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Veröffentlicht am 01.02.2023

Sehr komplexe Geschichte

Die geheimste Erinnerung der Menschen
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Diégane lebt in Paris und schreibt an seiner Doktorarbeit - zumindest sollte er das. Doch vielmehr ist er mit seinem eigentlichen Traum beschäftigt: er will einen anspruchsvollen, richtungsweisenden Roman ...

Diégane lebt in Paris und schreibt an seiner Doktorarbeit - zumindest sollte er das. Doch vielmehr ist er mit seinem eigentlichen Traum beschäftigt: er will einen anspruchsvollen, richtungsweisenden Roman schreiben. Durch eine zufällige Bekanntschaft mit der Autorin Siga D. kommt er in den Besitz eines Buches, das im Frankreich der 30er Jahre einen gewaltigen Skandal auslöste. Es handelt sich um den Roman "Das Labyrinth des Unmenschlichen", geschrieben vom schwarzen Schriftsteller T.C. Elimane, der damals als "Schwarzer Rimbaud" gefeiert wurde - und persönlich nie in Erscheinung getreten ist. Elimane wuchs im kolonialisierten Senegal auf und kam 1935 mittels eines Stipendium nach Frankreich, um an einer Pariser Hochschule zu studieren aus welcher Intellektuelle, Denker, Schriftsteller und Professoren hervorgingen. Elimanes Roman wird in gebildeten Kreisen unter größter Faszination gelesen, doch die kolonialistische Denkart ist tief in der Gesellschaft verankert und der senegalesische Autor seinen Kritikern, nunja, nicht schwarz genug. Die Kritiker schreiben: "Wir hätten mehr tropisches Kolorit, mehr Exotismus, mehr Durchdringung der rein afrikanischen Seele erwartet. [...] Der Autor ist gebildet. Doch wo ist das echte Afrika in alldem?" (S. 93). Hinterfragt wird dabei auch in weitgreifenden intellektuellen Kreisen die Herkunft des Autors, ist es ja schließlich ungewöhnlich, schwarz zu sein und doch so einen klugen Roman verfassen zu können - ist das nicht ein Widerspruch? Genauestens wird das Werk also unter die Lupe genommen und bald aufgrund von schwerwiegenden literarischen sowie ethnologischen Plagiatsvorwürfen aus dem Verkehr gezogen. Dann aber sterben die Kritiker des Autors, hauptsächlich durch eigene Hand - ganz gleich, ob die Kritiken positiv oder negativ waren. Zufall oder steckt doch mehr dahinter? Hat das Buch seine Kritiker in den Wahnsinn und folglich in den Selbstmord getrieben, oder war der Autor gar der schwarzen Magie fähig und nutze sie auf seinem blutigen Rachestreifzug gegen die Kritiker seines Werkes?

Mit dem beginnenden Kriegseinzug Frankreichs erlischt der Skandal um den Autor endgültig, das Buch gerät in Vergessenheit und die Existenz des immer noch unbekannten Autors wird verdrängt. Bis Diégane an das vermutlich letzte Exemplar des verschollenes Werks gerät, fließt viel Wasser die Seine hinab, doch rund 80 Jahre später ist er sofort fasziniert von der Geschichte des Romans und um die Geschichte des "schwarzen Rimbauds". So begibt er sich auf eine literarische Ermittlung, sucht im dichten Nebel der Literaturgeschichte nach vereinzelten Spuren des vergessenen Autors, taucht immer tiefer in die Geschichte von Elimane hinab im Bestreben, ihn zu finden.

