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Veröffentlicht am 18.09.2018

Von der Muse geküsst

Das Geheimnis der Muse
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Das Geheimnis der Muse – ein Roman Jessie Burtons, der sich sowohl mit Geschichte und Kunst als auch psychologischen Fragen und zwischenmenschlichen Beziehungen auseinandersetzt – und das mit einer ihr ...

Das Geheimnis der Muse – ein Roman Jessie Burtons, der sich sowohl mit Geschichte und Kunst als auch psychologischen Fragen und zwischenmenschlichen Beziehungen auseinandersetzt – und das mit einer ihr ganz eigenen Art der atmosphärischen Spannung.

Odelle Bastien, eine junge Frau aus Trinidad, mit erstklassigem Abschluss in Englischer Literatur und schriftstellerischen Ambitionen, zieht nach England und gewährt uns Einblick in die Zeit, die sie am meisten geprägt hat. „Die beherrschenden Ideen, das Timbre, die typische Gestalt all dessen, was ich schreibe, haben ihren Dreh- und Angelpunkt in jener kurzen Phase meines Lebens. Im Schreiben bearbeite und wiederhole ich in immer neuen Variationen die Erfahrungen, die mich damals geformt haben.“ In diese kurze Phase ihres Lebens, über die Odelle spricht, fallen zwei einschneidende Ereignisse: Odelle beginnt ihre Arbeit als Sekretärin in der renommierten Kunstgalerie Skelton, wo ihr die geheimnisvolle Marjorie Quick immer wieder neue Fragen aufwirft, und sie macht auf der Hochzeitsfeier ihrer besten Freundin Bekanntschaft mit Lawrie Scott, der sich im Besitz eines Gemäldes befindet – dem einzigen Erbstück seiner kürzlich verstorbenen Mutter. Wie sich herausstellt, handelt es sich bei dem Bild um ein verschollen geglaubtes Gemälde des andalusischen Revolutionärs Isaac Roble. Dieses Gemälde wird zum Verbindungsstück mit den Geschehnissen des Jahres 1936 in Spanien, wohin die junge Malerin Olive Schloss mit ihren Eltern vor den Unruhen der 30er Jahre aus London flieht. Dort lernen sie ihre unmittelbaren Nachbarn, Isaac Roble und seine Schwester Teresa, kennen. Zwischen Olive und Isaac entwickelt sich eine Liebesbeziehung, die in Olive unerwartete kreative Kräfte freisetzt, die ihren Ausdruck in vier Gemälden wiederfinden.

Die Autorin Jessie Burton greift in diesem Teil des Romans tief verwurzelte tradierte Denkmuster auf, in denen der Mann als Subjekt, die Frau als Objekt figuriert und vertauscht die Geschlechter-rollen: Es ist der Mann, der zur ‚Muse’ für die Künstlerin wird. Er ist Objekt ihrer Liebe und seine Liebeserwiderung ist ihr unentbehrlich für das kreative Schaffen. Aus dem ultimativen „Ich kann ohne dich nicht leben“ wird ein „Ich kann ohne dich nicht malen“. Auch in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts herrscht Konsens darüber, Frauen könnten zwar dichterisch und künstlerisch tätig sein, ein wahres Kunstwerk könnte aber nur ein Mann zustande bringen. Nur ein Mann kann Neues schaffen. Diese Auffassung konzentriert sich in der Figur des Kunsthändlers Harold Schloss, Olives Vater. Aus einer von Olive Schloss nicht geplanten Situation heraus, wird Isaac Robles für den Schöpfer ihres Werks gehalten. Harold Schloss glaubt einen wahren Künstler gefunden zu haben und nimmt "Die heilige Justa im Brunnen" als "Frauen im Weizenfeld" auf einen Siegeszug mit nach Paris. Weitere Gemälde entstehen unter falscher Identität.

