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Veröffentlicht am 17.04.2017

Biografischer Roman trifft Schmöker

Die letzte Prinzessin
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Das Buch "Die letzte Prinzessin" von Martin Prinz schildert das ereignisreiche Leben der letzten Habsburger Prinzessin Elisabeth vor dem Hintergrund der historischen Ereignisse des ausgehenden 19. und ...

Das Buch "Die letzte Prinzessin" von Martin Prinz schildert das ereignisreiche Leben der letzten Habsburger Prinzessin Elisabeth vor dem Hintergrund der historischen Ereignisse des ausgehenden 19. und des beginnenden 20. Jahrhunderts.
Es ist ein Roman, keine Biografie, und daher kein vollständiger Lebensbericht und auch nicht chronologisch aufgebaut. Elisabeth Petznek alias Prinzessin Elisabeth, alias die "rote Prinzessin" ist die Tochter von Kronprinz Rudolf, beeinflusst und erzogen von ihrem Großvater Kaiser Franz Joseph, wuchs in Glanz und Gloria der Donaumonarchie auf. Aus den kühlen familiären Verhältnissen ihrer Jugend, geprägt vom frühen und geheimnisvollen Tod ihres Vaters Kronprinz Rudolf, vom Großvater als mögliche Erbin herangezüchtet, heiratet sie gegen dessen Willen früh und unter ihrem Stand, verbunden mit dem Verzicht auf jegliche Ansprüche auf den Thron. Nach unglücklicher Ehe und den Schrecken des Ersten Weltkrieges, die sie zwar spürte, aber keinesfalls wie die übrige österreichische Bevölkerung hungernd durchleiden musste, wendet sie sich den Sozialdemokraten zu und heiratet 1948 Leopold Petzek, einen Sozialdemokraten, Lehrer und langjährigen Weggefährten.

Die Geschichte beginnt mit dem Tod der 80jährigen Elisabeth Petznek 1963 in Wien und ist über weite Passagen aus der Sichtweise ihres Portiers Paul Mesli erzählt. Parallel dazu erinnert man sich als Leser gemeinsam mit dem alten Portier an Elisabeths Jugend, so wie sie ihm davon erzählt hatte.
Für mich überraschend wurde den Tagen nach dem Tod der Prinzessin und dem Bericht des Portiers darüber viel Raum eingeräumt, auch am Ende des Romanes findet der Autor den Weg dorthin zurück.

Durch für meinen Geschmack zu viele Wiederholungen verlor sich die Geschichte hier zu sehr. Viele rückblickend betrachtete Ereignisse in Elisabeths Leben sind unter der Voraussetzung beschrieben, dass man einigermaßen sattelfest in der Habsburger Familiengeschichte ist - ich musste hier einiges nachschlagen bezüglich Verwandschaftsverhältnissen und historischen Ereignissen, an denen sich der Autor ohne näher darauf eingeht entlang hangelt.
Die ausführlicher beschriebenen Begebenheiten sind eher familiärer Natur, teilweise verflochten mit ziemlich banalen Gedanken. Das gibt dem Ganzen zwar einen recht persönlichen und familiären Touch, andererseits ist es mir unmöglich nachzuvollziehen, was Dichtung und was Wahrheit entspricht. Bei letzteren stört mich ehrlich gesagt auch die kindlich-naive Sprache, die so ganz verschieden von der recht sachlichen (und mir teilweise zu verschachtelten) Sprache ist, mit der Ereignisse und Hintergründe angetippt werden. Ich habe manchmal das Gefühl, zwei Bücher zu lesen. Ein stichpunktartiges Sachbuch und einen (für mich ehrlich gesagt recht banalen) Roman über einen alten Portier und eine Prinzessin.

Nach sehr gut geschriebenen Passagen in der zweiten Hälfte des Buches, wie zum Beispiel Hergang des Attentates auf den österreichischen Ministerpräsident Stürgkh und die Person des Friedrich Adler, der sich von der als opportunistisch dargestellten Sozialdemokratie abwendet, wird die Zeit zwischen den Weltkriegen leider gar nicht angesprochen, statt dessen findet der Autor wieder zu Portier Muesli und seinen Gedanken zurück.

