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Veröffentlicht am 26.03.2023

Highlight

Zeit der Schuld
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Delhi in den frühen Morgenstunden. Plötzlich rast ein Mercedes auf den Bordstein und reißt fünf schlafende Obdachlose in den Tod. Einziger Überlebender ist der mutmaßliche Fahrer des Wagens: Ajay, ein ...

Delhi in den frühen Morgenstunden. Plötzlich rast ein Mercedes auf den Bordstein und reißt fünf schlafende Obdachlose in den Tod. Einziger Überlebender ist der mutmaßliche Fahrer des Wagens: Ajay, ein Dienstbote im Hause des Wadia-Clans. Was fortan erzählt wird, ist Ajays Geschichte. Als Kastenloser, im armen, ländlichen Teil Nordindiens geboren, wird er von seiner Mutter an ein kinderloses Pärchen am Fuße des Himalayas verkauft. Durch eine lebensweisende Begegnung macht er schon bald Bekanntschaft mit Sunny, einem Sprössling des mächtigen Wadia-Clans. Sunnys Leben ist geprägt von Korruption, Gewalt, Drogen- und Alkoholexzessen. Aufgrund seiner hingebungsvollen sowie besonnenen Art wird Ajay schnell zu Sunnys persönlichem Dienstboten berufen und taucht dabei nicht nur in die Welt der delhi'schen VIP's und indischen Gangster ein, sondern erlebt auch hautnah eine von Korruption und Verbrechen geprägte Welt - in der er fortan mehr als nur einmal für seinen Dienstherrn den Kopf hinhält.

Kapoors Roman spielt im modernen Indien und thematisiert nicht nur das Gangsterleben, sondern ebenfalls das Modernisierungsstreben, das häufig zu Lasten der ländlichen, ärmeren Klassen bzw. niederen Kasten geht und beleuchtet dieses kritisch. Komplexe, sehr ausdefinierte Charaktere mit ganz eigenen Lastern bilden zudem das solide Grundgerüst für diesen wirklich sehr guten Roman. Sunny will sich von seiner Familie lösen, doch zugleich genießt er den Reichtum und die Machtposition seiner Familie, die er doch nicht missen möchte und - in Unvereinbarkeit mit seinem Lebensstil - auch gar nicht kann. Neben Sunny sind alle anderen, mal mehr mal weniger präsenten Protagonisten in ihren Wesen sehr ambivalent aufgebaut. Sie sind raue Charaktere mit vorherbestimmen Lebenswegen - aber authentisch und trotz ihrer jeweiligen Eigenheiten und Verderbtheit ein großes Stück weit Zuneigung erregend und herzgewinnend.

Als dritte Protagonistin taucht irgendwann dann eine Frau namens Neda im Leben der beiden Männer auf. Sie ist Journalistin und wird bald schon zur Liebhaberin von Sunny und zum Teil auch zum moralischen Kompass seiner verquerten Machenschaften. Alle drei bilden fortan ein ziemlich verquirltes Trio in schicksalhafter Verbundenheit; drei Menschen aus dreierlei Lebenswelten und Umfeldern, deren Realitäten aber allesamt vom Clanleben überschattet wird.

Allerlei Intrigen, Nebengeschichten und Wendungen führen zu vielen actionreichen Szenen und einer griffigen, manchmal chaotischen und sehr rasanten Handlung mit ständigem Spannungsbogen. Mit einer schmutzigen, rabiaten Welt und mitunter viel Brutalität und menschlichen Abgründen hat "Zeit der Schuld" mich mit Begeisterung ins Gangster-Paradis Indiens abtauchen lassen. Das schnelle Erzähltempo hat mich komplett gefesselt und das 700-Seiten starke Buch hab ich innerhalb weniger Tage durchgesuchtet. Große Leseempfehlung, ein Highlight!

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Veröffentlicht am 22.03.2023

Highlight

Der weiße Fels
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"Der weiße Fels" ist für mich bisher das größte buchige Highlight des Frühjahrs. Die Autorin Anna Hope (bekannt durch "Was wir sind") erzählt in ihrem druckfrischem Roman von vier Personen verschiedener ...