Ein verhängnisvolles Tauziehen beginnt: „Ich glaube, es war immer schon in dir und hat nur darauf gewartet, endlich ans Licht zu kommen. Ich war nur zufällig zur richtigen Zeit da, sodass du mich als Projektionsfläche benutzt hast. […] Ich bin eine Berühmtheit in Paris, obwohl ich nie dort gewesen bin. Ich male Selbstporträts, die ich nie zu Gesicht bekommen habe. Du stiehlst meine Identität, Olive. Ich merke, wie ich mehr und mehr verschwinde, je sichtbarer ich werde.“ Olive hält Isaac entgegen: „Weißt du, wie viele Künstler mein Vater verkauft? Das letzte Mal, als ich gezählt habe, waren es sechsundzwanzig. Wie viele Frauen sind darunter, was meinst du, Isaac? Keine. Nicht eine einzige. Frauen können nämlich nicht malen, weißt du? Sie haben zwar, soweit mir bekannt ist, ebenso wie die Männer Augen und Hände, Herz und Seele, aber ihnen fehlt das Schöpferische. Dagegen kommt man nicht an, ich hätte keine Chance.“ – „Aber es wäre doch immer noch dasselbe Bild, wenn dein Name darunter stünde“, sagte Isaac. „[...] Du hättest die Verhältnisse ändern können.“ – „Es hätte nie und nimmer funktioniert. […] Das, was du ›die Verhältnisse ändern‹ nennst, würde mich so viel Energie kosten, dass keine mehr zum Malen übrig bliebe, und genau das ist der springende Punkt: Du willst, dass ich die Energie, die ein Mann aufwenden kann, um etwas möglichst Gutes zu schaffen, dafür nutze ›die Verhältnisse zu ändern‹. Du verstehst das nicht, Isaac, weil du immer ein Leben als Individuum geführt hast.“

Bereits dreißig Jahre später kann die junge Odelle als Individuum und Dichterin in der Gesellschaft Anklang finden. Das Britische Konsulat in Trinidad verleiht ihr den ersten Preis für das Gedicht "Caribbean Spider-Lily", ihr die Liebe thematisierendes Gedicht, das sie auf der Hochzeit ihrer Freundin Cynthia vorträgt, sorgt für positiven Aufruhr und auf Marjorie Quicks Initiative hin wird ihre Kurzgeschichte "Die Frau ohne Zehen" in der London Review abgedruckt. Als karibische Migrantin hat sie mit Problemen und Vorurteilen anderer Natur zu kämpfen. Sie muss feststellen, dass das in ihrem Heimatland gezeichnete Bild von England nicht mit dem übereinstimmt, was sie selbst in London vorfindet. „Man stellt sich vor, in London gibt es nichts als Ordnung und Überfluss und Anstand und grüne Natur. Man verliert ganz das Gefühl für die Distanz. […] Die Queen regiert in London und ist gleichzeitig Staatsoberhaupt unserer Insel. Also fühlt es sich an, als wären wir in London zu Hause. […] Man denkt, die Leute kennen einen, weil sie auch Dickens und Brontë und Shakespeare lesen, aber ich habe hier noch niemanden getroffen, der auch nur drei seiner Stücke nennen könnte. [..] Sie schauen nicht mal aus dem Fenster raus, weil sie denken, sie kennen sowieso jeden Busch und jede Blume da draußen, die Rinde von jedem Baum und die Stimmung jeder Wolke. Aber wir haben Platz für jede Menge Sprachen […] Was ist ihr Englisch im Vergleich mit meinem Kreolisch, mit allem, was dazugehört – Kongo und Spanisch, Hindi, Französisch, Englisch, Bhojpuri, Yoruba und Manding?“