Bei Mohamed Mbougar Sarrs zweifellos meisterhaft erzählten Werk "Die geheimste Erinnerung der Menschen", welches 2021 mit dem französischen Literaturpreis "Prix Goncourt" ausgezeichnet wurde, handelt es sich um eine eindrucksvolle Geschichte durch Raum und Zeit; über Ländergrenzen und Kontinente hinweg, von der Gegenwart bis in die Vergangenheit greifend. Es ist eine geheimnisvolle, aufregende Spurensuche, die viel Aufmerksamkeit erfordert und bei der man am Ball bleiben muss, um sich nicht unterwegs irgendwo zu verlieren. Einer Geschichte mit so vielen Charakteren unterschiedlicher Zeiten täte ein Personenregister vielleicht ganz gut, ich fand es zwischendurch etwas verwirrend und auch ermüdend, den Handlungssträngen zu folgen und nachzuvollziehen, über wen gerade überhaupt erzählt wird. Aber wer sich ins Labyrinth aufmacht, wird auch irgendwann am Ziel ankommen, nur komplett packen konnte es mich leider nicht und es hat mich zwischendurch auf längerer Stecke gelangweilt. Dennoch war der Roman eine interessante, rätselhafte Irrfahrt durch die Zeit und das Leben eines wie vom Erdboden verschluckten Menschen, und beim erneuten und genaueren Lesen ließen sich sicherlich noch einige lose Fäden miteinander verbinden.

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Veröffentlicht am 29.01.2023

Das Abbild einer Generation

Die Perfektionen
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Anna und Tom, aufgewachsen in irgendeinem südeuropäischen Nest, ziehen ins aufregende Berlin, um als Freiberufler durchzustarten. Zwischen Vernissagen und Nachtleben muss das Leben in den sozialen Netzwerken ...

Anna und Tom, aufgewachsen in irgendeinem südeuropäischen Nest, ziehen ins aufregende Berlin, um als Freiberufler durchzustarten. Zwischen Vernissagen und Nachtleben muss das Leben in den sozialen Netzwerken vor allem eins sein: fotogen. Die Fassade ihres Daseins ist glanzvoll und perfekt insziniert, die Wohnung gemütlich-urban: Altbau im Szene-Kiez, honigfarbenes Fischgrät-Parkett, Stuck, Pflanzen. Der Beruf der beiden (natürlich): was mit Medien und Design. Ihre Freunde sind international, sie kommen und gehen - ein sich ständig wandelnder Fluss von Neu-Berlinern.
Doch irgendwann fängt das Leben in ihrer Blase an, Anna und Tom anzuöden. Doch kein Problem: schließlich sind sie sind jung und mobil. Und so vermieten sie ihre Wohnung unter und machen sich auf die Suche nach neuen Abenteuern im europäischen Ausland. Schließlich kann man als digitaler Nomade von überall aus arbeiten, solange man seinen standardsilbernen Macbook im Gepäck hat. Aber auch an anderen Orten holt das Pärchen die Unzufriedenheit über das eigene, beliebige Leben immer wieder ein.

Das Buch spielt hervorragend mit Klischees und der Autor malt ziemlich authentische Bilder vom angestrebten Idealismus sowie Individualismus einer ganzen Generation. Kurz: die Thematik ist ein perfektes Abbild unseres digitalen Zeitalters und fängt den Puls der Zeit beängstigend nah ein. In der Umsetzung dessen liegt der Fokus des Romans, weshalb es zwar zwangsläufig wenig Handlung, dafür aber viel Stimmung gibt. Ist man sich dessen erstmal bewusst, ist das Buch wirklich gut. Wer aber eine Geschichte mit tiefer Handlung erwartet, wird enttäuscht werden. Leider konnte ich aufgrund dessen aber auch keine Verbindung zu den beiden Protagonisten aufbauen, obwohl sie doch sinnbildlich für eine ganze, sinnsuchende Generation stehen. Und auch wenn es interessant war, in diese auf knapp 120 Seiten mal reinzuschnuppern - möchte man diese perfekt inszenierte Welt auch eigentlich ganz schnell wieder verlassen.

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Veröffentlicht am 25.10.2022

Gut, aber nicht ganz überzeugend

Das Leuchten der Rentiere
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Nördlich des Polarkreises, im klirrend kalten und tiefverschneiten Winter Schwedens, wo hier und dort Rentiere die Straßen kreuzen, wächst Elsa auf. Ihre Familie gehört den Samen an, einer indigenen Bevölkerungsgruppe ...

