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Veröffentlicht am 04.06.2023

"Äußerlich gut, aber innerlich zerknittert, danke"

Anne auf Green Gables
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Zuallererst: Ich liebe den Roman von Lucie Maud Montgomery! Für mich gehört er zu den schönsten Kinder- und Jugendbüchern überhaupt. Deshalb war ich mir unsicher, ob eine Graphic Novel überhaupt das richtige ...

Zuallererst: Ich liebe den Roman von Lucie Maud Montgomery! Für mich gehört er zu den schönsten Kinder- und Jugendbüchern überhaupt. Deshalb war ich mir unsicher, ob eine Graphic Novel überhaupt das richtige Format ist, um Annes Geschichte wiederzugeben und dem Roman gerecht zu werden.

Die Antwort lautet: ja! Natürlich bleibt der Roman das Original und kann durch keine Serie oder Graphic Novel ersetzt werden. Aber trotzdem ist es Mariah Marsden und Brenna Thummler gelungen, das, was die Geschichte ausmacht, einzufangen. Annes Fantasie und Lebhaftigkeit, all ihre wunderbar klugen Gedanken, ihr offener Blick für die Welt und auch ihre Missgeschicke gibt das Buch wieder. Außerdem ist das Gesamtbild farblich stimmig und stilistisch. Nicht alle Zeichnungen haben mir gefallen, aber einige der Doppelseiten fand ich dafür sehr schön.

Für Kinder und Jugendliche, die Anne entdecken und lieben lernen möchte, die sich von einer Figur und ihrer Geschichte verzaubern lassen möchten, eignet sich die Graphic Novel also. Und der Roman folgt dann hoffentlich direkt als Anschlusslektüre.

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Veröffentlicht am 24.03.2023

Ein bemerkenswerter Roman

Räume des Lichts
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"Räume des Lichts" von Yuko Tsushima hat mich unerwartet begeistert, erzählerisch, sprachlich, aber auch in seiner Art, die japanische Gesellschaft und die Rolle von Frauen in ihr abzubilden.

Es ist ein ...

"Räume des Lichts" von Yuko Tsushima hat mich unerwartet begeistert, erzählerisch, sprachlich, aber auch in seiner Art, die japanische Gesellschaft und die Rolle von Frauen in ihr abzubilden.

Es ist ein sehr introspektiver Roman. Man taucht als Leser in die Innenwelt der Protagonistin ein und erfährt dadurch aus der Nähe, was es in der japanischen Gesellschaft bedeutet, alleinerziehend zu sein. So viele Szenen graben sich in diesem Kontext ins Gedächtnis: Zum Beispiel sträubt sich die Protagonistin davor, auf der Arbeit von ihrer Trennung, ihrer bevorstehenden Scheidung und ihrer Rolle als alleinerziehenden Mutter zu sprechen. Allem haftet ganz offenbar ein Stigma an. Sie muss außerdem übergriffiges Verhalten durch die Bekannten ihres Mannes erleben, die ihr ins Gewissen reden und sie davon überzeugen wollen, sich nicht scheiden zu lassen. Da heißt es dann: “Ich habe im Bekanntenkreis einige Frauen, die geschieden sind, und sie können einem allesamt leidtun. Frauen tut es nicht gut, wenn sie alleine sind." Trotz dieses Verhalten ihres Umfeldes, trotz Zweifel und schlechtem Gewissen geht sie ihren Weg und erkämpft sich das Leben, das sie mit ihrer Tochter zusammen leben will.

Der Roman erzählt von den Höhen und Tiefen von Mutterschaft, von Mutter und Tochter, die sich manchmal voneinander entfernen, kaum miteinander auskommen, um im nächsten Moment wieder füreinander zu sorgen. Er erzählt auch vom Tod, der allgegenwärtig ist, der sich im Grunde durch jedes Kapitel zieht und der, wie man später im Nachwort der Übersetzerin erfährt, das Leben der Autorin geprägt hat. (Als sie ein Jahr alt war, verlor sie ihren Vater. Ihr Sohn ertrank in der Badewanne.).