Während Odelle in dem Gemälde "Rufina und der Löwe" eine Geschichte sieht, die zum Teil auch
ihre eigene geworden ist, ist es für Lawrie „eine Ware, ein Mittel zum Zweck. Er sah darin eine Gelegenheit, die Chance, neu anzufangen“. Edmund Reede, der Direktor des Skelton, sieht in den Bildern "Die heilige Justa im Brunnen" und "Rufina und der Löwe" eine Fortführung der Tradition spanischer Malerei und zugleich eine Variation des Themas der zwei heiligen Schwestern Justa und Rufina: „Robles war nicht der einzige Spanier, der Rufina und Justa gemalt hat. Velázquez, Zurbarán, Murillo und Goya, vier große spanische Maler, die die zwei Schwestern auch gemalt haben. […] Schöpferische Rebellion gegen die herrschenden Verhältnisse. […] Die Töpferin Rufina, eine aufrechte Vertreterin der Arbeiterklasse, trotzt dem Löwen des Faschismus. […] Und die Entdeckung, dass zwischen den beiden Gemälden […] eine enge Verbindung besteht, erschließt uns neue Einblicke in seine Arbeitsweise, in seine ganze Geistesart […]. Mein Konzept der Ausstellung zielt darauf, deutlich zu machen, dass der früh aus dem Leben gerissene Robles, eine internationale Berühmtheit der modernen Kunst, sich der großen Tradition spanischer Malerei, in der er stand, […] sehr wohl bewusst war.“

Kunst- und Literaturtheorien zielen oftmals darauf, sich einem bestimmten Werk über den Autor zu nähern, Rückschlüsse über sein Werk aus der Zeit ziehen, in der der Künstler gelebt hat oder sogar das Werk im Licht einer gegenwärtigen Geistesströmung zu deuten. Die Autorin Jessie Burton scheint mit ihrem Roman Das Geheimnis der Muse auf eine andere Herangehensweise sensibilisieren zu wollen. Sie propagiert den Sinn-Objektivismus: Alle Fragen, die das Werk aufwirft, kann das Werk selbst beantworten. Das Werk selbst sprechen lassen, ist Programm dieses Ansatzes. Indem die Autorin Edmund Reede so überzeugend das Werk "Rufina und der Löwe" in den Kontext des spanischen Bürgerkriegs setzen und ihn daraus scheinbar einwandfrei und überzeugend die künstlerische Aussage des Revolutionärs Isaac Robles ableiten lässt, dekonstruiert sie diese Art der Herangehensweise an ein (Kunst-)Werk. Jessie Burton erlaubt dem Leser mit ihrem Roman hinter die wahren Kulissen zu blicken und gewährt ihm die Möglichkeit, eine eigene Interpretation für das Werk zu finden, ohne ihm eine bestimmte Deutung aufzuzwängen. „Am Ende gelingt ein Kunstwerk nur dann, wenn […] sein Schöpfer den unverrückbaren Glauben daran besitzt, der es ins Dasein bringt.“

Jessie Burton setzt sich in ihrem Roman Das Geheimnis der Muse souverän mit dem geschichtlichen Hintergrund Spaniens zur Zeit des Bürgerkriegs, der Kolonialpolitik des Empires und dem Selbstbild Großbritanniens der 60er Jahre, mit dem alten und neuen Kunstverständnis und dem Geschlechterrollen-Diskurs auseinander – dies alles eingebettet in zwei miteinander verwobene Handlungsstränge, die einen bis zur letzten Seite fesseln.

Veröffentlicht am 04.09.2018

Ein Erinnerungsbuch der besonderen Art

Die Unruhigen
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Linn Ullmann, die Tochter Ingmar Bergmanns und Liv Ullmanns, erinnert sich in ihrem Buch „Die Unruhigen“ an ihren Vater, ihre Mutter und an sich selbst als Kind, Heranwachsende und schließlich als Ehefrau ...