Das Buch hat mich leider nicht wirklich abholen können. Es ist eine in meinen Augen nicht gut gelungene Mischung aus historisch belegter Biografie, den Erinnerungen eines Wegbegleiters und einem schwülstigen Schmöker, letzteres ist so gar nicht mein Metier, besonders wenn Inhalt und Sprache sehr seicht sind.

Veröffentlicht am 17.04.2017

Geschichtspanorama und Familienchronik

Die vielen Leben des Jan Six
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Geert Mak, genannt der Geschichtslehrer der holländischen Nation, folgt in seinem neuesten Werk den Spuren der Familie Six. Die Dynastie kam vor mehr als 400 Jahren als aus Frankreich Vertriebener Adel ...

Geert Mak, genannt der Geschichtslehrer der holländischen Nation, folgt in seinem neuesten Werk den Spuren der Familie Six. Die Dynastie kam vor mehr als 400 Jahren als aus Frankreich Vertriebener Adel nach Amsterdam und gehört seit dem Goldenen Zeitalter zu einer der politisch, kulturell und sozial bedeutendsten Familien des Landes. Mit großem erzählerischen Talent wird aus der Familienchronologie gleichzeitig ein Einblick in Europäische und besonders Niederländische Geschichte, mit der die Familie Six untrennbar und eng verknüpft ist.
Auf sehr persönliche Weise durch direkte Einblicke in die Familienchronik und Zugang zum alten Haus der Sixe an der Amstel mit all seinen über Jahrhunderte angesammelten Schätzen, Kleidungsstücken, Tagebüchern, Notizen und Erinnerungen verfolgt das Buch den Stammbaum der Sixe über mehrere Jahrhunderte bis in die Neuzeit.
Dabei legt der Autor besonderen Wert auf den ersten Jan, der im 16. Jahrhundert lebte, zum Amsterdamer Establishment gehörte, ein enger Freund Rembrandts und Sohn eines hugenottischen Einwanderers und reichen Tuchmachers gewesen ist.

Die Familie Six entstammt französischem Adel und zog während der Religionskriege Ende des 16. Jahrhunderts nach Amsterdam, das damals eine aufstrebende Welthandelsmetropole und protestantische Hochburg war. Tausende Flüchtlinge aus den südlichen Niederlanden sorgten dafür, dass die Stadt an der Schwelle zwischen Mittelalter und Moderne aus einer sumpfigen Siedlung zu einer der bedeutsamsten Städte Europas wurde.

Der erste Jan, Schwiegersohn des berühmten Mediziners und Amsterdamer Stadtrates und Bürgermeisters Nicolaes Tulp, mit einem Bein noch im Mittelalter stehend und zugleich schon auf dem Weg zur Moderne, wird mit buntem Erzählstil aus verschiedenen Perspektiven betrachtet, was dem Leser ein rundes und verständliches Bild von ihm und vom Leben im Goldenen Zeitalter gibt. Er legte als Schöngeist die Grundlagen für die wertvolle und einzigartige Kunstsammlung der Familie, er bestimmte als Schöffe und Ratsmitglied das Leben der Stadt Amsterdam, kaufte Land und Güter und blieb trotz allen Reichtums und aller Macht ein normaler Mensch, neugierig und nonkonformistisch. Als sehr guter Beobachter und Zuschauer kann man sich beim Lesen hervorragend in ihn hineinversetzen, durch seine Augen das alte Amsterdam mit seinem aufstrebenden Bürgertum, die Gepflogenheiten und Eigenheiten Rembrandts, des Stadtmediziners Nicolaes Tulp, des Dichters Vondel und anderer Größen dieser Zeit betrachten.

