phase begleiten. Die Sehnsucht danach irgendwo dazuzugehören und diese große Einsamkeit, die einen überkommt, wenn man das dann schließlich erreicht, aber feststellt, dass einen nichts mit den anderen verbindet („Ich saß im Auto wie eine schlecht gestochenes Piercing, das über kurz oder lang aus dieser fröhlichen Gemeinschaft herauseitern würde.“). Auch die Erwachsenenperspektive überzeugt mit ihrer Gefühlssektion auf ganzer Linie („Es war möglich, den Schmerz zu bannen, indem man ihn mit anderen teilte. Es war möglich, zwischen den Menschen unsichtbare Brücken aus Wörtern zu bauen, auf denen die Gefühle von einem zum anderen wandern konnten.“

Und genau das gelingt der Autorin Elisabeth R. Hager ebenfalls mit uns. Sie baut unsichtbare Brücken aus Wörtern, die die Gefühle der Erzählerin zu den Lesern wandern lassen. Sie schafft mit „Fünf Tage im Mai“ ein überaus dichtes, intensives und wortgewaltiges Meisterwerk. Es bezaubert, fasziniert, bestürzt und ergreift. Ihr gelingt das fast Unmögliche – den Leser sowohl intensiv fühlen als auch denken zu lassen – ohne Pause für Unnötiges, Belangloses. Das Geschriebene ist mehr als nur Wort, Metapher, Botschaft. Nichts weniger als wahrhaftes Leben ist es, das aus jeder Wortpore dringt, uns aus jeder Schriftzeile entgegen schlägt und aus jeder Buchseite atmet. „Fünf Tage im Mai“ ist ein durch und durch authentisches, wahrhaftiges Werk. Und es ist nicht etwa so, dass wir die Gedanken- und Gefühlswelt der Erzählerin lediglich nachempfinden – nein, unser Leseerlebnis steht ihrem Erleben an Intensität in nichts nach. Und ist es nicht genau das, was große Literatur ausmacht? „Fünf Tage im Mai“ ist wahrlich ein großes Werk, das Veränderung initiiert.

„Von allem, was danach geschah, kenne ich nur meinen Teil der Geschichte, aber das ist im Leben ja immer so.“

Veröffentlicht am 15.04.2019

Still und unaufgeregt

Siebzehnter Sommer
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Angeline lebt in einer kleinen Stadt in Wisconsin. Sie ist siebzehn und hat gerade die High School abgeschlossen. Nach dem Sommer wird sie aufs College in Chicago gehen. Ihr siebzehnter Sommer wird ihr ...

Angeline lebt in einer kleinen Stadt in Wisconsin. Sie ist siebzehn und hat gerade die High School abgeschlossen. Nach dem Sommer wird sie aufs College in Chicago gehen. Ihr siebzehnter Sommer wird ihr aber auf ewig in Erinnerung bleiben, denn sie erlebt in dieser Zeit die zarten Gefühle der ersten Liebe.

Das Buchcover ist sehr schlicht gehalten, es beschränkt sich auf das Wesentliche: Das Mädchen, das uns Leser an ihrem Innenleben teilnehmen lässt. Angie schaut uns an, mit ihrem sanften und verträumten Blick und wir wissen, dass sie Jack ansieht und wir schlüpfen nahtlos in diesen Jungen hinein und sehen sie mit seinen Augen.

Aus Interesse habe ich mir die amerikanischen Ausgaben des Romans angesehen und ich finde es verblüffend wie jedes Cover die Zeit der Herausgabe widerspiegelt. Die deutsche Auflage ist eine perfekte Gratwanderung zwischen modern (minimalistisch!) und nostalgisch, so dass das Buch direkt ins Auge springt und zum Lesen animiert.

Maureen Daly lässt uns auf bezaubernd ehrliche Weise an ihrem Leben teilnehmen. An ihren alltäglichen Arbeiten, ihren Gesprächen mit den Familienmitgliedern und der Zeit, die sie mit Jack verbringt. Mit einer genauen Beobachtungsgabe gesegnet, schildert sie die Natur, die einen großen Einfluss auf ihre Gefühle hat und sie zu Reflexionen inspiriert, die den Leser unwillkürlich bezaubern.

Die zarten und unschuldigen Gefühle, die sie für Jack entwickelt, lassen jede Leserin an ihre eigene erste große Liebe zurückdenken.

