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Veröffentlicht am 06.07.2021

Wundervoll

Wildtriebe
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Drei Generationen unter einem Dach und ein gemeinschaftliches Leben auf dem Bauernhof. Was für die einen nach einer romantischen Art des Lebens klingt, ist hier Austrageort für Reibereien über Tradition, ...

Drei Generationen unter einem Dach und ein gemeinschaftliches Leben auf dem Bauernhof. Was für die einen nach einer romantischen Art des Lebens klingt, ist hier Austrageort für Reibereien über Tradition, Sitten und Tabus.

Oma Lisbeth stammt aus einer Generation, welche die Frauen in den Häusern hielt und die Männer zur Arbeit draußen auf dem Hof zwang. Nie würde sie diese Rollenbilder anzweifeln, der Hof ist ihre Lebensgrundlage, ihr ganzer Stolz und das große, wohlverdiente Erbe ihrer Vorfahren. Ihre Schwiegertochter Marlies eckt bei ihr bereits an, indem sie in einem Kaufhaus in der nächsten Stadt eine Teilzeitstelle annimmt und außerdem als Frau den Jagdschein macht. Und dann ist da noch Enkelin Joanna, die sogar noch größere Ziele im Leben hat. Denn sie will die Traditionen aus Lisbeths Sicht ganz über Bord werfen, ein Jahr nach Afrika gehen und danach Studieren.

Ute Mank lässt in ihrem Debütroman die verschiedenen Lebensvorstellungen dreier Generationen aufeinandertreffen und schneidet dabei allerlei Themen an, die von der Überwindung gefestigter Frauenbilder des letzten Jahrhunderts erzählen. Das Buch beschreibt die Verpflichtung des Zusammenhalts und die Angst des Auseinanderbruchs, eine schöne, sentimentale Geschichte über das Erfüllen von Erwartungen und dem Bruch mit alten Gewohnheiten. Und über die Sehnsucht, das Leben selbst in die Hand zu nehmen.

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Veröffentlicht am 03.06.2021

Über Eskapisten und Utopisten

Sommer der Träumer
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"Mit einem Heißhunger, der so viel mehr wollte als die schmalen, kriegsversehrten Schatten unserer Eltern, saugten wir die Freiheit auf, für die sie gekämpft hatten."

Die griechische Insel Hydra in den ...

"Mit einem Heißhunger, der so viel mehr wollte als die schmalen, kriegsversehrten Schatten unserer Eltern, saugten wir die Freiheit auf, für die sie gekämpft hatten."

Die griechische Insel Hydra in den Sechzigern - Insel der Aussteiger, Künstler, Freigeistler. Die Insel lockt mit Freiheit für wenig Geld Bohemians aus aller Welt heran, sich dort in verträumter Kulisse dem Malen, Schreiben und Leben unter einfachsten Bedingungen zu widmen. Hierhin verschlägt es auch die junge Protsgonistin Erica aus England nach dem Tod ihrer Mutter. Mit ihrem Bruder schließt sie sich einer vor Ort sesshaften Künstlerkommune um Charmian Clift an. Darunter: Schriftsteller Axel Jensen und George Johnston, der junge Leonard Cohen und Marianne Ihlen. Doch hinter der Fassade bröckelt es, Intrigen, Herzschmerz und tumultartige Beziehungen überschatten die Idylle.

Das Buch holt uns zurück in die Zeit der freien, ungezügelten Liebe inmitten der wunderbaren Kulisse des Mittelmeers. Polly Samson fängt die Schönheit der Insel und die einzigartige Atmosphäre der Zeit in einer grandiosen Sprache ein. Sie verflechtet echte Menschen in einer gut recherchierten, aber fiktiven Geschichte, die weder einer stringenten Handlung folgt noch das Charakterliche der Protagonistin hervorhebt. Es gibt viele Charaktere, und den Beziehungen untereinander zu folgen kann manchmal schwierig sein, aber das ist auch gar nicht so wichtig. Das Buch konzentriert sich bewusst vielmehr auf die Schnappschüsse einer vergangenen Zeit, lässt Utopien aufleben und verleitet zum Davonträumen.
Die heißen Tage werden auf Bergen und Klippen verbracht, die Abende und Nächte bei lauen Temperaturen auf Terrassen, am Hafen und in Tavernen. Sie werden zu Orten des Betrinkens und der Diskussion.

Ein Buch über Träumer, Eskapisten und Utopisten, über Künstler und ihre Musen. Wer Lust hat, unter der Wärme der Inselsonne dem Alltag zu entfliehen und mit kreativen Legenden bei einem Glas Ouzo am Lagerfeuer zu sitzen, dem sei dieses Buch ans Herz gelegt. Für mich der perfekte Sommerroman.