Der Titel "Die vielen Leben des Jan Six" steht aber auch dafür, dass ein Sohn der Familie immer Jan genannt wurde, der Jahrhundertelang das Familienoberhaupt gewesen ist, die Verantwortung für den Zusammenhalt von Familie und Gütern trug und deren Leben Geert Mak in seinem Buch verfolgt. Wenn von geschichtlichen Ereignissen berichtet wird, kann der Autor aus dem schier unerschöpflichen Fundus im Haus an der Amstel ein Gemälde, einen Gegenstand oder ein Dokument zuweisen, wie das Siegel, mit dem die Familie im 17. Jahrhundert ihr Tuch kennzeichnete oder Verse des Dichters Vondel zum Ratsherrenjubiläum von Schwiegervater Tulp, dessen Name übrigens aufgrund des von ihm verwendeten Tulpensiegels zustande kam.

Nach dem Katastrophenjahr 1672 stagnierte die aufstrebende Holländische Nation, die Stellung Amsterdams als Weltstadt war stark angekratzt, jedoch die Familie Six schaffte es, profitable Geldquellen in Kolonien zu nutzen, Immobilien und Land zu erwerben und durch kluge Heiratspolitik das Vermögen zu erhalten und zu mehren. Der zweite Jan heiratet die Alleinerbin der Familie Tulp und sichert sich so den Familienvermögen, agiert Jahrzehntelang als Bürgermeister von Amsterdam und als Junker auf ausgedehnten Landgütern verpachtete und beherrschte er ganze Dörfer, bis das korrupte System der Stadt Amsterdam aus der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts zusammenbrach, aufgeblasene Ämter und Amtsmissbrauch eingeschränkt und der zweite Jan entlassen wurde.

Bis in das 20.Jahrhundert stand Familienpolitik an erster Stelle, Hauptziel war es immer, das Vermögen, den Ruf und den Lebensstandard der Familie zu erhalten. Das führte zu vielen Zweck-Ehen, zu unverheirateten Töchtern, aber auch zum Verstecken der wertvollen Gemäldesammlung während der Nazibesatzung.
Der jeweils Erstgeborene, der den Namen Jan trug, verbrachte sein Leben in Reichtum und Ruhm, andere Mitglieder der Familie wurden "geopfert" und mussten teilweise in Armut und Einsamkeit leben.

Der große Verdienst des Autors besteht darin, die Familiengeschichte eng mit dem historischen Rahmen vom Goldenen Zeitalter, Revolten, Hungersnöten, Sklavenhandel und Städtebau zu verknüpfen und ein meisterhaft erzähltes buntes und sehr lebendiges Bild mit vielen überraschenden Details zu schaffen.

Veröffentlicht am 17.04.2017

Abgründig und typisch Grangé

Purpurne Rache
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Eine egozentrische, verrückte und skrupellose Familie und dazu eine äußerst verzwickte Geschichte hat Jean-Christophe Grangé in seinem neuesten Werk "Purpurne Rache" geschaffen.

Grégoire Morvan, Familienvater, ...

Eine egozentrische, verrückte und skrupellose Familie und dazu eine äußerst verzwickte Geschichte hat Jean-Christophe Grangé in seinem neuesten Werk "Purpurne Rache" geschaffen.

Grégoire Morvan, Familienvater, Despot, Schläger und für di Französische Regierung der Mann fürs Grobe (wenn auch auf hohem Posten) sieht seine mit zweifelhaften Mitteln erworbene sprudelnde Geld und Machtquelle im Kongo gefährdet. Ein Unfall auf einem Luftwaffenstützpunkt in der Bretagne schreckt ihn zusätzlich auf.
Sein Ältester Erwan, praktischerweise Polizist und ehemaliger Kämpfer einer Eliteeinheit, seiner schönen Schwägerin Sophia hoffnungslos verfallen jedoch ansonsten Frauen zugetan, die gesellschaftlich und geistig weit unter ihm stehen, ermittelt in der Bretagne für Vater Grégoire und stößt in ein Wespennest.
Schwester Gaëlle befasst sich zwischenzeitlich mit dem Vorantreiben ihrer Schauspielkarriere a la Sophia Loreen, schafft es jedoch nur bis zu Castings als Bikinimädchen bei Quizshows und finanziert sich als Edelnutte.
Loïc, der andere Sohn von Grégoire und millionenschwerer Broker, fühlt sich im Drogenmilieu unter versifften Brücken am wohlsten, hat nach einer steilen Alkoholikerkarriere in früher Teenagerzeit alles an Drogen exzessiv probiert, was er bekommen konnte, und achtet dennoch darauf, beim Koksen sein Amaturenbrett sauber zu halten.
Mutter Maggie als duldende und geprügelte Ehefrau konnte sich und ihre Kinder schon früher nicht retten, trägt aber ein Geheimnis aus ihrer Zeit im Kongo mit sich herum.