Als großer Fan amerikanischer Filme aus den dreißiger, vierziger und fünfziger Jahren, habe ich geradezu wie ein Schwamm alles aufgesogen, was ich an Informationen über diese Zeit mit Hilfe des Romans in Erfahrung bringen konnte. Wie die Familie lebt und ihre Zeit verbringt, welche Art von Zeitvertreib der Jugend im Speziellen und der Familie im Ganzen zur Verfügung steht – und ich muss sagen, es liest sich alles wie einer jener heiteren, idyllisch-schönen Filme über das amerikanische Familienleben: Die Parade des vierten Juli, die kleinen Lokale mit den Musikboxen, Bootsfahrten auf dem See, Picknicken mit der ganzen Familie, die Mutter, die im Garten selbst Angebautes einmacht, der Vater, der jeden Sonntag seinen Wagen blitzblank putzt und der alljährliche Jahrmarkt, der den Höhepunkt des Jahres markiert.

Unaufgeregt, psychologisch stimmig und heiter – ein wunderbares Buch, um in eine Welt einzutauchen, in der alles so ist, wie es sein sollte. Liebe- und respektvoll, nachdenklich und reflektiert, versonnen und verträumt. Ein wahres Wohlfühlbuch für geruhsame, müßige Stunden!

Veröffentlicht am 08.04.2019

Für's Katzenklo

Eine Samtpfote zum Verlieben
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Jamie möchte sich ein Jahr Auszeit gönnen, in dem sie herausfinden möchte, wofür sie wirklich brennt. Dafür zieht sie mit ihrem Kater McGyver in ein kleines Häuschen in Kalifornien. In unmittelbarer Nachbarschaft ...

Jamie möchte sich ein Jahr Auszeit gönnen, in dem sie herausfinden möchte, wofür sie wirklich brennt. Dafür zieht sie mit ihrem Kater McGyver in ein kleines Häuschen in Kalifornien. In unmittelbarer Nachbarschaft wohnt David, der vor drei Jahren seine Frau verloren hat, und kein Interesse daran hat, sich neu zu binden. Doch McGyver hat diesbezüglich andere Pläne: Sowohl Jamie als auch David verströmen diesen starken Duft nach Einsamkeit, so dass er beschließt, sie zusammen zu führen. Aber nicht nur die beiden werden Ziele seiner "Mission", McGyver bringt auch zwei Teenager zusammen, eine ältere kinderlose Frau und ein einsames Mädchen, zwei Zwillingsschwestern, die seit über fünfzig Jahren nicht miteinander gesprochen haben ...

So nett die Idee an sich ist und die Leseprobe vielversprechend wirkte, so enttäuschend ist der Roman letztendlich insgesamt. Die Liebesgeschichte um Jamie und David ist in keiner Weise originell, was ich auch nicht erwartet habe. Allerdings habe ich gehofft, der titelgebende Kater McGyver würde dem Roman die notwendige Spritzigkeit und Phantasie verleihen. Dem ist leider nicht so. Bereits nach dem ersten ihm gewidmeten Abschnitt ist das Amüsement verpufft: Des Katers ganze Gedankenwelt und sein Tun reduziert sich darauf Gegenstände von den Menschen, die er miteinander verkuppeln möchte, vor die Haustür des jeweils anderen Parts zu legen sowie Diogee, Davids Hund, zu ärgern und an der Nase herumzuführen. Dabei fehlt ihm jegliches tiercharakteristische Charisma – vielmehr erinnert er an die Comic-Figur Spiderman, während der Hund Diogee wiederum geradezu debil anmutet.

Der Grund weshalb die beiden, Jamie und David, schließlich zueinander finden, ist dabei weniger den Bemühungen des Katers – Himmel, wie lange sie gebraucht haben bis sie endlich erkannt haben, dass der Kater hinter dem Ganzen steckt! – zuzuschreiben, als vielmehr der Tatsache, dass die potenziellen Partnerkandidaten, mit denen sich die beiden vorher treffen – die Realität lässt wiedermal in ihrem vollen Ausmaß grüßen! – entweder extremst absonderlich und/oder dissozial sind. Kein Wunder, dass die beiden zusammen kommen – sind sie doch die einzigen halbwegs Normalen in der ganzen Gegend. (Bevor sie das werden, tun sie allerdings vor aller Welt nur als ob, um sich vor weiteren Verkupplungsversuchen zu schützen – so ziemlich das kindlichste und lächerlichste Verhalten, das man sich hätte ausdenken können.) Während die Hauptfiguren dabei noch ein wenig ausgearbeitet sind, sind alle anderen in dem Roman vorkommenden Charaktere geradezu lächerlich oberflächlich und überzeichnet. So gibt es die beiden älteren Nachbarinnen, Marie und Helen, die allem Anschein nach nur ein einziges Ziel in ihrem Leben verfolgen und zwar dasjenige, Jamie möglichst bald mit einem Mann zu verkuppeln. Da fragt man sich als Leser doch unwillkürlich, was ihr Lebensinhalt war, bevor Jamie in ihre Nachbarschaft gezogen ist... Oder die überaus originelle Nachbarin Ruby, die bereits im September mit der Weihnachtsdekoration anfängt... Das absolute Tüpfelchen aufs i unter all den Verrückten ist allerdings Hud, ein ehemaliger Detekitvfilmdarsteller, der seine Rolle nun im 'wirklichen Leben' weiterführt, in dem er unendlich lange Befragungen bezüglich einer vermeintlich geklauten Socke führt...