"Der weiße Fels" ist für mich bisher das größte buchige Highlight des Frühjahrs. Die Autorin Anna Hope (bekannt durch "Was wir sind") erzählt in ihrem druckfrischem Roman von vier Personen verschiedener Zeiten, deren geographische Verbindung ein sakraler, weißer Felsen vor der Pazifikküste Mexikos ist.

Zuerst folgen wir einer Schriftstellerin, die mit Mann, Tochter und einer kleinen internationalen Gruppe zum heiligen Felsen pilgert und am dortigen Strand für die Geburt ihrer Tochter eine Opfergabe ins Meer setzen will - und zwar genau dann, als das Wörtchen "Corona" immer mehr Menschen zum Begriff wird. Dann: The Doors-Frontman Jim Morrison himself, der in der mexikanischen Abgeschiedenheit versucht seinem Ruhm zu entkommen und eine rauschhafte Nacht im kleinen Küstenstädtchen am Felsen durchtorkelt. Noch 60 Jahre weiter zurück in der Zeit erleben wir, wie zwei Yeome-Schwestern gewaltsam ihrem Land entrissen werden und auf ihrer Verschleppung per Schiff in die Sklaverei an jenem weißen Felsen Halt machen. Und zuguterletzt verfolgen wir den Tag eines spanischen Kapitänslieutnanten des späten 18. Jahrhunderts, welcher vom weißen Felsen aus auf Entdeckungs- und Missionierungsfahrt in die nördlichen Längengrade in See stechen will.

Inspiriert von wahren Ereignissen erzählt Anna Hope in vier Jahrhunderten von grundverschiedenen Menschen, deren Schicksal sie früher oder später in ihrem Leben aus ganz verschiedenen Gründen an jenen brandungsumtobten Felsen im Meer führt. Ich habe mich gut durch die einzelnen Geschichten tragen lassen, die Sprache war bildgewaltig und ruhig, zu einem Teil poetisch und zum anderen Teil abstrakt, ab und an auch spirituell.
Das Buch ist keines für jene, die eine auserzählte Geschichte suchen. Die Fäden der Erzählstränge sind wenn überhaupt nur vage miteinander verknüpft, die Leben der Protagonisten nur knapp und ausschnitthaft dargestellt. Doch ich fand die Personen trotz dessen greifbar, das Buch bewegend, in sich stimmig und sehr besonders.

Ich hab's wirklich gern gelesen mit dem einzigen Kritikpunkt, dass es gern noch länger hätte sein können!

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Veröffentlicht am 05.03.2023

Sehr unterhaltende Lektüre

Morgen, morgen und wieder morgen
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Was bleibt mir noch zu sagen, was nicht schon so oft geschrieben worden ist. Gefühlt haben das Buch ja schon alle gelesen, auf den Inhalt brauche ich also nicht mehr groß einzugehen. Es geht um die drei ...

Was bleibt mir noch zu sagen, was nicht schon so oft geschrieben worden ist. Gefühlt haben das Buch ja schon alle gelesen, auf den Inhalt brauche ich also nicht mehr groß einzugehen. Es geht um die drei Jugendfreunde Sadie, Sam und Marx, die seit den 90er Jahren zusammen Videogames entwickeln und damit ziemlich schnell auch internationale Erfolge feiern können. Ihre Freundschaft, samt ihrer Höhen und Tiefen, begleiten wir dabei über die Jahrzehnte hinweg. Für viele ist das Buch ein Highlight und eigentlich bleibt auch mir nicht viel mehr, als mich den vielen positiven Stimmen anzuschließen. Die Handlung war vielschichtig und ausgefeilt, Erzählstränge waren perfekt miteinander verknüpft und alles insgesamt sehr mitreißend und bewegend erzählt. Die Protagonisten waren zwar nicht durchgehend sympathisch, haben jedoch allesamt gute Entwicklungen durchgemacht, die vor allem aber auch durchweg nachvollziehbar waren. Die drei Freunde und ihre Weggefährten waren tiefgreifend unterfüttert und ich konnte mich mit ihnen identifizieren. Plus: das Buch hat in mir die Sehnsucht entwickelt, die von den Freunden programmierten Games zu zocken, und das obwohl ich mit Videospielen eigentlich wenig bis gar nichts anfangen kann. Das lag vor allem mit daran, dass neben der realen Welt auch die virtuellen Spielwelten unglaublich detailliert und bildhaft beschrieben waren; die Handlungen der Spiele waren tiefgründig sowie moralisch untermalt und allgemein sehr clever durchdacht. Der Schreibstil war einfach und flott zu lesen, aber dafür nicht weniger mitreißend. Ein sehr, sehr unterhaltsames Buch, das mich quasi rundum begeistert hat!

