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Veröffentlicht am 29.04.2021

Eine Hymne an den Sommer!

Der große Sommer
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"Ich hob mich in die Pedalen und riss im Fahren einen Zweig mit Lindenblüten ab. Vielleicht musste man sich das Schöne einfach nehmen."

Viel muss man zum Inhalt gar nicht sagen. Es geht um Frieder, der ...

"Ich hob mich in die Pedalen und riss im Fahren einen Zweig mit Lindenblüten ab. Vielleicht musste man sich das Schöne einfach nehmen."

Viel muss man zum Inhalt gar nicht sagen. Es geht um Frieder, der nicht mit seiner Familie in die Sommerferien fahren darf. Er hat zwei Klausuren verhauen, und muss bei seinen Großeltern für die Nachprüfungen büffeln. Die Zeichen für einen unvergesslichen Sommer stehen erst einmal schlecht, doch mit Alma und Johann wird der Sommer dann doch noch ganz Groß. Und mit Beate, die Frieder im Freibad kennenlernt - und in die er sich sofort unsterblich verliebt.

Arenz hat eine nostalgisch-sentimentale Art des Erzählens und kann erstklassig Gefühle und Stimmungen einfangen. Das Thema selbst ist zwar keine prickelnd neue Idee, aber die jugendlich-gewitzten Konversationen sowie die gleichzeitig detailverliebte Sprache im Roman machen die Handlung um die jungen Protagonisten nachvollziehbar und erlebbar. Wir erleben viel mit den vier Freunden: einen Sommer der ungezügelten Jugend, des jugendlichen Leichtsinns, der ersten Male und gelebten Freiheit. Aber auch Verlust. Es ist ein typischer Adoleszenzroman über tiefgehende Freundschaften, die erste Liebe und das Sammeln von Erfahrungen und Erinnerungen. Doch er eignet sich als Lektüre sowohl für junge Leser als auch für ältere Generationen, die sich noch einmal die Sommer ihrer jungen, unbeschwerten Jahre in Erinnerung rufen möchten.

Eine Hymne an die Jugend und an die unvergesslichen Sommer, die wir in uns tragen. Mich hat das Buch sehr gerührt, daher gibt's eine eindeutige Leseempfehlung meinerseits!

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Veröffentlicht am 15.04.2023

Überraschend tiefgründig

Seemann vom Siebener
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"Flaues Gefühl im Magen und Butter in den Knien. Geländer fleckig oxidiert, der Beton voller Flechten und Moose. Beinahe wie etwas Natürliches, vielleicht ein Felsen im Mittelmeer. Nichts wirft Schatten ...

"Flaues Gefühl im Magen und Butter in den Knien. Geländer fleckig oxidiert, der Beton voller Flechten und Moose. Beinahe wie etwas Natürliches, vielleicht ein Felsen im Mittelmeer. Nichts wirft Schatten auf einen Siebener. Es fühlt sich an wie das Dach der Welt." (S. 231)

Es riecht nach Pommes, Chlor und warmen Gras. Sonnenstrahlen kitzeln in der Nase, das Leben hält für einen Sommertag inne, alles scheint friedlich. Die Wärme lockt die Bewohner von Ottersweier ins Freibad, doch der Tag wird von einem Ereignis in der Vergangenheit überschattet, infolgedessen auch der große Sprungturm geschlossen ist. Die Erinnerung an einen Unfall mit fatalem Ausgang im vergangenen Herbst liegt noch allzu präsent in der Luft. Doch das Freibad stellt einen ganz eigenen Kosmos dar, in dem sich bekannte und unbekannte Wege kreuzen und Menschen am Abend mit neuen, geteilten Erinnerungen wieder auseinandergehen. Und so begleiten wir eine Handvoll Menschen an diesem schönen Tag. Zum Beispiel Renate, die vom Kassenhäuschen aus zuschaut, wie sich die Liegewiese allmählich füllt. Mit Bademeister Kiontke besuchen wir sie hin und wieder und erleben, wie er mit Schuldgefühlen anlässlich des Unglücks kämpft, das er nicht abzuwenden vermochte. Wir gehen zu Sergej an den Kiosk, der uns mit einer frischen Portion Pommes und mit Flutschfingern versorgt und begleiten ein Mädchen, welches vom geschlossenen Siebener unbedingt den Seemann machen will - ein wahrlich halsbrecherischer Sprung ins kühle Nass.