In diesem Roman ist alles unglaubwürdig und maßlos überzeichnet. Es ist eine unendlich scheinende Schleife sich wiederholender banaler Idee: Ist die eine erschöpft, wird sie von der nächsten abgelöst und diese wieder von der nächsten und diese wieder von der ersten und so geht es weiter bis man endlich am Ende des Romans angekommen ist. Als wenn das nicht schon genug wäre, wird auch alles, was wir als Leser mit den Figuren miterleben, von diesen in mindestens ein, zwei weiteren Gesprächen einer anderen Figur erzählt. Empfehlen kann ich diesen Roman wahrlich nicht!

Veröffentlicht am 03.04.2019

Ein Wälzer ohne Wirkung

Eine eigene Zukunft
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Victoria, Mona und Luz – diese drei temperamentvollen Spanierinnen haben ihren Vater kaum gekannt, war er doch ständig auf See und kam nur selten in seinem Heimatland vorbei. Trotzdem folgen sie mit ihrer ...

Victoria, Mona und Luz – diese drei temperamentvollen Spanierinnen haben ihren Vater kaum gekannt, war er doch ständig auf See und kam nur selten in seinem Heimatland vorbei. Trotzdem folgen sie mit ihrer Mutter seinem Ruf nach New York, wo er endlich sesshaft geworden ist und ein Restaurant zusammen mit seiner Familie führen möchte. Doch das Schicksal meint es nicht gut mit ihnen: Kaum haben die vier ein wenig in der neuen Welt Fuß gefasst, kommt der Vater bei einem Hafenunglück ums Leben. Auf sich allein gestellt, suchen die drei Schwestern nach einem Weg in dieser großen fremden Stadt zu überleben.

Zunächst muss ich erwähnen, dass der Klappentext des Romans den Leser in die Irre führt. So habe ich aufgrund der Formulierung „Sie verwandeln das väterliche Lokal in einen Nachtklub, mit abenteuerlichen Folgen...“ natürlich angenommen, dass sich alles darum drehen würde, wie die drei Schwestern einen Nachtklub gründen und wie sie ihn führen. Tatsächlich soll der Leser nicht einen Tag in diesem Nachtklub erleben. Die Idee dafür kristallisiert sich zwar nach ungefähr einem Drittel des Romans heraus und eine der drei Schwestern widmet sich eingehend diesem Projekt, doch eröffnet wird es nie – aus welchen Gründen, das möchte ich nun aber nicht mehr spoilern. Wie dem auch sei – ich finde es äußerst unbefriedigend, wenn der Klappentext nicht mit dem Inhalt eines Buches übereinstimmt und völlig falsche Erwartungen aufbaut.

Obwohl sich die Autorin augenscheinlich viel Mühe gibt, lebhafte Charaktere zu skizzieren und eine spannende Handlung mit amourösen wie kriminellen Aspekten aufzubauen, ist es ihr nach meinem Empfinden nicht gelungen eine runde und überzeugende Geschichte zu erzählen. Die Lesersympathien für ihre Protagonistinnen versucht sie viel zu verkrampft zu gewinnen, Zufälle und schicksalsverändernde Begebenheiten häufen sich auf eine geradezu schreiende fiktionale Art und Weise und vieles wirkt einfach nur fehl am Platz. Äußerst ermüdend ist auch die Vorgehensweise der Autorin von jeder neu eingeführten Figur die Lebensgeschichte ausrollen zu wollen, bevor sie die Haupthandlung weiter fortsetzt. Spannungsfördernd ist diese Vorgehensweise bei weitem nicht und aus rückblickender Perspektive für das Funktionieren des Romans auch nicht zwingend notwendig gewesen.