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Veröffentlicht am 04.02.2023

Ein Land vor unserer Zeit

Urwelten
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"Landschaften zu betrachten, die vor langer Zeit existierten, weckt die Lust auf Zeitreisen." (S. 23)

Thomas Halliday ist Paläontologe. Das heißt, er erforscht ausgestorbene Tiere und Pflanzen unterschiedlichster ...

"Landschaften zu betrachten, die vor langer Zeit existierten, weckt die Lust auf Zeitreisen." (S. 23)

Thomas Halliday ist Paläontologe. Das heißt, er erforscht ausgestorbene Tiere und Pflanzen unterschiedlichster Erdzeitalter. In seinem Sachbuch nimmt er uns bis zu 550 Millionen Jahre zurück in die Vergangenheit, sozusagen in ein Land vor unserer Zeit - oder besser gesagt sogar in 16. Denn in insgesamt 16 Kapiteln erzählt er uns von 16 einander noch so unterschiedlichen Erdzeitaltern sowie deren Vegetationen und Lebewesen, schickt uns Leser dabei immer weiter zurück in die Vergangenheit unseres blauen Planeten, in Urwelten, die Eine noch faszinierender als die Andere. Halliday berichtet, wie die Welt über ihre Zeitgeschichte hinweg fortlaufend durch Gletscher, globale Eiszeiten, vulkanische Aktivitäten, Hitzeperioden und Meteroiteneinschläge geformt wurde. Er berichtet davon, wie sich die Erde durch tektonische Verschiebung aufwirft und Gebirge faltet, wie sie erschafft und zerstört, wie Leben konserviert wird und uns abermillionen Jahre später noch häppchenweise Hinweise darüber serviert, wie sie vor unserem ersten Erscheinen auf der Bildfläche aussah. Einige Welten muten vertraut an, andere klingen beinahe zu fantastisch, um real zu sein. Die Reise reicht bis vor die Entstehung von Gräsern, bis vor die ersten Blütenpflanzen. Dorthin, wo die Wälder noch still waren und nur Wind, Wasser und der Klang von Insektenflügeln hörbar war - da die Singvögel noch gar nicht existierten.
Wir sind dabei, wie neue Ökosysteme entstehen, wie Lebewesen gänzlich neue Welten für sich entdecken, etwa mittels Inselflößen (Baumstämme oder Küstenabbrüche), die Monate lang den Atlantik überqueren.
Gleichzeitig macht Halliday auf die Grenzen der Forschung aufmerksam, ruft uns ins Gedächtnis, wie viel wir eigentlich immer noch nicht wissen und womöglich auch nie erfahren werden; schildert uns dabei von unerklärlichen Lücken im Fossilbericht, die selbst Forscher zuweilen an Über- oder Unnatürliches glauben lassen.

Das Buch ist faktengesättigt, bringt diese in zwar anspruchsvoller, mitunter auch poetischer Sprache jedoch weitestgehend ausgesprochen bildlich und verständlich rüber. Zuweilen können wir quasi actionreichen Szenen zwischen Dinosauriern auf Futtersuche und bei Kräftemessen beiwohnen. Oder auch einem Flugsaurier beim Gleiten über eine abendrote Lagune zusehen - und dabei, wie er in einem unvorsichtigen Moment durch einen schwarzen Schatten, der im Meer auf seine Chance gelauert hat, aus der Luft gegriffen wird. Diese Verbildlichungen geben dem Buch zwischendurch immer wieder einen epischen Charakter, der die Faktenflut auflockert. Ergänzt wird das Buch außerdem durch Illustrationen jeweiliger Urwelt-Bewohner und Kartografien der jeweiligen Zeit, die Aufschluss über das Aussehen der entsprechenden Welt geben.

