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Veröffentlicht am 17.04.2017

Eine Seefahrt, die ist lustig...

Der Fisch in der Streichholzschachtel
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Der Buchtitel und der Klappentext verspricht einen klugen und hintersinnigen Roman mit scharfer Zivilisationskritik. Beim Lesen stellt sich heraus, dass die Grundidee zwar amüsant und gleichzeitig tiefsinnig ...

Der Buchtitel und der Klappentext verspricht einen klugen und hintersinnigen Roman mit scharfer Zivilisationskritik. Beim Lesen stellt sich heraus, dass die Grundidee zwar amüsant und gleichzeitig tiefsinnig ist, dass das Buch aber leider auch ein paar Längen hat. Der Fisch ist übrigens der Hauptakteur Fred und die Streichholzschachtel seine Kabine auf einem Kreuzfahrtschiff.

Die Kreuzfahrt, die Familienvater Fred, Inhaber einer Sicherheitsfirma auf dem absteigenden Ast und kurz vor der Pleite, mit seiner Frau Tamara (in einer ganz normalen Ehekrise feststeckend) und den beiden Kindern (die 15jährige Malvie - dünn und Grüften und der 10jährige Tom - dick und verfressen), wirkt mit dem künstlichen Freizeitleben abgeschmackt und todlangweilig. Freds Laune ist am Tiefpunkt, vorprogrammierte Familienkonflikte brechen aus, als Fred an Bord auf seine Exfreundin Amélie trifft. Man könnte meinen, die seelischen Spannungen, die die Charaktere quälen, lösen einen ausgewachsenen Sturm aus, das Schiff gerät in einen Orkan und mit der seelenruhigen Langeweile ist es schlagartig vorbei. Der Kontakt zur Außenwelt ist unterbrochen, und da Stürme ein Zeitloch provozieren können (laut Buch), kämpft sich auch ein Piratenschiff aus dem 18. Jahrhundert durch den Orkan, mit dem berühmten Klaus Störtebekker als Kapitän (oder einer abgedroschene Kopie des Originals). Trotz Enterhemmung und einer Stimmung kurz vor der Meuterei fallen die Piraten über die "Atlantis" her, ein mehrstöckiges Wunder in ihren Augen. Und sie halten den Luxusliner nicht etwa für ein Wunder aus der Zukunft, sondern für ein Überbleibsel einer erstaunlich hochtechnisierten Vergangenheit, sind beeindruckt und verwirrt von Gegenständen wie Mobiltelefonen, Pfefferstreuern, Toilettenpapier und Kameras.

Das Buch ist ein ziemlich komischer Abenteuerromanen, eine Satire, mit witzigen Details, eingängig und leicht lesbar geschrieben. Es gibt Passagen, die eindringliche Bilder schaffen, wie zum Beispiel die Beschreibung des Sturmes, die an alte Seemannsromane erinnert. Es ist aber auch ernste Lektüre, in der der Autor seine Fabulierverrücktheit ausleben konnte, mit überraschenden Tiefe.

„Eine Kreuzfahrt ist die Endstation der Verbraucherhölle westlicher Lebensträume – man lässt sich einsperren mit all den blasierten Wasserköpfen der Konsumgesellschaft, und man verzichtet auf jeden Fluchtweg. 12 Nights Caribbean ist wie Familienweihnachten auf engstem Raum, im erweiterten Verwandtenkreis, überfrachtet mit all den unterdrückten Wünschen, offenen Rechnungen und Ansprüchen, aber zeitlich ausgedehnt auf zwölf Tage.“

Zwei unterschiedliche Stränge mit zwei Ich-Erzählern sorgen für Spannung. Neben Freds sehr realistischer und gegenwärtigen Geschichte besteht der fantastische und skurrile Teil, der als zweiter Handlungsstrang vom Geograf Salvino d'Armato degli Armati in seriöser und getragener Sprache erzählt wird und die Piraten betrifft. Der Zusammenprall beider Kulturen durch den Sturm erzeugt Gesellschaftskritik, neben detaillierten verrückten Situationen, die durch fremden Blick auf Vertrautes entstehen.