Aber genau das ist das Problem: Der Roman funktioniert einfach nicht. Jeder Leser kennt es: Entweder verzaubert ein Roman durch seine Leichtigkeit oder durch seinen Tiefgang. Der vorliegende Roman ist weder der einen noch der anderen Kategorie zuzuordnen. „Eine eigene Zukunft“ hat mir weder vergnügliche Lesestunden bereitet noch hat er mich berührt oder zu eigenen Reflexionen angeregt. Nachdem ich diesen fast sechshundertseitigen Wälzer zugeschlagen habe, war ich lediglich erleichtert darüber, den Roman nun endlich beendet zu haben. Das ist wirklich schade, denn die Autorin wollte mit ihrem Werk offenkundig allen Emigranten dieser Welt im Allgemeinen und den spanischen Auswanderern im Speziellen ein feierliches Denkmal setzen.

Veröffentlicht am 25.03.2019

Studie eines Menschenlebens

Die Angehörigen
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„Vielleicht ist das Bedauern die nützlichste Art der Erinnerung.“

Nach 49 Ehejahren stirbt Maida, Genes Ehefrau, ganz plötzlich. Nun hat Gene nicht nur mit Verlust und Trauer zu kämpfen, sondern auch ...

„Vielleicht ist das Bedauern die nützlichste Art der Erinnerung.“

Nach 49 Ehejahren stirbt Maida, Genes Ehefrau, ganz plötzlich. Nun hat Gene nicht nur mit Verlust und Trauer zu kämpfen, sondern auch mit vielen quälenden Fragen bezüglich ihres gemeinsamen Ehelebens. Der Tod seiner Frau wird zum Anlass für einen tiefgehenden Rückblick auf die mit Maida verbrachten Lebensjahre, aber auch für eine Auseinandersetzung mit seinem Leben, wie er es gelebt hat, und mit seinen Rollen als Ehemann und Vater.

Nachdem ich den Klappentext zu dem Roman gelesen habe, hatte ich eigentlich eine andere Erwartung bezüglich dessen, was ich während der Lektüre erleben würde. Ich habe viele Gespräche und Auseinandersetzungen zwischen Gene und seiner Tochter, Dary, erwartert sowie zwischen Gene und seinen lebenslangen Freunden Ed und Gayle. Tatsächlich finden in dem Roman nur zwei Gespräche statt, in denen es um Maida geht. Einmal während einer Diskussion mit seiner Tochter, in der sie der Frage nachgehen, ob Maida in ihrem Beruf Glück und Erfüllung gefunden hätte, und einmal mit Ed, in dem es um das Verhältnis zwischen diesem und Maida ging.

Auch die Zweifel, die als tiefgreifend beschrieben werden und der „entsetzliche Verdacht“, von dem im Klappentext die Rede ist, sind hoffnungslos überzeichnet und nicht der Art, wie sie tatsächlich sind – im Kontext betrachtet nehmen sie sich ganz anders aus. Trotzdem tut dies dem Roman keinen Abbruch. Es geht eben nicht um die Studie eines Ehelebens, sondern um die Studie EINES Menschenlebens. Und diese Studie ist durchaus als gelungen zu bezeichnen. Umso mehr, wenn man bedenkt, dass es sich bei „Die Angehörigen“ um einen Debütroman handelt, der aus der Feder einer Frau stammt, die sich in eine männliche Figur – aus meiner Sicht nahezu fehlerfrei – eingefühlt hat. Genes Gedanken und Gefühle waren für mich zum größten Teil nachvollziehbar. Bis auf diese Art „Liebesgeschichte“ zwischen Gene und seiner Haushaltshilfe, Adele, die sich während seines Witwerdaseins entspinnt. Diese Episode scheint Genes Trauer um Maida Lügen zu strafen, denn wie ist es möglich, so schnell für einen Menschen Gefühle zu entwickeln, nachdem man sein ganzes Leben lang nur eine Frau geliebt hat?

Persönlich war mir auch Genes Tochter, Dary, äußerst unsympathisch, sodass ich mit ihr nicht besonders viel anzufangen wusste. Aber wenn man es recht bedenkt, so ist keine der im Roman auftretenden Figuren – auch der Protagonist Gene nicht – ein Sympathieträger. Eine gewisse Distanz zwischen Leser und Figuren ist von der Autorin sichtlich angelegt und gewollt, sodass man nicht emotional involviert wird, sondern aus der Distanz heraus beobachtet und seine Schlüsse zieht. Bei Katharine Dions Roman handelt es sich um ein sprachlich ausgereiftes Werk, das zu (Selbst-)Reflexion anregt – und nicht um eine rührselige Sensationsgeschichte.