Die Wiege der Familie Morvan im Kongo, das frühere Leben von Grégoire mit all seiner Brutalität beim Fangen eines verrückten Serienmörders dort und seine schmutzigen Geschäfte in dem afrikanischen Land sowie seine Peergroup, die er sich dort aufgebaut hat, sind der Dreh- und Angelpunkt, auf den alles hinzulaufen scheint. Die Morde deuten auf einen Zusammenhang zu den damaligen Morden des Nagelmannes im Kongo hin.
Die Geschichte entspinnt sich um die Ermittlungen Erwans beginnend auf dem Luftwaffenstützpunkt und gefolgt von weiteren schaurigen Mordschauplätzen. Er deckt häppchenweise schier unglaubliche Dinge auf, die zunächst einzeln gesehen verwirrend und verworren sind. Im Laufe des Buches, nach vielen Wendungen und Überraschungen, wie man das von Grangé gewohnt ist, fügen sich die einzelnen losen Fäden zu einem Gewebe, das ein klares Bild für den Leser ergibt.

Die Grundidee des Buches ist sehr gut, aber es konnte mich dennoch nicht wirklich packen. Für meinen Geschmack ist die Handlung zu breit angelegt, einige Entwicklungen und Wendungen sind mir zu gewollt und damit unglaubwürdig im Kontext der restlichen Geschichte.
Die Spannung, angemessen für einen guten Thriller, wird für mich zu oft durch Erwans Theoretisieren gebremst, das nimmt der Geschichte Tempo und wirkt ein wenig hilflos. Stilistisch halte ich nicht für sehr gelungen, Erwan verzettelt sich in zu vielen Passagen gemeinsam mit mir als Leser und ich hatte das Gefühl, Grangé wollte manchmal einfach zu viel. Weniger wäre hier mehr gewesen.

Die Auflösung des Falles erschien mir etwas zu flapsig geschrieben, so als muss jetzt alles unbedingt zuende gebracht werden, nachdem vorher viel Zeit für noch mehr Details aufgewendet wurde. Gefallen hat mir allerdings sehr, dass nicht alles restlos geklärt ist, ohne dass man auf eine Fortsetzung der Geschichte zwingend angewiesen und damit wahrscheinlich enttäuscht wäre.

Fazit
Für eingefleischte Fans von Grangé ist dieses Buch sicherlich ein Muss. Es ist eine spannende und verworrene Geschichte, die mir ein wenig zu verdreht war und drei Sterne erhält.

Veröffentlicht am 17.04.2017

Landleben abseits der Hauptstrasse

Niemand ist bei den Kälbern
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Der Roman "Niemand ist bei den Kälbern" von Alina Herbing vermittelt im Gegensatz zu der verbreiteten romantischen Meinung über das Landleben ein ungleich schmutzigeres, raueres und komplett unromantisches ...

Der Roman "Niemand ist bei den Kälbern" von Alina Herbing vermittelt im Gegensatz zu der verbreiteten romantischen Meinung über das Landleben ein ungleich schmutzigeres, raueres und komplett unromantisches Bild vom Leben in einem Dorf abseits der Hauptstraße im ehemaligen Zonenrandgebiet Mecklenburg-Vorpommerns. Mit gewaltiger, vereinnahmender, bildhafter aber auch wundervoll poetischer Sprache erzählt die Autorin ganz nah an den Figuren eine Geschichte, die Abscheu und Mitleid, Verunsicherung und Ratlosigkeit, aber auch Hoffnung und nicht zuletzt intensives Nachdenken hervorruft.