Nördlich des Polarkreises, im klirrend kalten und tiefverschneiten Winter Schwedens, wo hier und dort Rentiere die Straßen kreuzen, wächst Elsa auf. Ihre Familie gehört den Samen an, einer indigenen Bevölkerungsgruppe Skandinaviens, in welcher die Rentierzucht bis heute die Lebensgrundlage vieler Familien bildet - so auch der Elsas. Im zarten Alter von 9 Jahren sieht Elsa am Rentiergehege ihrer Eltern, wie ihr eigenes Rentierkalb von einem Mann ermordet wird. Ein Ereignis, das sich noch über viele Jahrzehnte fest in ihrem Gedächtnis hält. Elsa hat den Täter erkannt, doch fühlt sich durch Drohgebärden zum Stillschweigen verpflichtet. Über die Jahre hinweg muss sie jedoch zusehen, wie mehr und mehr Rentiere durch Tierquälerei leiden und durch Wilderei sterben müssen. Die Polizei zeigt sich machtlos und wenig interessiert an den "Haustieren" und Problemen der Samen, und alle Anzeigen verlaufen ins Leere. Doch mit steigendem Alter beginnt Elsa Gerechtigkeit einzufordern, für ihre Familie, ihr Volk, und ihr ermodetes Rentier.

Obwohl das Cover allein schon ein Highlight in meinem Bücherregal ist, war der Einstieg ins Buch für mich ziemlich schwierig. Mehrfach konnte ich den Zeitsprüngen nicht richtig holperfrei folgen und habe immer wieder den Faden verloren. Hinzu bin ich leider auch mehrfach über den etwas unsauberen Schreibstil bzw. die Übersetzung gestolpert, und leider war meine Lesebegeisterung daher vor allem zu Beginn noch sehr zurückhaltend. Ab der Mitte wurde es aber viel besser! Mit der Sprache wuchs auch die Protagonistin zu einer starken Figur heran - vom stillen Kind zur lautstarken Erwachsenen, die Gerechtigkeit einfordert und für ihre Interessen kämpft. Die Sprache ist ruhig, jedoch nicht allzu ausgeschmückt, was aber auch nicht weiter tragisch ist; die Szenerie konnte ich mir trotzdem sehr gut vorstellen.

Der Eindruck, welchen die Autorin in die Lebenswelt der Samen gibt, ist interessant, aber auch erschreckend, denn auch sie spüren die Gefahren des Klimawandels und erleben Rassismus.

Trotz des schwerfälligen Einstiegs konnte mich das Buch letztendlich doch noch gut unterhalten, und hat einen sowie erschütternden als auch spannenden Eindruck in den Alltag und die Traditionen der Samen gegeben - doch ganz überzeugen konnte es mich nicht.

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Veröffentlicht am 03.10.2022

Komplex und undurchsichtig

Ein System, so schön, dass es dich blendet
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Im Zentrum des Romans "Ein System, so schön, das es dich blendet" stehen die mittlerweile in aller Welt zerstreuten Drillinge Sebastian, Matilda und Clara - Kinder einer schwedischen Pfarrerin. Sebastian ...

Im Zentrum des Romans "Ein System, so schön, das es dich blendet" stehen die mittlerweile in aller Welt zerstreuten Drillinge Sebastian, Matilda und Clara - Kinder einer schwedischen Pfarrerin. Sebastian lebt in London und widmet sein Leben der Erforschung außergewöhnlicher, ja mysteriöser neurologischer Phänomene. Matilda ist Synästhesistin, sie zog es der Liebe wegen nach Berlin, wo sie Yoga praktiziert und von einer Farbe verfolgt wird, die es nicht gibt. Clara ist die zivilisationskritische Schwester, die sich ihrer zerrütteten Familie ganz zu entziehen versucht und sich an den vielleicht einsamsten Ort der Welt begibt - die Osterinsel. Hier schließt sie sich einer Gruppe von Umweltpessimisten an, die sich sehr gelassen dem Ende der Welt entgegensehnt. Doch dann enthüllt die Mutter: die Drillingsgeburt war chaotisch, eines der Kinder wurde wohl auf der Station vertauscht. Und jedes Kind denkt plötzlich, es selbst sei die Anomalie in der Familie.