Linn Ullmann, die Tochter Ingmar Bergmanns und Liv Ullmanns, erinnert sich in ihrem Buch „Die Unruhigen“ an ihren Vater, ihre Mutter und an sich selbst als Kind, Heranwachsende und schließlich als Ehefrau und Mutter. Auslöser für dieses Werk sind die im letzten Lebensjahr Ingmar Bergmanns auf Tonband aufgenommenen Gespräche zwischen Vater und Tochter. Ursprünglich sollte aus den Fragen der Tochter und den Antworten des Vaters ein gemeinsames Buch entstehen, was jedoch nicht mehr in dieser ursprünglichen Konzeptform umgesetzt werden konnte. Neun Jahre später entschließt sich Linn Ullmann die Tonbandaufnahmen aufzuarbeiten. Sie sind jedoch nicht nur der Anlass dafür, das Buch zu schreiben, sie durchziehen das gesamte Werk und bestimmen damit dessen Duktus insgesamt. Endergebnis ist ein äußerst facettenreiches, anrührendes Erinnerungswerk, dessen zeitliche Spanne sich von den frühesten Erinnerungen der Autorin bis in die jüngste Vergangenheit erstreckt.

Besonderes Charakteristikum ihres Romans ist es, nicht nur sich selbst sprechen zu lassen, sondern auch die Stimmen anderer Personen miteinzubinden, vor allem die ihres Vaters, sowie in Dialog mit anderen Texten zu treten. So positioniert sich Linn Ullmann oftmals bezüglich eines Themas durch den Einsatz von literarischen Texten: „»Die autobiografische Arbeit beginnt mit dem Gefühl, vollkommen allein zu sein«, schreibt John Berger. Ich wollte sehen, was geschehen würde, wenn ich uns in einem Buch sichtbar werden ließ, als wären wir an keinem anderen Ort daheim.“

Auch thematisiert Linn Ullmann in ihrem Werk oft die Grenzen des Gedächtnisses sowie die Konstruiertheit der Erinnerungen: „Gäbe es ein Teleskop, das man auf die vergangene Zeit richten könnte, würde ich sagen: Sieh her, da sind wir, so hat es sich abgespielt. Und jedes Mal, wenn wir unsicher gewesen wären, ob das, woran ich mich erinnere, wahr ist, oder ob das, woran du dich erinnerst, wahr ist, oder ob das, was geschah, auch wirklich geschah, oder ob wir überhaupt existieren, wären wir in der Lage gewesen, uns nebeneinanderzustellen und zu schauen.“

Sie beobachtet sich selbst stets höchst aufmerksam beim Prozess des Schreibens. „Ich schrieb: »Ich erinnere mich«, und mir war sofort unwohl dabei, da ich begriff, wie viel ich vergessen hatte. Ich besitze ein paar Briefe, ein paar Fotos, ein paar verstreute Zettel, die ich aufbewahrt habe, ohne dass ich zu sagen wüsste, warum ich ausgerechnet diese Zettel aufbewahrte und andere nicht, ich habe sechs Gesprächsaufnahmen mit meinem Vater, aber als wir die Aufnahmen machten, war er so alt, dass er den größten Teil seiner eigenen und unserer gemeinsamen Geschichte vergessen hatte. Ich erinnere mich an das, was geschah, ich glaube, ich erinnere mich an das, was geschah, aber manches habe ich mit Sicherheit auch erfunden, mir fallen Geschichten ein, die immer wieder erzählt wurden, und Geschichten, die nur einmal erzählt wurden, manchmal hörte ich zu, und manchmal hörte ich nur mit halbem Ohr zu, ich lege das alles nebeneinander, lege es aufeinander, lasse es gegeneinander stoßen, versuche, eine Richtung zu finden.“

Linn Ullmann verdeutlicht, dass autobiographische Arbeit in der Literarisierung und Deutung des Geschehens bestehe, dass es nicht darum gehe, den Gegensatz zwischen Fakt und Fiktion aufzulösen: „Um über wirkliche Personen zu schreiben wie Eltern, Kinder, Geliebte, Freunde, Feinde, Onkel, Brüder oder zufällige Passanten, ist es notwendig, sie zu fiktionalisieren. Ich glaube, dies ist der einzige Weg, ihnen Leben einzuhauchen. Sich erinnern heißt, sich umzuschauen, immer wieder jedes Mal von Neuem erstaunt.“