Noch so einige engmaschig verstrickte Lebensgeschichten mehr treffen in diesem begrenzten Raum des Freibads, an diesem schönen, hitzigen Sommertag aufeinander. Zu Beginn waren mir die Figuren zu stereotypisch gestaltet, aber ab der zweiten Hälfte des Romans haben sie an Tiefe gewonnen. Auch der Schreibstil hat sich im Verlauf stark verändert, zuerst rau und mit Hang zum Plumpen wurde er zusehends feiner, ausgeschmückter und angenehmer zu lesen. Auf alle Fälle jedoch kommt eine immer stärkere Freibadstimmung auf: Gerüche, Gefühle, Geräusche, die eigene Erinnerungen wachrufen.
Tobende Kinder, störende Bienen, jeder hängt in der Sonne irgendwie seinen Gedanken nach, sinniert vor sich hin. Ein schönes atmosphärisches Buch für den Frühling, das große Lust auf Sommer macht und mit überraschendem Ende inklusive wow-Effekt überzeugt!

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Veröffentlicht am 12.03.2023

Gott ist tot

Lapvona
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Die Handlung Lapvonas spielt inmitten einer augenscheinlich mittelalterlichen Gemeinschaft frommer Bauern und zieht sich über 5 wahrlich grausame Jahreszeiten hinweg. Die Bewohner bewirtschaften ihre Felder ...

Die Handlung Lapvonas spielt inmitten einer augenscheinlich mittelalterlichen Gemeinschaft frommer Bauern und zieht sich über 5 wahrlich grausame Jahreszeiten hinweg. Die Bewohner bewirtschaften ihre Felder und leben ein einfaches Leben, während ihr korrupter und schamloser Herrscher in seinem Schloss dem schönen Leben in Überfluss frönt. Durch tragische Umstände fällt der Protagonist Marek, Sohn eines armen Hirten, ganz plötzlich in den Genuss unermesslichen Reichtums, als der Herrscher Lapvonas ihn nach Tod seines eigenen Sohnes zum Ersatzerben bestimmt. Mareks Varer lässt ihn nur zu gern gehen - immerhin ist Marek ein missgestalteter Bastard und so hässlich, dass nicht mal er ihn anschauen will. Doch der Tod des rechtmäßigen Prinzen bringt scheinbar übernatürliche Konsequenzen mit sich: es fällt kein Regen mehr, die wenigen überlebenden Dorfbewohner ziehen sich an die letzte Wasserquelle zurück, wo sie sich von Insekten und Tierexkrementen ernähren. Die Bauerngemeinschaft ist im Umschwung, während im dekandenten Herrschaftssitz eine Jungfrau ein Kind erwartet.

Lapnova ist ein Fall von exzessiv derber und morbider Gore-Literatur, ausgestattet mit Kannibalismus, Folter, Missbrauch und Ansätzen von Pädophilie. Moshfeghs Werk ist ein schauerliches, abscheuliches, ja brutales Stück Text, welcher vom Leser einen starken Magen fordert. Die Protagonisten und alle Randpersonen sind in ihren Charaktern absolut Eigen und der Eine verstörender als der Andere.