Vergnüglich und kurzweilig beim Lesen ist hier die genaue Beobachtungsgabe des Autors und seine Ironie. Doch leider wird genau dieser ironische Blick in meinen Augen überstrapaziert, der sich ergebende Witz auf jeden kleine Detail gelenkt. Und da Freds doch sehr alltägliche und ständig wiederholte Probleme den Roman doch sehr bestimmen, wird aus einer witzigen und hintersinnigen Lektüre leider stellenweise ein träger Langweiler.
Ich vergebe gute 3,5 Sterne.

Veröffentlicht am 17.04.2017

Darwin und Explosionen

Abgrund
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Was haben eine mysteriöse neue Haiart vor der Küste der Galápagos-Inseln und brennende Boote im Hafen von Puerto Ayora, ebenfalls Galápagos-Inseln, gemeinsam?
Damit beschäftigt sich der promovierte Biologe, ...

Was haben eine mysteriöse neue Haiart vor der Küste der Galápagos-Inseln und brennende Boote im Hafen von Puerto Ayora, ebenfalls Galápagos-Inseln, gemeinsam?
Damit beschäftigt sich der promovierte Biologe, Sachbuch- und Romanautor Bernhard Kegel in seinem neuesten Roman "Abgrund".

Galapágos - beim Klang dieses Namens denkt man sofort an Charles Darwin, seien legendäre Schiffsreise mit der "Beagle" und Finken als eine Basis der Evolutionstheorie, aber auch an Traumstrände, Vulkane, herrliche und abgeschieden Landschaften und ungewöhnliche, einzigartige Flora und Fauna.
Anne und Hermann, ein deutsches Liebespaar aus Kiel in mittleren Jahren, sie Kriminalistin und er Biologe, sind für ihren ersten gemeinsamen Urlaub auf dem Galápagos Archipel mit eben diesen Erwartungen gestartet, doch alles kommt anders.
Hermann begibt sich zusammen mit zwei Kollegen auf die Suche nach einem rätselhaftem Hai, den er zusammen mit Anne bei einem vorangegangenen Tauchgang entdeckt hatte, und stößt dabei auf überraschende Veränderungen der Lebensgemeinschaften von Riffen vor der Küste. Alles deutet auf neue Tierarten hin, die im Hexenkessel der Evolution aufgrund der globalen klimatischen Veränderungen entstanden sein könnten.
Anne, in Puerto Ayora auf Santa Cruz zurückgeblieben, wird in kriminalistische Ermittlungen verwickelt, als nachts Schiffe in Flammen aufgehen und der zuständige Inspektor sie um Hilfe bittet. Sie gerät dabei in ein kompliziertes Geflecht aus Naturschutz, traditioneller Fischerei, Tourismusboom und und dem komplizierten sozialen Gefüge der Inseln.

Das Buch ist vom Autor als Wissenschaftsroman angelegt und bietet eine mehr oder weniger glückliche Mischung aus Sachbuch, Forschungsberichten und Krimi.
Als Einstieg und Prolog erlebt man einen sehr schönen kurzen Ein- und Rückblick in Darwins Galapágos-Reise und das Sammeln der berühmten Darwin-Finken durch seinen Helfer und Begleiter Syms Covington. Der Rahmen schließt auf gelungene Weise, wenn im letzten Teil des Romanes die moderne und aktuelle Forschung an den Darwin-Finken die Handlung bestimmt.
Die Beschreibung der Tauchgänge zur Suche der neuen Haiart, zur Untersuchung des Lebens auf Riffen vor dem Archipel und die damit verknüpfte Vermittlung von Wissen zu Veränderungen dazu hat mir ebenso gut gefallen wie Informationen zu globalem Klimawandel und den damit verbundenen Folgen.
Weniger gelungen finde ich den Teil der kriminalistischen Handlung. Zum einen ist für mich sehr vorhersehbar, was passieren wird, zum anderen hätte hier etwas mehr Subtilität bei den Ermittlungen und ein weiterer Blickwinkel außer dem von Anne der Spannung gut getan, zumal sich insbesondere im mittleren Teil des Romans doch recht umfangreiche Passagen nur damit befassen.