Die Sprache und das Gedächtnis sind für die Erzählerin untrennbar miteinander verbunden. So thematisiert sie auch den lebenslangen Sprachkampf des Vaters und seinen allmählichen Sprachverlust in den letzten Lebensjahren: „Die Stille im Schreibzimmer ist nicht ungetrübt freundlich. Die Worte kommen nicht, oder sie kommen in der falschen Reihenfolge. Die Sätze winden sich und haben weder Anfang noch Ende. Die Grenzen meiner Sprache sind die Grenzen meiner Welt, schrieb Wittgenstein, doch was geschieht jetzt, fragt der Fårökauz, was geschieht jetzt, da ich dabei bin, die Sprache zu verlieren. Bald sind nur noch Scherben übrig.“

Das Werk besitzt zwar eine chronologische Grundstruktur, die sich in der Kapiteleinteilung zeigt: Der erste Teil ist ihrer Kindheit auf Fåro gewidmet, der zweite ihrem Vater und ihrem gemeinsamen Projekt, der dritte ihrem Aufenthalt in Amerika mit ihrer Mutter, und die letzten beiden Teile wieder ihrem Vater in seinen unterschiedlichsten Lebensphasen, wobei sie auch das Verhältnis ihrer Eltern zueinander im vorletzten Teil näher beleuchtet. Und doch kann man von einer Chronologie im engeren Sinn nicht sprechen, da die Erzählung, teilweise mehrmals innerhalb eines Absatzes, zwischen verschiedenen Zeitebenen wechselt. Die geschilderte Vergangenheit wird sozusagen reflektierend von der Gegenwart eingeholt. Umgekehrt passiert dasselbe auch mit der Gegenwart, die durch Rückgriff auf Vergangenes überprüft wird. Die Gegenwart und die Vergangenheit stehen somit in einem ständigen Dialogverhältnis. Eine mosaikartige Konstruktion ist das Ergebnis, Gesprächs- und Gedankenbruchstücke aus unterschiedlichen Zeiten im Leben der Erzählerin werden miteinander vermischt. Wo oberflächlich eine Chronologie herrscht, wird sie durchbrochen und wo wiederum chronologisch eigentlich ein Bruch besteht, wird der Leser mit unerwarteten Zusammenhängen konfrontiert. Die erlebte Vergangenheit wird stets von der Gegenwart eingeholt, Erzählgegenwart und reflexive Betrachtungen spannen sich lückenfüllend über die gesamte geschilderte Vergangenheit.

Linn Ullmann verbindet in ihrem Werk „Die Unruhigen“ Literarizität und Reflexivität miteinander, sie lässt es zu einem Stimmen- und Textkonglomerat werden, das den Leser unwillkürlich in seinen Bann zieht und nachhaltig prägt.

Veröffentlicht am 19.09.2018

Kämpfernaturen

Kampfsterne
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„Das Fantatstische an der Zeit, in der wir leben, ist, dass in diesem Jahrzehnt alles total durchpsychologisiert wird. Keine noch so zarte Gemütsregung bleibt ohne Diagnose. Daher kennen wir Jugendlichen, ...

„Das Fantatstische an der Zeit, in der wir leben, ist, dass in diesem Jahrzehnt alles total durchpsychologisiert wird. Keine noch so zarte Gemütsregung bleibt ohne Diagnose. Daher kennen wir Jugendlichen, die aus derartigen »Haushalten« kommen uns bestens mit Traumata und deren tiefenpsychologischen Folgeerscheinungen aus. Constanzes und mein »Nervenkostüm«, wie es hier in unseren Kreisen gerne genannt wird, ist wund gescheuert. Darum ist uns so kalt. Unsere Körper haben jetzt auf Autopilot geschaltet beziehungsweise aufs Notprogramm.“