Christin lebt in Schattin, einem winzigen Dorf am westlichen Rand Mecklenburg-Vorpommerns auf dem Bauernhof ihres Freundes Jan und dessen Vaters. Gestank, Schmutz, ein am Milchvieh orientierter Tagesablauf und ewige Langeweile und Trostlosigkeit bestimmen in flirrender hochsommerlicher Hitze ihr Leben. Von Alkoholismus, Rechtspopulismus und den ewig gleichen Dorffesten im Nachbarort erzählt die Geschichte ihres dumpfen und ausweglosen Lebens genauso wie vom schwer alkoholkranken Vater, der von der übrigen Dorfgemeinschaft geächtet wird.
Sie träumt von Stöckelschuhen und schönen Kleidern in der Großstadt und kann der Arbeit auf dem Hof und dem Leben mit Jan nichts abgewinnen. Als der Windkrafttechniker Klaus auftaucht, scheint Christin endlich einen Ausweg zur Flucht aus der Einöde gefunden zu haben, doch alles kommt noch viel schlimmer...

Es ist fast unheimlich, wie treffend die Autorin die Figuren, insbesondere Christin, gezeichnet hat. Keiner der Charakter ist ein Sympathieträger, alle kämpfen mit ihrer Existenz oder sind schon gescheitert und haben den Kampf aufgegeben. Merkmale wie Ignoranz, Dummheit, Respektlosigkeit und mangelnde Liebe zum Leben und zu sich selbst gab die Autorin ihren Figuren mit und lässt sie in geballter Ladung auf den Leser los, so dass man beim Lesen keinen Abstand hat.
Und genau das fasziniert an diesem Roman. Trotz allen Schmutzes und der aufkeimenden Antipathie für Christin hofft man beim Lesen darauf, dass sie den Absprung schafft und ihr Leben in die Hand nimmt, weggeht und für sich einen neuen Anfang finden kann.

In dichter Sprache mit fast blitzlichtartigen Bildern und hohem Symbolgehalt treibt die Autorin den Leser fast atemlos durch den Roman. Rückblicke zur Vergangenheit gibt es nur als kleine Andeutungen und Episoden, manchmal glücklich, oft genauso verzweifelt und aussichtslos wie die Gegenwart. Dennoch zeichnet sich ein rundes und für mich recht vollständiges Bild von Christin und ihrer Umgebung.

Nach dem Zuklappen des Buches war ich fast etwas paralysiert und sehr froh, dass ich nicht in dieser Gegend Deutschlands aufgewachsen bin und nur darüber gelesen habe. Man merkt nicht, dass es sich um ein Debüt handelt. Handlungsstruktur, Dramatik und Sprache sind sehr gut durchdacht und künden von der Kraft, die in dieser Geschichte steckt. Mir hat das Buch ausgezeichnet gefallen, und wer keine Angst vor Blicken über den ordentlich-bürgerlichen Tellerrand hat, sollte diesen Roman unbedingt lesen.

Veröffentlicht am 17.04.2017

Skurril und melancholisch

Dinge, die vom Himmel fallen
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Skurril, verstörend und stilistisch ungewöhnlich befasst sich die finnische Autorin Selja Ahava in ihrem preisgekröntem Buch "Dinge, die vom Himmel fallen" mit schicksalhaften Zufällen, die sich auf verwirrende ...

Skurril, verstörend und stilistisch ungewöhnlich befasst sich die finnische Autorin Selja Ahava in ihrem preisgekröntem Buch "Dinge, die vom Himmel fallen" mit schicksalhaften Zufällen, die sich auf verwirrende Weise jeder rationalen Erklärung zu entziehen scheinen und lässt den Leser dabei irritiert und sehr nachdenklich zurück.