Sprachlich halte ich das Buch für sehr geeignet, auch Nicht-Biologen gute erste Einblicke in die Abstammungslehre und die Forschung dazu zu geben. Es regt dazu an, auf diesem Gebiet weiteres zu lesen, bei mir zumindest hat das funktioniert. Angenehm fand ich beim Lesen, dass ich zwar ein paar Kleinigkeiten nachgeschlagen habe, da ich biologisch doch sehr unbedarft bin, der Roman jedoch nicht vor Unverständlichkeiten bezüglich Begriffe und Erläuterungen strotzt.

Insgesamt hat mir das Buch gefallen, wenn ich mir auch mehr Raum für Herman's Part und die Forschung nach Veränderungen in der Fauna und weniger für den Krimiteil gewünscht hätte.
Ich vergebe 3,5 Sterne für ein interessantes Buch bezüglich gut verpacktem Wissenserwerb, das etwas mehr Spannung vertragen hätte.

Veröffentlicht am 17.04.2017

Unter Glas

Die Terranauten
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T.C. Boyle, der 68-jährige Punk der US-Literatur mit viel Sinn für skurrile Gemeinschaften, befasst sich in seinem neuesten Werk "Die Terranauten" mit der Flucht aus der normalen Biosphäre der Erde zu ...

T.C. Boyle, der 68-jährige Punk der US-Literatur mit viel Sinn für skurrile Gemeinschaften, befasst sich in seinem neuesten Werk "Die Terranauten" mit der Flucht aus der normalen Biosphäre der Erde zu einem Leben unter Glas.

Angelehnt an ein Forschungsprojekt aus den 1990er Jahren, bei dem acht Menschen mit verschiedenen Tier- und Pflanzenarten in eine künstliche Atmosphäre unter Glas in der Wüste Arizonas einzogen, lässt Boyle seine Protagonisten, vier Männer und vier Frauen, in Ecosphere 2 einziehen. Zwei Jahre sollen sie dort leben, sich ausschließlich von den Dingen ernähren, die sie selbst anbauen und erzeugen, genau wie die echten Kolonisten damals.
Das System unter Glas, ein technisches Wunderwerk mit fünf Biomen wie Regenwald, Ozean samt Wellengang, Savanne, Wüste und Anbaufläche auf kleinstem Raum, verlangt seinen Bewohnern harte körperliche Arbeit von früh bis spät ab, um sowohl die Systeme in Gang zu halten als auch ausreichend Nahrungsmittel wie Bananen, Süsskartoffeln, Reis, Milch und selten Fisch und Fleisch zu erzeugen.

Boyle´s Roman setzt kurz vor dem zweiten 2-jährigem Einschluss ein, denn Ecosphere 2 ist für viele aufeinander folgende Einschlüsse mit jeweils 2-Jahresdauer konzipiert.
Nach einem langen Auswahlverfahren ist die Euphorie bei Einschluss unter Glas groß, die Terranauten befinden sich im frenetischen Sinnes- und Sensationstaumel, überzeugt von der wichtigen und guten Sache als Beitrag zum Umweltschutz und zur zukünftigen Kolonialisierung des Weltalls. Nichts rein, nichts raus lautet die Devise, unter keinen Umständen soll der Einschluss vor Ablauf der Zeit unterbrochen werden.

Doch es kommt wie es kommen muss bei derartigen Schicksalsgemeinschaften. Ständig beobachtet von der Projektleitung, von sensationslüsternen Touristen und von Presse und TV, die in dem Megaterrarium eine riesige Reality-Show a la Big Brother sehen, leben die acht Terranauten immer genervter und müssen sich mit Sauerstoffmangel, Nahrungsmittelknappheit und ständiger gewollt-positiver Präsenz in den Medien herumschlagen. Kein freier Tag, keine Privatsphäre, verordnete Freizeitgestaltung, und alles im Dienst der guten Sache fordern ihren Tribut und führen zu Neid, Missgunst, Rivalitäten und handgreiflich ausgetragenem Streit.