Die 80er Jahre stehen unter dem Stern der Psychologie und der Emanzipation, die Kinder werden zum Intelligenztest geschickt, die Frauen lesen Simone de Beauvoir und Alice Schwarzer. Sie wähnen sich aufgeklärt, frei und selbstbestimmt und sind doch auch nur Kinder ihrer Zeit, indem sie den gegenwärtigen Strömungen ausgeliefert und in den Trends ihrer Zeit gefangen sind. Der Leser taucht in die Innensicht von Rita, Georg, Johannes, Klara, Ulla, Rainer, Cotsch (Constanze), Lexchen (Alexa), Ella und Joschi ein und erfährt auf diese Weise wie diese Figuren die Welt, sich selbst und die anderen wahrnehmen. Angefangen bei Rita mit der dunklen Seele, die keine Erfüllung in ihrem Ehe- und Mutterdasein findet und glaubt, nur die erwiderte Liebe zu ihrer Nachbarin Ulla könnte ihrem Dasein einen tieferen Sinn geben, und aufgehört bei dem kleinen Lexchen, das die reine Liebe verkörpert, sind alle Figuren sowohl äußerst individuell gezeichnet, was sich in ihrer jeweils sehr eigenen Ausdrucksweise widerspiegelt, als auch psychologisch stimmig. Die Figur der Cotsch war nach meinem Gefühl als Charakter nicht ganz rund und auch Lexchens Sprache fand ich an einigen Stellen nicht passend, doch im Großen und Ganzen ist Alexa Hennig von Langes bis tief in die Seele bewegendes und zur (Selbst-)Reflexion animierendes Werk nur in höchsten Tönen zu loben.

Veröffentlicht am 15.04.2020

Hollywood im Klartext

MUTIG
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„Mutig“ ist Rose McGowans Autobiographie, in der sie eine gewagte Behauptung aufstellt – Hollywood sei die größte existierende Sekte – um die ihr gesamtes Werk kreist. Im ersten Teil des Buches skizziert ...

„Mutig“ ist Rose McGowans Autobiographie, in der sie eine gewagte Behauptung aufstellt – Hollywood sei die größte existierende Sekte – um die ihr gesamtes Werk kreist. Im ersten Teil des Buches skizziert die Autorin ihr Leben bis zum gegenwärtigen Augenblick. Teil Zwei der Autobiographie, das die letzten 55 Seiten des 300-Seiten-dicken Buches ausfüllt, ist eine Art Ratgeber für die Leser (dieser Ratgeber ist meiner Meinung nach redundant). Das ganze Buch durchziehen direkte Leseransprachen, wenn die Autorin auf ein bestimmtes Thema sensibilisieren möchte. „Ich schreibe dieses Buch, weil ich einen echten Dialog mit der Öffentlichkeit und insbesondere mit euch will. Ich fühle mich geehrt, dass meine Worte Eingang in euer Bewusstsein und Gewissen finden, dass meine Gedanken für immer in euren Herzen bleiben. Ich nehme diese Verantwortung sehr ernst.“

