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Veröffentlicht am 12.08.2017

Vater! - Ein Buch wie Rock'n'Roll

Vater!
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Gegen Ende der Siebziger Jahre stieß ich in einem Plattenladen auf ein Album mit einem, zuvor nie gesehenen, neongelb-roten Cover. Es war „Never Mind The Bollocks“, das Debüt- und auch einzige Album der ...

Gegen Ende der Siebziger Jahre stieß ich in einem Plattenladen auf ein Album mit einem, zuvor nie gesehenen, neongelb-roten Cover. Es war „Never Mind The Bollocks“, das Debüt- und auch einzige Album der Gruppe „Sex Pistols“. Als ich die Schallplatte das erste Mal auf den Plattenteller legte, war das ein Augenöffner und mein Musikgeschmack änderte sich von heute auf morgen.

Deshalb kam es mir ein wenig wie ein Déjà-vu vor, als ich kürzlich im Internet ein schräges Buchcover sah, dass ebenfalls, wenngleich auch etwas bunter, im Prinzip in diesen Farben daherkam. Es handelte sich dabei um das Buch „Vater!“ des Kölners Anselm Maria Sellen. Kurz gesagt: Das Buch musste her. Und was soll ich schreiben? Auch diesmal wurde ich nicht enttäuscht.

Da schildert ein vierfacher Vater in knackigen Kurzgeschichten das Zusammenleben in seiner vielköpfigen Familie und die Tücken, die das täglich mit sich bringt. Dabei bedient er sich eines knappen und prägnanten Schreibstils, der vor trockenem, gar schwarzem Humor nur so strotzt. Auf ironische, mitunter sarkastische Weise beschreibt der Autor zu gerne das Eskalieren alltäglicher Situationen – sei es die blutige Schlacht beim Discounter um die besten Schulartikel, den Kindergartenkarneval, bei dem sich die Integrationskräfte Kinder aus der Herde picken, um sie dem Schminken zuzuführen oder die „Rabimmel Rabammel Rabumm“ singenden Wuteltern beim St. Martins-Umzug, dem der heilige Martin samt Pferd abhandengekommen ist.

Pointensicher führt Anselm Maria Sellen den Leser haarscharf an der Abrisskante zwischen Realität und Irrsinn entlang und arbeitet dabei in seinen Texten heraus, wie nahe diese Gegensätze beieinanderliegen und oft sogar verwischen. Gerade bei mehrmaligem Lesen lässt sich feststellen, wie wenig absurd das Absurde und umgekehrt, wie absurd das Alltägliche oft daherkommt. Das ist der Moment, in dem man sich als Leser und/oder leidgeprüftes Elternteil in Sellens Kurzgeschichten wiederfinden und oftmals auch identifizieren kann und das ist zweifelsohne der Aspekt, der dieses Buch zu einem besonderen Buch macht.

Es sind jedoch nicht nur die turbulenten Familiengeschichten, die „Vater!“ ausmachen – Sellen zeigt auch in, mitunter schon philosophisch anmutenden, Betrachtungen seine beobachtenden Qualitäten. Da präsentiert sich das Leben in all seiner verquasten Prallheit auf Weihnachtsmärkten, in Flüchtlingsunterkünften, dem Wartezimmer beim Arzt oder der Vierergruppe im Großraumabteil des ICE.

Um den Bogen zur Musik wieder zu schließen: Dieses Buch ist Rock’n’Roll – und das nicht nur wegen des, darin geschilderten, musikalischen Grauens (ich sage nur „Hölle, Hölle, Hölle“ oder Phil Collins-Medley für Jugendblasorchester), sondern weil es, Story für Story einen flotten und mitreißenden Rhythmus hat; eben genauso wie damals die Songs auf „Never Mind The Bollocks“.

Veröffentlicht am 12.08.2017

Vater! - Ein Buch wie Rock'n'Roll

Vater!
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Gegen Ende der Siebziger Jahre stieß ich in einem Plattenladen auf ein Album mit einem, zuvor nie gesehenen, neongelb-roten Cover. Es war „Never Mind The Bollocks“, das Debüt- und auch einzige Album der ...

Gegen Ende der Siebziger Jahre stieß ich in einem Plattenladen auf ein Album mit einem, zuvor nie gesehenen, neongelb-roten Cover. Es war „Never Mind The Bollocks“, das Debüt- und auch einzige Album der Gruppe „Sex Pistols“. Als ich die Schallplatte das erste Mal auf den Plattenteller legte, war das ein Augenöffner und mein Musikgeschmack änderte sich von heute auf morgen.

Deshalb kam es mir ein wenig wie ein Déjà-vu vor, als ich kürzlich im Internet ein schräges Buchcover sah, dass ebenfalls, wenngleich auch etwas bunter, im Prinzip in diesen Farben daherkam. Es handelte sich dabei um das Buch „Vater!“ des Kölners Anselm Maria Sellen. Kurz gesagt: Das Buch musste her. Und was soll ich schreiben? Auch diesmal wurde ich nicht enttäuscht.

Da schildert ein vierfacher Vater in knackigen Kurzgeschichten das Zusammenleben in seiner vielköpfigen Familie und die Tücken, die das täglich mit sich bringt. Dabei bedient er sich eines knappen und prägnanten Schreibstils, der vor trockenem, gar schwarzem Humor nur so strotzt. Auf ironische, mitunter sarkastische Weise beschreibt der Autor zu gerne das Eskalieren alltäglicher Situationen – sei es die blutige Schlacht beim Discounter um die besten Schulartikel, den Kindergartenkarneval, bei dem sich die Integrationskräfte Kinder aus der Herde picken, um sie dem Schminken zuzuführen oder die „Rabimmel Rabammel Rabumm“ singenden Wuteltern beim St. Martins-Umzug, dem der heilige Martin samt Pferd abhandengekommen ist.

Pointensicher führt Anselm Maria Sellen den Leser haarscharf an der Abrisskante zwischen Realität und Irrsinn entlang und arbeitet dabei in seinen Texten heraus, wie nahe diese Gegensätze beieinanderliegen und oft sogar verwischen. Gerade bei mehrmaligem Lesen lässt sich feststellen, wie wenig absurd das Absurde und umgekehrt, wie absurd das Alltägliche oft daherkommt. Das ist der Moment, in dem man sich als Leser und/oder leidgeprüftes Elternteil in Sellens Kurzgeschichten wiederfinden und oftmals auch identifizieren kann und das ist zweifelsohne der Aspekt, der dieses Buch zu einem besonderen Buch macht.

Es sind jedoch nicht nur die turbulenten Familiengeschichten, die „Vater!“ ausmachen – Sellen zeigt auch in, mitunter schon philosophisch anmutenden, Betrachtungen seine beobachtenden Qualitäten. Da präsentiert sich das Leben in all seiner verquasten Prallheit auf Weihnachtsmärkten, in Flüchtlingsunterkünften, dem Wartezimmer beim Arzt oder der Vierergruppe im Großraumabteil des ICE.

Um den Bogen zur Musik wieder zu schließen: Dieses Buch ist Rock’n’Roll – und das nicht nur wegen des, darin geschilderten, musikalischen Grauens (ich sage nur „Hölle, Hölle, Hölle“ oder Phil Collins-Medley für Jugendblasorchester), sondern weil es, Story für Story einen flotten und mitreißenden Rhythmus hat; eben genauso wie damals die Songs auf „Never Mind The Bollocks“.