Im Roman erzählen drei Stimmen als Ich-Erzähler nach und nach die Geschichte der Mission und der Terranauten rückblickend. Zwei davon sind während des zweiten Einschlusses dabei unter der Glaskuppel, Dawn Chapman als Nutztierwärterin und Ramsay Roothoorp als PR-Spezialist. Die dritte Stimme, Linda Ruy, wurde als Terranaut abgelehnt und steht während des Einschlusses außerhalb der Glaskuppel im Dienst der Mission.

T.C. Boyle legt in seinem Buch großen Wert auf den menschlichen Faktor, auf die Entstehung und die Zuspitzung von Konflikten zwischen den Terranauten unter der Kuppel und zu Personen außerhalb des Einschlusses. Erzählerisch ist es dabei nicht optimal, wenn die Geschichte ausschließlich im Rückblick dargeboten wird, und der Autor schafft es leider nicht, den Berichten der drei Ich-Erzähler dennoch etwas Unmittelbares mitzugeben.
Die einzelnen Berichte lesen sich eher wie sehr viel später ausgegrabene Tagebücher, ein bisschen angestaubt und leider nicht mitreißend. Dass vieles in meinen Augen sehr breit getragen wurde, bevor die Berichte auf den Punkt kommen, sorgen für zusätzliche Gemütlichkeit, wenn nicht gar Geschwätzigkeit.

Das Setting - acht Menschen unter einer Glaskuppel für zwei Jahre eingeschlossen, bietet eigentlich jede Menge Potenzial für die solchen Gemeinschaften in anderer Literatur anhaftender Eigendynamik, aber leider gestalten sich sowohl Persönlichkeiten als auch Situationen ein bisschen wie unter Glas und nur aus der Ferne betrachtbar, vielleicht gewollt.
Das Warten darauf, dass beim Klären von Essensfragen, dem ewig gleichen Tagesablauf und bei kleineren und größeren Reibereien die Situation hochkocht oder gar eskaliert, ist oft umsonst. Und wenn sich ein kleines Drama ereignet hat, sind die Ich-Erzähler schnell damit fertig und gehen zum Tagesgeschäft über.
So auf den ersten ca. 300 Seiten des Romans.

Im zweiten Teil des Buches nimmt die Spannung zwar zu, doch die Figuren bleiben seltsam blass, sowohl die drei Ich-Erzähler als auch die andern Handelnden, zu denen man als Leser fast keinen Bezug bekommen kann.

Ich weiß, dass T.C. Boyle das besser kann. Dennoch ist es ein gut lesbares Buch, das von mit gute 3,5 Sterne verdient. Ich hätte mir mehr Dynamik und Konfrontation und weniger ausschweifende Erzählung und dahinplätschernde Handlung gewünscht.

In der Realität übrigens, in Biosphäre 2 in Arizona, sank während des ersten Einschlusses nach einem halben Jahr der Sauerstoffgehalt bedrohlich, viele der Wirbeltiere starben und die Herrschaft von Kakerlaken und Ameisen sorgte für großen Hunger. Die Mission musste letztlich unterbrochen werden. Der zweite Einschluss verlief besser, doch Streitigkeiten bei den Finanziers beendeten das Projekt im September 1994.

Veröffentlicht am 17.04.2017

Überlebenskampf

Herz auf Eis
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Das Buch "Herz auf Eis" ist die Geschichte eines Existenzkampfes auf einer einsamen Insel, die so dicht und eindringlich geschrieben ist, dass mich das Buch einfach nur überwältigt hat. Das Buch ist ein ...

Das Buch "Herz auf Eis" ist die Geschichte eines Existenzkampfes auf einer einsamen Insel, die so dicht und eindringlich geschrieben ist, dass mich das Buch einfach nur überwältigt hat. Das Buch ist ein moderner Abenteuerromanen, Liebesroman, Extremerfahrung und Überlebenskampf und lässt den Leser nicht mehr los, so packend und spannend erzählt die Autorin Isabelle Autissier.

"Als Kind hat sie geträumt, sie sei eine Heldin. Aber dem Leben sind die Träume egal."