In Svenssons Roman geht es um komplizierte Leben, aber so richtig durchgeblickt habe ich nicht immer, was mir auf knapp 700 Seiten häufiger den Spaß am Lesen getrübt hat. Vieles war einfach zu verzwickt und einiges nicht ganz stringent zuende erzählt, dass ich zwischendurch hin und wieder mal ausgestiegen bin und irgendwann den Anschluss an die Geschichte dann richtig verpasst habe. Der Anfang hat noch Spaß gemacht, ich mochte den ausufernden Erzählstil sehr gern, aber ab der Hälfte hat das Buch mich immer weiter ins Chaos geschickt und als Leserin zunehmend verloren. Titel, Cover und Klappentext haben leider falsche Hoffnungen geweckt, die nicht erfüllt wurden. Das Buch behandelt spannende Themen, die aber leider nicht ganz verständlich verarbeitet sind und sich doch ein wenig in ihrer Komplexität verlieren. Es wäre womöglich guter Stoff für eine Serie, aber als Lektüre ging es für mich nicht auf. Leider gab es zu viele Nebenstränge, die dann irgendwann an nur leichten Fäden lediglich lose zusammengeknüpft wurden.

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Veröffentlicht am 29.09.2022

Hervorragend

Haie in Zeiten von Erlösern
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Auf einer Exkursion mit einem Ausflugsboot vor der hawaiianischen Küste geht der siebenjährige Nainoa über Bord und wird kurz darauf von mehreren Haien umschwärmt. Als einer der Haie das Kind in sein Maul ...

Auf einer Exkursion mit einem Ausflugsboot vor der hawaiianischen Küste geht der siebenjährige Nainoa über Bord und wird kurz darauf von mehreren Haien umschwärmt. Als einer der Haie das Kind in sein Maul nimmt, befürchtet man bereits das Schlimmste - doch der Junge wird unversehrt zurück zum Boot gebracht. Die Eltern des Jungen, welcher darüberhinaus plötzlich heilende Fähigkeiten besitzt, deuten dies als Schicksalsschlag der hawaiianischen Gottheiten, denn durch die Gabe ihres Sohnes scheint sich ihnen ein Weg aus der Armut zu öffnen. Doch mit jenem Ereignis ist auch eine quer durchs Land bekannte Legende um den Jungen geboren, welche das Leben der Familie noch bis über viele Jahre hinweg prägt und doch so stark an ihren Grundpfeilern rüttelt. Und so bleibt schließlich nichts, außer dem allmählichen Auseinanderbrechen der Familie zuzusehen. Denn während das Wunderkind Nainoa unter der Hoffnung der Eltern, durch ihn als Geldquelle aus der Armut zu entkommen, zusehends leidet, lösen sich seine beiden Geschwister beinahe komplett vom kulturellen Erbe der Eltern. Der älteste Sohn wird zur Basketballkoryphäe auf dem amerikanischen Festland, die Tochter schlägt eine akademische Laufbahn in Kalifornien ein.

Die Idee der Geschichte hat mir unheimlich gut gefallen und auch die Umsetzung ist gut gelungen. Sprachlich mitreißend erzählt werden hawaiianische Legenden, Geister- und Götterglauben peu a peu mit der Handlung verzweigt, was dem Roman sehr gut getan hat und eine eindrückliche Atmosphäre erschaffen hat. Während Nainoas Charakter unter den Erwartungen und dem Druck der Eltern immer stärker zugrunde geht, leiden die Geschwister unter mangelnder elterlicher Fürsorge. Die Familiendynamik ist fragil, und zerbricht nach einem einschlagendem Ereignis fast komplett. Der Schauplatz ist von Sagen und Mythen umwoben, ein Stück Kapitalismuskritik wird auch fein platziert und die Rückbesinnung auf die eigene Herkunft rundet den Roman vollends ab.

"Haie in Zeiten von Erlösern" ist ein durchweg außergewöhnlicher Roman, der den Zauber und die Magie der hawaiianischen Inseln ein Stück weit einfängt und mich komplett überzeugen konnte.

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