Moshfegh schreibt erbarmungslos direkt über die hässlichen Seiten der Menschen, doch bearbeitet dabei Themen wie Klasse, Religion, Macht und Gier in überraschend auf die moderne Welt anwendbarer Manier. Mit meisterhaftem Können schafft sie aus historischer Fiktion eine realistische Fantasiewelt, die sich in Anspielung auf heutige hierarchiche Systeme und Herrschaftsprinzipien zweifelsfrei spannend analysieren lassen würde. Sehr beklemmend und die Grenzen des Ekels häufig und meilenweit überschreitend, hat Moshfegh ein makaberes Spektakel erschaffen, bei dem sich immer wieder alles in einem zusammenzieht, aber von dem man sich trotzdem nicht lösen kann. Ein völlig seltsamer, chaotischer Roman, in dem mir persönlich leider doch zu Vieles nicht aufgeklärt wurde - der mich aber trotzdem unheimlich gut unterhalten hat!

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Veröffentlicht am 07.02.2023

Ein Leben an der See

Zur See
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"Zur See" spielt auf einer kleinen, nicht benannten Insel in der Nordsee. Hier kennt Jeder kennt Jeden - mal abgesehen von den vielen Erholungstouristen, die für ein paar Tage Seeluft, Wellness und Achtsamkeit ...

"Zur See" spielt auf einer kleinen, nicht benannten Insel in der Nordsee. Hier kennt Jeder kennt Jeden - mal abgesehen von den vielen Erholungstouristen, die für ein paar Tage Seeluft, Wellness und Achtsamkeit anreisen. Vordergründig geht es um die Sanders, eine Familie, in der die Seefahrt seit vielen Generationen Tradition hat. Die Männer wurden schon im jungen Alter zur See geschickt, während die Mütter gleichwohl wie später dann die Ehefrauen, sehnsuchtsvoll auf die Rückkehr ihrer Liebsten warteten.
Doch mittlerweile wohnt die Mutter der Familie alleine im alten reetgedeckten Haus, verlassen vom Vater ihrer drei Kinder. Der einstige Kapitän hat sich in eine zugige Stelzenhütte am Deich zurückgezogen, aus welcher er in aller Abgeschiedenheit die Vögel beobachtet. Der älteste Sohn trat schon früh sein Familienerbe auf See an, doch mittlerweile fährt er nur noch die Inselfähre und betäubt sich tagtäglich mit reichlich Alkohol. Der jüngere Sohn der Familie hat mit den alten Bräuchen gar nichts mehr am Hut; er baut aus Schwemmgut Skulpturen, die er ziemlich erfolgreich an Neu- und Kurzzeitinsulaner verkauft. Und Tochter Eske ist nur noch genervt von der maritimen Inszenierung der Insel, mit ihren blau-weißen Souvernirshops, den bärtigen Seemännern am Hafen und den urigen Kombüsenkneipen mit klischeehafter Fischernetzdeko und Messinglampen in den Fenstern. Jeder Ur-Insulaner spielt hier nur noch seine Rolle für die Touristen, während Eske im Seniorenheim der Insel die einstigen, wahren Seemänner und deren Frauen pflegt.

Wir Leser begleiten die Familie durch einige tiefe Zerwürfnisse, die sich während der Zeit aufgetan haben, denn trotz der augenscheinlichen Idylle am Wattenmeer läuft das Leben auch hier nie so richtig rund. Da es keine so ganz stringente Handlung gibt, treten hier die kleinen, aber bedeutenden zwischenmenschlichen Geschichten besonders deutlich zutage. Meist steht dabei die Einsamkeit im Vordergrund, oft daraus resultierend, dass die einstige Seefahrerkultur durch die Touristenströme immer mehr zur Farce und sich zeitgleich sehr nostalgisch an die alten Zeiten zurückerinnert wird. Aber auch die See selbst kommt in diesem Inselportrait natürlich nicht zu kurz und wird oft Thema, das die Handlung durchbricht und bestimmt.