Das Paar Louise und Ludovic, begütert und versorgt, verlassen das Pariser Leben für einen Segeltörn über der Atlantik. Die beiden hatten sich beim Klettern kennengelernt, und die schüchterne, zurückhaltende junge Frau kann es kaum fassen, dass der schöne und begehrenswerte Ludovic sich ausgerechnet in sie verliebte.
Ludovic, vom Leben verwöhntes Einzelkind und genervt vom grauen Job-Alltag, will aussteigen und überredet die auf Sicherheit bedachte und konventionelle Louise, deren Passion und Rückzug das Bergsteigen ist, zum Sabbatjahr für die Atlantik-Segeltour.
Von den Antillen entlang der Südamerikanischen Atlantikküste mit der Yacht "Jason" bis Kap Hoorn ist die Reise für die beiden der Inbegriff von Freiheit, sie fühlen sich stark und überlegen und glauben, der Essenz des wahren Lebens auf der Spur zu sein.
Doch das Reiseglück schlägt im Südatlantik um, als sie ohne vorher ihren Standort zu funken eine einsame Insel anlaufen. Durch einen Sturm, bei dem die "Jason" sinkt, unfreiwillig gestrandet auf der Insel Stromness (Südgeorgien) jenseits des 50. Breitengrades, 1400 km östlich der Falklandinseln gelegen, Naturschutzgebiet mitten im Meer und nur von Pinguinen und Robben bewohnt, stürmisch und eiskalt, felsig und abweisend, müssen sie sich ohne Ausrüstung dem Überlebenskampf stellen.

" Jason, ihr Schiff, ihr Haus, der Inbegriff ihrer Freiheit, ist einfach ausgelöscht, wegradiert wie ein Fehler. ... Sie sind geradezu empört, empfinden ihre Lage als unangemessen."

Das hochdramatische Ringen ums Überleben auf der Felseninsel, das psychologische Drama, das sich zwischen Louise und Ludovic entspinnt, der Versuch der beiden, Menschlichkeit zu bewahren, ist von der Autorin höchst eindringlich und spannend beschrieben. Anfänglicher Aktionismus und großer Elan dienen der Verdrängung der Gedanken an die Zukunft, Überleben scheint möglich.

"Die Gewissensforschung, der Stolz auf die geleistete Arbeit, die Anstrengungen - all das beweist ihr Menschsein, unterschiedet sie von Tieren...Solange sie die Gesellschaft nachahmen, gehören sie ihr noch an."

Anfangs als Partner agierend und die Schuldfrage und die Wut über das Geschehen notwendigerweise zurückstellend entwickelt sich das Verhältnis der beiden im Überlebenskampf immer mehr zu einem Kampf gegeneinander. Ludovic setzt sich durch und gibt wie seit Beginn der Beziehung der beiden den Takt an, schafft damit Situationen, bei denen der partnerschaftliche und zivilisierte Umgang des Paares in reine Abscheu und Gewalt umschlägt.

Dennoch verzehren sich Louise und Ludovic füreinander und brauchen sich gegenseitig. Sie schöpfen erneut Hoffnung aus gemeinsamer Arbeit, doch der sich verschlechternde Gesundheitszustand durch zu wenig und Mangelernährung, Sorge vor dem einsetzenden Winter und weitere Rückschläge schaffen eine ganz unmittelbare Leben-oder-Tod-Situation. Louise, die starke Kämpferin, trifft allein eine Entscheidung, die sie an den Rand und darüber hinaus dessen bringt, das sie aushalten kann.

"Sie hat sich einen Kokon gesponnen, der sie am Leben hält, oder eher zwischen zwei Leben, dem davor und dem danach."

Sprachlich präzise und knapp, sachlich und klar schafft es die Autorin auf dem reichlich 200-Seiten-Roman mit wenigen Worten, den Leser in bedrohliche Situationen zu stellen, ohne ablenkende oder beschönigende Umschreibungen. Die Beschreibung der kargen Insel und der Lebensumstände ist so gut getroffen, dass ich beim Lesen gefroren habe. Eindrucksvoll ist, wie man beim Lesen die Naturgewalten des Meeres, des Sturmes und des Eises ängstlich fühlen kann.