Rose McGowan, die dem breiten Publikum vor allem als Paige Matthews aus der Serie „Charmed“ bekannt sein sollte, wurde in einem Ort Nahe bei Florenz quasi in eine Sekte hineingeboren, da ihre Eltern Mitglieder der „Kinder Gottes“ waren. Bereits als Vierjährige widersetzt sie sich den „Erziehungsmethoden“ der Sekte und bleibt ein schwieriger Fall für die tonangebenden Sektenmitglieder. Nachdem sich Fälle von Kindesmissbrauch in der Sekte häufen, flieht Roses Vater mit seiner zweiten Frau und seinen Kindern nach Munano, einer kleinen Stadt in der Toskana, um schließlich ganz in die Vereinigten Staaten von Amerika zu ziehen. Zunächst wird Rose mit ihrem Bruder nach Washington zur Stiefgroßmutter geschickt, dann kommt sie nach Colorado zu ihrem Vater, um kurz darauf zu ihrer Mutter, die die Sekte auf eigene Faust verlassen hat, nach Oregon zu ziehen. Nach einiger Zeit kommt sie wieder zum Vater. „Wir Kinder wurden ziemlich oft hin und her geschoben, denn eine offizielle Sorgerechtsvereinbarung gab es nicht.“ Nachdem sie in der achten Klasse auf dem Schulball Acid probiert, wird sie in eine Drogenentzugsanstalt gesteckt, aus der sie die Flucht ergreift und fortan auf der Straße lebt. In dieser Zeit lernt sie ihren Geist vom Körper zu lösen: „Es gab Momente, gerade wenn es besonders hart war, in denen ich mich von meinem Körper löste. [...] Weit weg über allem zu schweben, das Geschehen wie durch eine Kameralinse zu beobachten, war meine Methode, mich zu schützen.“ In diesen „tranceähnlichen Zustand“ begibt sich Rose bei ihrer Vergewaltigung durch Weinstein, wobei sie trotz dessen ihr Leben lang unter dem traumatischen Erlebnis zu leiden haben wird.

Nachdem sie zufällig für eine Rolle in einem Film vorgeschlagen und besetzt wird, lernt sie Joshua Miller kennen, der sie dazu überredet nach Los Angeles zu ziehen. Dort schreibt sie sich als Schülerin an der Kunstschule Hollywood High ein, wo sie die Rolle ihres Lebens spielen sollte – die Antigone. In dieser Zeit lernt sie ihren ersten Freund kennen, mit dem sie vor allem die Erinnerung an Essstörungen verbindet. Da sie meiner Meinung nach das Problem dieser Erkrankung perfekt in Worte gefasst hat, möchte ich sie im Folgenden wieder zitieren: „Anorexie und Bulimie beginnen üblicherweise mit Gewichtsverlust, aber es geht um weit mehr als nur um den Körper. Es geht um die Seele. [...] Eine Essstörung ist eine unendlich einsame Störung. Niemand kommt an dich ran, am allerwenigsten du selbst. Wenn sich dein Leben nur noch um all diese erfundenen Regeln zur »Vollendung der Perfektion« dreht, bist du nicht mehr bei deinem eigenen klaren Verstand, du hörst nur noch die bösen Stimmen von außen. Und die bösen Stimmen von außen werden zu Stimmen von innen.“

Nach einem langen Kampf gegen die Krankheit, kommt schließlich der Durchbruch in Hollywood mit dem Film „Scream“. Ab diesem Moment lernt sie das wahre Hollywood kennen, mit all seinen Machtstrukturen. Ohne ein Blatt vor den Mund zu nehmen, spricht sie die ganze Wahrheit aus: Hollywood operiere wie die Mafia, wenn es um den Schutz seiner Selbst gehe und sei die größte Sekte weltweit, da sie eine gigantische Reichweite habe. Es beherrsche unsere Realität, denn wir würden - bewusst oder unbewusst - Bilder aus gesehenen Kinofilmen in unserem eigenen Leben umsetzen. „Alles, was ihr konsumiert, zählt“, warnt Rose McGowan. „Es prägt euch, es ist wichtig. Achtet bewusst darauf, was ihr anschaut, damit ihr es gegebenenfalls ablehnen könnt. Wenn Hollywood sich nicht ändern kann, dann hat es verdient, zu scheitern.“ Auch möchte sie den Leser darauf sensibilisieren, das eigene Umfeld auf Sekten zu untersuchen, da nicht nur Gruppierungen, die diesen Namen tragen, welche sind. Wenn man sich einseitig nur aus einer Quelle informiere oder sich beispielsweise im Internet-Chatroom treffe, um sich über eine Serie auszutauschen, sei man ebenfalls Mitglied einer Sekte.

„Mutig“ ist ein wirklich mutiges Buch einer mutigen Frau, das jeder unbedingt lesen sollte – vor allem diejenigen, die noch ein naives Bild von Hollywood als einer schönen Traumfabrik haben!