Hin und wieder mal zwischendurch, aber vor allem im Epilog, versucht der Autor aufzuzeigen, was wir aus der Erdgeschichte in Bezug auf den heutigen Klimawandel mitnehmen können. Dass wir in der Lage sind, durch Blicke in die Vergangenheit zu lernen, angeeignetes Wissen zu nutzen und daraus Hoffnung zu ziehen. Auf jedes Massensterben in der Erdzeit folgte neues Leben in einer ganz anderen, prachtvollen Vielfalt, so als ob die Erde einen Reset macht. Doch die Ökosysteme sind fragil, und "was [...] existiert, kann immer nur von dem kommen, was vor ihm da war" (S.222). Die Frage ist nur, ob wir Menschen daran Teil nehmen werden, oder ob die Erde ihren Neustart irgendwann ohne unsere Spezies macht. Zweifelsfrei beeinflusst das noch so ferne Gestern unsere Gegenwart - und wir selbst letztendlich unsere Zukunft. Ich hatte nicht wenige "aha"-, "oh"- und "wow"-Momente, und ich glaube das fasst es ziemlich treffend zusammen. Wärmste Empfehlung von mir!

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Veröffentlicht am 29.09.2022

Hervorragend

Haie in Zeiten von Erlösern
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Auf einer Exkursion mit einem Ausflugsboot vor der hawaiianischen Küste geht der siebenjährige Nainoa über Bord und wird kurz darauf von mehreren Haien umschwärmt. Als einer der Haie das Kind in sein Maul ...

Auf einer Exkursion mit einem Ausflugsboot vor der hawaiianischen Küste geht der siebenjährige Nainoa über Bord und wird kurz darauf von mehreren Haien umschwärmt. Als einer der Haie das Kind in sein Maul nimmt, befürchtet man bereits das Schlimmste - doch der Junge wird unversehrt zurück zum Boot gebracht. Die Eltern des Jungen, welcher darüberhinaus plötzlich heilende Fähigkeiten besitzt, deuten dies als Schicksalsschlag der hawaiianischen Gottheiten, denn durch die Gabe ihres Sohnes scheint sich ihnen ein Weg aus der Armut zu öffnen. Doch mit jenem Ereignis ist auch eine quer durchs Land bekannte Legende um den Jungen geboren, welche das Leben der Familie noch bis über viele Jahre hinweg prägt und doch so stark an ihren Grundpfeilern rüttelt. Und so bleibt schließlich nichts, außer dem allmählichen Auseinanderbrechen der Familie zuzusehen. Denn während das Wunderkind Nainoa unter der Hoffnung der Eltern, durch ihn als Geldquelle aus der Armut zu entkommen, zusehends leidet, lösen sich seine beiden Geschwister beinahe komplett vom kulturellen Erbe der Eltern. Der älteste Sohn wird zur Basketballkoryphäe auf dem amerikanischen Festland, die Tochter schlägt eine akademische Laufbahn in Kalifornien ein.

Die Idee der Geschichte hat mir unheimlich gut gefallen und auch die Umsetzung ist gut gelungen. Sprachlich mitreißend erzählt werden hawaiianische Legenden, Geister- und Götterglauben peu a peu mit der Handlung verzweigt, was dem Roman sehr gut getan hat und eine eindrückliche Atmosphäre erschaffen hat. Während Nainoas Charakter unter den Erwartungen und dem Druck der Eltern immer stärker zugrunde geht, leiden die Geschwister unter mangelnder elterlicher Fürsorge. Die Familiendynamik ist fragil, und zerbricht nach einem einschlagendem Ereignis fast komplett. Der Schauplatz ist von Sagen und Mythen umwoben, ein Stück Kapitalismuskritik wird auch fein platziert und die Rückbesinnung auf die eigene Herkunft rundet den Roman vollends ab.

"Haie in Zeiten von Erlösern" ist ein durchweg außergewöhnlicher Roman, der den Zauber und die Magie der hawaiianischen Inseln ein Stück weit einfängt und mich komplett überzeugen konnte.

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