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Veröffentlicht am 24.05.2021

Über's Frausein

Kim Jiyoung, geboren 1982
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Ein schmales Buch, das von den Schattenseiten des Frauseins erzählt, angeborene Rollenverteilungen thematisiert und aufzeigt, wie schwierig es für eine Frau in Südkorea ist, ein erfülltes Leben zu führen.

Der ...

Ein schmales Buch, das von den Schattenseiten des Frauseins erzählt, angeborene Rollenverteilungen thematisiert und aufzeigt, wie schwierig es für eine Frau in Südkorea ist, ein erfülltes Leben zu führen.

Der Roman schildert in knapper Art etwa 30 Lebensjahre der südkoreanischen Frau Kim Jiyoung. Während ihrer Kindheit und Jugend, dem Berufsleben, der späteren Ehe und ihrer Mutterschaft spürt Jiyoung am eigenen Leib die systematische Benachteiligung von Frauen, deren Werte offensichtlich geringer geschätzt werden, als die der Männer. Sie fügt sich dem traditionellen Gesellschaftssystem, das sämtlichen Frauen im Land vorherbestimmt ist und in welchem sie ein eher passives und fremdbestimmtes Leben führt. Und sie reflektiert.

Das Buch erzählt vom Stigma, eine Frau zu sein, schneidet Themen wie Gender-Inequality und Triebtäterschaft an. Es liest sich als gesellschaftskritischer Roman, beschreibt Auszüge des Alltags einer ganz gewöhnlichen jungen Frau in Korea und die den Frauen genommene Chance auf Selbstverwirklichung. Von der Geburt an von Töchtern als "medizinisches Problem" gesprochen, wirft das Buch das Problem einer äußerlichen Zuweisung von Rollen und Verantwortlichkeiten bis zur Arbeiterschaft und Kindererziehung auf und beschreibt das überwältigende Gefühl einer Frau, zweiter Klasse und Zuspieler verschiedener Männer ihres Lebensstadiums (Schwester/Ehefrau/Mutter) zu sein. Das Thema ist nicht nur unbedingt auf Südkorea anwendbar, einige Problemkerne sind auch hier und anderswo noch aktuell und veraltet - Stichwort: Patriarchat. Kein Wunder also, dass es ein Weltbestseller ist, und somit ganz klare Leseempfehlung von mir.

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Veröffentlicht am 04.05.2021

Tolle Geschichte

Das Flüstern der Bienen
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Mexiko im frühen 20. Jahrhundert. Rückwirkend wird die Geschichte eines ausgesetzten Jungen geschildert. Unter einer einsamen Brücke gefunden und umgeben von einem Schwarm Bienen, wird Simonopio von einer ...

Mexiko im frühen 20. Jahrhundert. Rückwirkend wird die Geschichte eines ausgesetzten Jungen geschildert. Unter einer einsamen Brücke gefunden und umgeben von einem Schwarm Bienen, wird Simonopio von einer wohlhabenden Familie als Ziehsohn adoptiert und schläft mit zunehmendem Alter in einer Hütte unter einem Dach von Bienen. Er kann zwar nicht sprechen, sich aber dafür mit seinem Bienenschwarm verständigen. Als Mitglied der geflügelten Familie folgt er ihnen, wenn sie ausschwärmen, lernt von ihnen das Wetter am Himmel abzulesen und sieht durch ihre Augen, was sich hinten den Hügeln befindet. Klingt absurd, ist ihm jedoch eine außerfewöhnliche Gabe, die seine Familie nicht nur einmal rettet. Denn das Buch ist nicht nur seine Geschichte, sondern auch die seiner Familie. Im Wandel der Zeit durchläuft diese Schicksalsschläge persönlicher wie politischer Natur, vor welcher der Bienenjunge sie nicht nur einmal im Voraus warnen kann. Dennoch prägen Agrarreformen, die Spanische Grippe und Mord das Familienleben. Viel Inhalt für ein Buch, das wirklich vollgepackt von Themen ist, aber allesamt toll verarbeitet.

In einer märchenhaften, metaphorischen Sprache werden Bilder aus Aromen und Tönen gezeichnet. Und das nicht nur kurzweilig, viele Szenen betören den Leser mit einer eigensinnigen Kulisse auf einem duftenden Klangteppich. Man kann das Buch mit allen Sinnen erleben. Emotional erlebt man Auf und Abs einer Familie; Viele Szenen werden aus verschiedenen Blickwinkeln vorgestellt, das Buch ruft auf zu Sensibilität und Mitgefühl, sich der Geschichte hinzugeben und zu lauschen.