Veröffentlicht am 14.03.2024

Die Entscheidung

Die sieben Türen
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„Plötzlich war ich da. Ich wusste, dass ich ein kleines Leuchten im Nichts war. Ein Glimmen. Aber mehr wusste ich nicht.“ Das kleine Leuchten im Nichts trifft auf die Raupe Yara und wird zu ihrem Protegé. ...

„Plötzlich war ich da. Ich wusste, dass ich ein kleines Leuchten im Nichts war. Ein Glimmen. Aber mehr wusste ich nicht.“ Das kleine Leuchten im Nichts trifft auf die Raupe Yara und wird zu ihrem Protegé. Yara öffnet sieben Türen für das kleine Leuchten und unterhält sich mit ihm. Hinter den Türen befinden sich das Licht und die Dunkelheit, der Mut und die Angst, die Liebe und der Hass, das Glück und die Trauer, das Jetzt und die Unendlichkeit, alles und nichts sowie zum Schluss das Leben und der Tod. Das kleine Leuchten darf hinter jeder Tür so viele Fragen stellen wie es möchte und bekommt Antworten darauf. Am Ende soll es sich entscheiden, ob es sein Wissen mitnehmen und in ein höheres Bewusstsein aufsteigen, also zu einem allwissenden Stern am Firmament werden möchte oder ob es alles, was es erfahren hat, vergessen und das Leben eines Menschen führen möchte.

„Die sieben Türen“ ist ein schön gestaltetes Buch. Der Text, der von Adrian Draschoff stammt, wird äußerst passend von Natascha Baumgärtners Illustrationen untermalt und getragen. Die Illustrationen stellen nicht nur eine Ergänzung zu dem Geschriebenen dar, sondern spiegeln es wider und erweitern es um eine visuelle Dimension. So entsteht eine kongeniale Konstruktion aus Text und Bild, die sich gegenseitig beeinflussen und tragen. Dadurch wird „Die sieben Türen“ zu einer innovativen Lektüre. Die Illustrationen gefallen mir sehr gut, sie sind so gestaltet, dass sie die Fantasie des Betrachtenden wecken und eigene Bilder, Erweiterungen der Illustrationen entstehen lassen. Weniger gefallen hat mir der Text. Tatsächlich finde ich ihn nicht philosophisch, wie es eigentlich bei diesem Thema zu erwarten wäre. Vielmehr liest es sich wie ein Lebensratgeber und nicht wie ein Buch, das die existentiellen Fragen unseres Daseins zu erklären versucht. Als es zum Beispiel um die Zeit geht, heißt es unter anderem: „Die Menschen reden gerne und viel über mich, aber verstehen doch nicht, wie kostbar ich bin. […] Erst wenn sie merken, dass ich ihnen davonlaufe, bekommen sie Angst und versuchen sich in einem Wettrennen gegen mich. […] Akzeptiere die Vergangenheit und umarme die Zukunft. […] Nutze jeden Moment.“ Das ist für mich keine philosphische Betrachtung der Zeit. Das klingt einfach nach einem Lebensratgeber. Und ist auch nichts Neues. Ich denke, alles, was in dem Buch steht, weiß eigentlich auch jeder erwachsene Mensch. Mit einer Sache stimme ich sogar nicht mit dem Autor überein: In dem Kapitel, wo es um Liebe und Hass geht, heißt es, Hass wäre die Abwesenheit von Liebe. Ich finde aber, dass die Abwesenheit von Liebe Gleichgültigkeit ist, nicht Hass. Summa summarum: Es ist eine schöne Idee, das Buch, und die Illustrationen sind sehr gelungen, den Text fand ich dagegen leider nicht besonders anspruchsvoll oder inspirierend. Dennoch denke ich, dass das Buch die Mehrheit ansprechen wird. Insgesamt vergebe ich drei Sterne: Für die Idee und das kongeniale Zusammenspiel aus Bild und Text.

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