"Nicht mehr kämpfen, den Albtraum beenden, der doch zu nichts führt. Schlafen, schlafen ohne Hunger, ohne diese ständige Angst vor dem nächsten Tag."

Das Lesen des Romanes ist, wie die Geschichte selbst, eine grenzwertige Erfahrung. Man wird an den Rand des Erträglichen geführt, und obwohl man von der Autorin dort nicht allein stehen gelassen wird, ist es extem, insbesondere im Hinblick auf die psychologischen Aspekte. Der Kampf um den Erhalt der Menschlichkeit und Liebe, ums Überleben und gegen die Verzweiflung und gegen das Aufgeben sind derartig nachspürbar und dicht, dass es fast nicht auszuhalten ist.
Bravo dafür, ich bin komplett überwältigt von diesem großartigen, mitreißenden, traurigen und zugleich hoffnungsvollen Roman, der völlig zu Recht für den Prix Goncourt nominiert wurde.

Die französische Autorin Isabelle Autissier, geboren 1956, umsegelte übrigens 1991 als erste Frau selbst die Welt und weiß, wovon sie schreibt. Sie lebt in La Rochelle und schreibt seit den 1990er Jahren.

Veröffentlicht am 17.04.2017

Dramatische brasilianische Familiengeschichte

Luana
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Der Debütroman "Luana" von Luiza Sauma ist eine mitreißende und tragische Familiengeschichte, die nach Hitze, Sonne und Wehmut Brasiliens schmeckt.

"Mamãe starb im Januar 1985 bei einem Autounfall auf ...

Der Debütroman "Luana" von Luiza Sauma ist eine mitreißende und tragische Familiengeschichte, die nach Hitze, Sonne und Wehmut Brasiliens schmeckt.

"Mamãe starb im Januar 1985 bei einem Autounfall auf der Straße, in der ich aufgewachsen bin. Alles, was danach passierte, war zweitrangig."

André Cabral ist 16 Jahre alt, als seine Mutter in Rio de Janeiro tödlich verunglückt und die Familie mit dem Vater und seinem 10 Jahre jüngeren Bruder traumatisiert zurück lässt. Er erlebt nach dem Unfall alles wie durch einen Schleier, kapselt sich von seinen Freunden ab und versucht, den Tod der Mutter zu verarbeiten. Unterschwellig spürt er ständig den Verlust, fühlt die Leere in der Wohnung, die sie zurück gelassen hat, sieht sie in seinen Träumen und Albträumen.
Andrés Vater verschanzt sich hinter seiner Arbeit als Schönheitschirurg, der kleine Bruder Thiago sucht Trost bei Rita, dem Hausmädchen, das mit ihrer Tochter, wie damals bei reichen Brasilianern üblich, in der Wohnung der Familie in Rio wohnt.
Es ist die Zeit des Endes der Militärdiktatur in Brasilien, doch André bekommt wegen seiner Trauer kaum etwas davon mit und es interessiert ihn auch nicht wirklich. Er ist, wie seine Freunde auch, aufgewachsen mit dem silbernen Löffel im Mund, ohne politische Sorgen.
Ein Jahr nach dem Tod der Mutter verlieben sich André und Luana, die schöne halbwüchsige Tochter von Rita, ineinander, und sind sich dabei bewusst, dass ihre Liebe wegen Überschreitung der gesellschaftlichen Klassengrenzen keine Zukunft hat.
André verlässt Rio nach der Schule mit 18 Jahren und geht nach London, wo er Medizin studiert, seine spätere Frau Esther kennenlernt und mit ihr eine Familie gründet. Nach vielen Jahren bekommt er einen Brief von Luana mit rätselhaften Andeutungen, der ihn aus der Bahn wirft...