Mit dem amüsant-komischen Flair eines Wes-Anderson-Films springt jemand dem Tod von der Schippe, indem er sich dem langweiligen Warten auf das Sterben, das nicht schnell genug einsetzt, verweigert. Klingt absurd, doch ich habe mich köstlich amüsiert, das ist Unterhaltung vom feinsten.

Es gibt keine allzu unerwarteten Wendungen im Buch, da uns von Anfang an alle handelnden Charaktere an ihren Gedanken, Emotionen und Plänen teilhaben lassen. Zwischendurch ist das Buch kurzweilig etwas langatmig, aber dennoch führt eine allmählich teilweise radikale Reduzierung der Kapitellänge (auf Teilweise ganze zwei Sätze!) zu einem enormen Spannungsbogen, in welcher die Geschichte voranprescht. Obwohl das Buch sanft ist wie das Flügelschlagen einer Biene, passiert so viel und es war wirklich eine große Freude, dem Werdegang der Familie um den Jungen zu folgen. Ganz große Erzählkunst.

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Veröffentlicht am 03.05.2021

Literarisches Meisterwerk

Der Sommer, als Mutter grüne Augen hatte
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"In diesem Sommer haben wir uns stärker selbst zerstört als in all den Jahren zuvor, aber wir waren nie lebendiger gewesen."

Oh wow, WAS für ein Buch! Ich kann hier gar nicht wiedergeben, wie ergreifend ...

"In diesem Sommer haben wir uns stärker selbst zerstört als in all den Jahren zuvor, aber wir waren nie lebendiger gewesen."

Oh wow, WAS für ein Buch! Ich kann hier gar nicht wiedergeben, wie ergreifend dieses Buch und wie tief die psychologische Handlung reicht.

Die Geschichte beginnt mit einer unglaublichen, kapitellangen Hass- und Schimpftirade des jungen Aleksy auf seine Mutter, begleitet von obskuren Todeswünschen - denn er hasst sie, und zwar so richtig. Nie verheilte, emotionale Wunden aus Aleksys Kindheit haben tiefe Narben hinterlassen, die sich durch Wut und Gewalt den Weg an die Oberfläche bahnen. Und dann, nach vielen Jahren der Abscheu, reisen Mutter und Sohn zusammen in ein kleines Dorf inmitten von Frankreich - im Gegenzug dafür wird Aleksy immerhin ein Auto versprochen. Doch hier ändern sich die Umstände, denn in einem kleinen, schäbigen Mietshaus mitten in Frankreich findet Aleksy heraus, dass seine Mutter krebskrank ist und ihr letzter gemeinsamer Sommer bevorsteht. Ein brutales Carpe Diem beginnt, und damit auch ein hochemotionaler Sommer der Vergebung und der unausgesprochenen Worte zwischen Mutter und Sohn.

Das Buch ist ein Schlag in die Magengrube, voller Wut und lang angestautem Schmerz.
Abgelehnt und depressiv nähert sich Aleksy seiner Mutter an. Der Schreibstil, die Details, die Ehrlichkeit, jedes Wort ist sorgfältig ausgewählt. Es ist so direkt und eindringlich erzählt, dass das Buch kaum Platz zur Interpretation bietet.

Einige Kapitel sind nur eine Zeile lang, aber unbeschreiblich ausdrucksstark. Und durch diese ziehen sich ständige Reflexionen Aleksys auf dessen Mutters Augen durch das Buch, zum Beispiel: "Mutters Augen waren Narben im Gesicht des Sommers". Eindringlichst werden dadurch die Gefühle des Protagonisten verpackt, die aus einem ständigen emotionalen Kampf der Abscheu und Liebe resultieren - denn die grünen Augen der Mutter sind das Schönste an ihr. Die Augen sind der Spiegel der Seele, hierauf beruht das Buch. Und so ändern sich auch zunehmens Aleksys Empfindungen gegenüber seiner Mutter durch den wandelnden Ausdruck ihrer Augen. Und anhand dieser, sich durch Krankheit und gemeinsame auf-und-ab-Erlebnisse ständig ändernden Gefühlswelt der Mutter, verschieben und manifestieren sich ebenfalls die Gefühle von Aleksy gegenüber seiner Mutter.

Schmerzhaft und aufrichtig, ein Buch über Sehnsucht, Vergebung und Reue, über Verantwortung und dem Versuch, im letzten verbleibendem Sommer noch einmal das Glück beim Schopf zu packen. Eins der schönsten, emotionalsten und intensivsten Bücher, die ich je gelesen habe. Aus meiner Sicht ein Meisterwerk der Literatur und ein heißer Anwärter auf mein Jahreshighlight.

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