Bei Dörte Hansens Roman handelt sich um eine insgesamt leichte Lektüre mit ziemlich melancholischer Erzählstimme, die mich schon allein wegen der Atmosphäre überaus stark unterhalten (und ja, auch gut entschleunigen) konnte. Schöne, greifbare Figuren mit Ecken und Kanten, von denen sehr gefühlvoll erzählt wird, runden das Buch ab, und doch hat mir in Bezug auf die Handlung zwischendurch ein bisschen mehr Tiefgang gefehlt. Es war interessant, dem Werdegang einer Familie zu folgen, die zwar Nachkommen sturmerprobter und kälteresistenter Seefahrer sind, aber trotzdem in den dunklen Wellen der modernen Gesellschaft treibt. Denn auch wenn der Fischfang nicht mehr im Mittelpunkt ihrer Leben steht, das Leben an der Küste wird fortwährend stark von der See bestimmt.

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Veröffentlicht am 31.03.2022

Sehr sonderbar!

Die nicht sterben
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Wow was war das denn? Es fällt mir tatsächlich sehr schwer, hier die Handlung zu umreißen, aber Transsilvanien und Dracula sind wohl ein ganz passender Anfang. Denn man könnte wohl sagen, der Dracula-Mythos ...

Wow was war das denn? Es fällt mir tatsächlich sehr schwer, hier die Handlung zu umreißen, aber Transsilvanien und Dracula sind wohl ein ganz passender Anfang. Denn man könnte wohl sagen, der Dracula-Mythos spielt in diesem Roman die Hauptrolle.

Eine durchweg namenlose Ich-Erzählerin kehrt an den Ort ihrer Kindheit zurück, der ebenfalls keinen Namen trägt und lediglich mit dem Buchstaben "B" umschrieben wird. In dieser Kleinstadt, irgendwo in der Walachai am Rande zu Transsilvanien, treffen sich Verwandte und Freunde nach langer Zeit wieder, genießen das Leben in großbürgerlicher Sitte/Manier. Als sich beim Wandern ein Unfall mit Todesfolge ereignet, kommt es zum Knackpunkt, ab welchem das Buch an Fahrt aufnimmt und die Handlung richtig durchdreht: Beim Öffnen der Familiengruft wird ein Toter gefunden, der Erinnerungen an die Foltermethoden von Vlad den Pfähler weckt - jenem spätmittelalterlichen Fürsten, der in der heutigen Popkultur wohl fest mit dem Namen Dracula verankert ist.
Als sich dann auch noch herausstellt, dass Vlad der Pfähler himself in eben dieser Gruft liegt und der Ahnenkette der Erzählerin angehört - naja, ihr könnt es euch vorstellen, was das für eine Kleinstadt bedeutet: da geht natürlich ganz schön die Post ab.

Grigorcea schreibt mit "Die nicht sterben" keinen blutrünstigen Vampirroman oder etwa einen modernen Dracula nach Vorbild Bram Strokers. Sondern sie baut Merkmale des Schauerromans in eine rumänische Orts- und Familiengeschichte ein, schreibt über das postkommunistische Land und dessen Gesellschaft, über Klassenunterschiede, das "in der alten Zeit festhängen" und die Perpektivlosigkeit des Gegenwärtigen. Natürlich mokiert man sich auch hier über den Dracula-Hype des Westens, doch wenn die Chance besteht mit dem alten Mythos selbst Geld scheffeln zu können, sagt man halt auch nicht nein. Nur die Touristen will man hier auch nicht unbedingt haben - außer vielleicht im zügig entstehenden Dracula-Themenpark.

Ich fands leider streckenweise verwirrend und relativ schwierig durchzublicken, zwischendurch wurde auch gerne mit lateinischen Phrasen rumgeworfen, die man auch gerne irgendwo für Leute ohne Latinum hätte übersetzen können. Es hat mich aber doch ziemlich gefesselt, war sehr träumerisch, phantastisch angehaucht und hat mich sehr gut unterhalten. "Die nicht sterben" ist nicht nur ein Buch, welches die Dracula-Legende quasi wieder auferleben lässt, sondern ist ein doch ziemlich anspruchsvoller, aber auch skurriler Roman über eine altrumänische Historie, der auch auf der Longslist zum letztjährigen Buchpreis stand. Geschichte mal anders!
 

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