"Wenn man ... drei Jahre alt ist und ein starker Wind weht, sollte man nicht auf den Horizont starren und sagen: "Ich frage mich gerade, wie der Wind entsteht." Man sollte lieber erklären, dass man Hubschrauber spielt"

Aus einer glücklichen Familienidylle im "Sägemehlhaus" werden die kleine Saara und ihr Vater Pekka durch den brutalen und nicht fassbaren Tod der Mutter Hannele herausgerissen. Hannele wurde von einem Einbrocken, der von einem Flugzeug vom Himmel fiel, erschlagen.
Pekka kommt mit der Situation nicht zurecht und die beiden ziehen zu Tante Annu in deren riesiges Gutshaus. Pekka verfällt in Depressionen, er zerbröckelt, und ist nicht in der Lage, sich um Saara zu kümmern, die in ihrer kindlichen Art verzweifelt versucht, mit der Trauer um ihre verlorene Mutter zurecht zu kommen.
Kleine heilende Schritte und Saaras einsames Bemühen zum Weitermachen und Weiterleben sprechen aus dem in kantiger Sprache verfassten Text, dessen kindliche Logik traurig und betroffen machen.

"Manchmal stirbt ein Mensch leicht, manchmal schwer. Mama und Jesus starben leicht, meine Mutter bei der gewöhnlichen Gartenarbeit, Jesus durch vier Nägel, und über solche Tode wollen die Erwachsenen nicht reden."

Annu wird ebenfalls vom Zufall gebeutelt: zweimal nacheinander gewinnt sie den Jackpot der staatlichen Lotterie und verfällt daraufhin für drei Wochen in einen Dornröschenschlaf. Doch das Leben geht weiter und Annu findet Trost, wenn auch keine Antworten, bei der Korrospondenz mit einem Fischer aus Schottland, der bereits viermal vom Blitz getroffen wurde und überlebt hat.
Annu helfen die Briefe zwar nicht zu verstehen, warum die unglaublichen Zufälle ihres zweifachen Lottogewinns oder der so unwahrscheinliche Tod von Hannele in ihrem Leben passierte, doch man hat das Gefühl, dass sie für sich einen neuen Weg finden kann. Letztlich gibt es nichts zu verstehen, Dinge passieren oder sie passieren eben nicht.

"Dinge passieren. Gleichzeitig, zur falschen Zeit, zu verschiedenen Zeiten an den falschen Orten."

Pekka lebt nach langer Zeit mit einer jungen Frau zusammen, Kristina, die Familie ist zurück ins Sägemehlhaus gezogen, wo Saara von verstörenden Alpträumen mit ihrer Mutter geplagt wird, doch der Geist verliert Energie und verschwindet allmählich.

Es ist nicht leicht, sich dieser sperrigen Geschichte zu öffnen, bei der stilistische und perspektivische Wechsel, Ratlosigkeit und Interpretationsnotstand sowie die Vermengung realer Ereignisse mit Unfassbarem den Zugang erschweren. Bewusst übertrieben wird von der Autorin mit Zufall und der Wahrscheinlichkeit von Ereignissen gespielt, mit der Grenze zwischen Realität und fast märchenhafter Mystik, die sich zu verschieben scheint.
Als Leser ist man wie die Figuren der Geschichte geneigt, einen Sinn hinter den Geschehnissen zu finden, den es aber im Roman nicht gibt. Und das schafft Verwirrung und Erklärungsnotstand. Erst durch die Akzeptanz, dass Dinge nun mal passieren, ohne Sinn und Zweck, kann sich der Knoten vielleicht lösen.

Und ja, ich bin nach dem Zuklappen des Buches immer noch verwirrt. Es ist mir zum Beispiel nicht klar, ob das sehr offene Ende hoffnungsvoll gemeint ist oder ob die Suche nach Erklärungen einfach beiseite geschoben wird, um irgendwie weiter machen zu können:

"Die Welt geht weiter. Nichts ist klar, aber die Zeit heilt alle Wunden, und der Mensch vergisst."

Mich hat sei Lektüre trotz aller Verwirrung berührt, ein zwar sperriges, distanziertes, melancholisches, teils morbides und schwieriges Werk, das aber in meinen Augen Aufmerksamkeit verdient hat. Selja Ahava erhielt 2016 für dieses Buch des Literaturpreis der Europäischen Union und es war nominiert für den Finlandia Prize.