"Ich werde Dich warten lassen, so wie Du uns hast warten lassen.“

André ist zu Beginn des Buches über 40 Jahre alt und gestandener Hausarzt, wohlsituiert und seit kurzem getrennt von seiner Frau in London lebend, erinnert sich an seine Jugend in Brasilien, insbesondere an die Zeit nach dem Unfall seiner Mutter. Einfühlsam, poetisch und ein bisschen melodramatisch erzählt die Autorin die Geschichte des jungen André, der versucht, sein Leben weiter zu leben. Er vermisst seine Mutter, die Umarmungen des liebevollen schwarzen Hausmädchens Rita, denen er als 17jähriger fast-Mann entwachsen ist und um die er seinen kleinen Bruder beneidet. Zurückgezogen leidet er allein, nachts, in seinen Träumen.
Sein Vater versucht, ihn zur Arbeit anzuleiten, er möchte, dass sein Sohn seine Klinik übernimmt. Doch André wehrt sich gegen den ihm eigentlich nicht vertrauten Vater, bricht aus Konventionen aus, zum Beispiel durch seine Liebe zu Luana, und flüchtet schließlich aus Brasilien, ohne zurück zu blicken.

Unterbrochen werden die Erinnerungen, die André an seine Jugend hat, von Luanas Briefen, wodurch Stück für Stück ein vergrabenes Geheimnis offenbart wird, das André letztlich dazu bringt, nach Brasilien zu reisen. Doch die Vergangenheit lässt sich nicht ändern, zu spät und nach zu langer Zeit hat André sich erinnert und aufgerafft, manchmal kann nichts bereinigt oder gerichtet werden.
Darin liegt wohl die Tragik der Geschichte, er versucht, seiner Vergangenheit zu entfliehen und wird nach vielen Jahren von ihr doch wieder eingeholt.

„Du warst zu jung, um zu wissen, was du tatest und ich war zu jung, um dich davon abzuhalten.“

Wie André übergeht die Autorin in ihrem Buch die gesellschaftspolitische Lage im damaligen Brasilien weitgehend. Man bekommt einen kleinen Einblick in die Klassenteilung, erfährt am Rande des Geschehens von der täglichen Gewalt durch Raubüberfälle, spürt der Lebensart der reichen hellhäutigen Brasilianer nach. Mehr jedoch nicht, und darum geht es in dem Roman auch nicht vordergründig.
Die Kritik ist subtil und unterschwellig eingeflochten, wenn zum Beispiel die Rede davon ist, dass die Dienstmädchen Rita und Luana der Familie Cabral nicht gleichgestellt sind, oder dass Luana die Schule nicht beenden kann.
Für André, durch dessen Augen man das Geschehen betrachtet, ist dies normal, und durch seinen Schmerz hat er keinen freien Blick entwickeln können. Erst im Nachhinein erlebt er diesbezüglich eine Änderung, als er schon lange in London gelebt hat.

Völlig unkitschig schreibt sie Autorin, von der Trauer, von der Liebe zwischen André und Luana und von seinem Neuanfang in Europa. Ohne Happy End, ohne Tränen sondern einfach so, wie im richtigen Leben, schließt sich der Kreis für André bei seiner Reise nach Brasilien, und er muss für sich selbst einen neuen Anfang finden.
Sprachlich schafft es die Autorin dabei, die Hitze und Lebenslust der Brasilianer spürbar zu machen. Gleichzeitig gelingt ihr auch der Vermittlung der verzweifelten Versuche Andrés, sein Leben zu meistern und mit der Trauer um seine Mutter zurecht zu kommen. Ein bisschen wohldosierte Melodramatik, wie in einer guten Telenovela, bekommt der Geschichte dabei sehr gut.

Fazit
Ein mitreißendes und eindringlich erzähltes Buch, sehr zu empfehlen für alle, die unkitschige Familiengeschichten mögen; ein Buch, das durch Zeitwechsel, Rückblicke und teils überraschende Wendungen spannenden Lesegenuss bietet. Das ist mir eine Leseempfehlung und gute vier Sterne wert.

Die Autorin Luiza Sauma, geboren in Rio de Janeiro, lebt in London und wurde 2014 mit dem Pat Kavanagh Award ausgezeichnet. Luana ist ihr Debüt.