Man könnte denken, dass diese ja durchaus schweren Themen den Roman düster wirken lassen. Aber das tun sie nicht, denn sie werden durch zahlreiche leichte, lichtdurchflutete Momente ausgeglichen, die zum Eindruck eines in sich geschlossenen und harmonischen Gesamtbild beitragen.

Es ist bemerkenswert, was sich auf den knapp 200 Seiten alles entfaltet, wie verdichtet und poetisch dieser Roman sich präsentiert. Nicht zuletzt deshalb empfinde ich ihn als unbedingt lesenswert.

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Veröffentlicht am 15.03.2023

Ein Autor, den man entdecken sollte

The Hills
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Mit “The Hills” hat der norwegische Autor Matias Faldbakken einen ironischen Roman über ein traditionsreiches Osloer Restaurant geschrieben, in dem die Zeit stehengeblieben zu sein scheint. Der Protagonist ...

Mit “The Hills” hat der norwegische Autor Matias Faldbakken einen ironischen Roman über ein traditionsreiches Osloer Restaurant geschrieben, in dem die Zeit stehengeblieben zu sein scheint. Der Protagonist des Romans ist der Kellner, der sich selbst als hochsensibel bezeichnet, seine Arbeit sehr ernst nimmt, von den festsitzenden Handgriffen und Umgangsformen nie abweicht und die Gewohnheiten seiner Stammgäste bis ins kleinste Detail kennt. Doch die so fest verankerte Ordnung des Restaurants fällt dem Chaos anheim, als eine junge Frau durch die Tür tritt.

Mit der Ankunft der jungen Frau gerät alles, wofür das Restaurant steht, plötzlich ins Wanken. Der Kellner beginnt, grobe Fehler zu machen, er vergisst sich. Hierarchien und Strukturen lösen sich auf und kehren sich ins Gegenteil um. Da wird plötzlich die Käseplatte vor dem Hauptgericht verzehrt und Handys halten Einzug in das von Zeitungen geprägte Erscheinungsbild des Restaurants.

Die Geschichte bewegt sich am Abgrund. Auf der einen Seite ist die Ordnung, das Alte, das Festhalten an einer Zeit, die schon längst vergangen scheint und nur noch innerhalb der Wände von The Hills existiert. Das Restaurant steht für ein altes Europa, an das man sich mit aller Gewalt klammern muss, um es noch aufrecht erhalten zu können, das in Form des Restaurants bereits abgenutzt wirkt, in dem sich der Ruß und der Dreck der Zeit festgesetzt haben: “Stellen Sie sich vor, wie schön es im alten Europa war, das ist gar nicht einmal so lange her. […] Jetzt gibt es überall Dönerstände und Reparaturläden für kaputte Handybildschirme. Armes Europa.”
Auf der anderen Seite steht das totale Chaos, ein unbekanntes, noch unerforschtes Neues, das nicht mit der Nostalgie, die The Hills auszeichnet, in Einklang zu bringen ist.
Es ist grandios, wie Faldbakken seine Geschichte stets am Abgrund entlanggleiten lässt. Das Geschehen wird zu einem Balanceakt, zu einem Seiltanz und als Leser rechnet man stets mit dem Schlimmsten, mit dem unsichtbaren Stoß, der die Tänzer vom Seil fallen lässt.

Doch nicht nur diese Ungewissheit und untergründige Spannung zeichnen den Roman aus. Er ist außerdem ein Kammerspiel, das sich aus sehr feinen und tiefgründigen Charakterstudien zusammensetzt. Der Kellner, die Barfrau, der Maitre D’ und die Gäste werden in ihrem Verhalten während der gesamten Erzählung unter die Lupe genommen. Nichts bleibt dabei verborgen. Gleichzeitig werden die Figuren jedoch nie ins Lächerliche gezogen und nehmen keine zu starken karikaturartigen Konturen an. Denn Faldbakken gelingt es meisterhaft, seine Figuren auf dieser Bühne, die das Restaurant darstellt, auftreten zu lassen, ihnen den Raum zu geben, sich zu entfalten und Tiefe zu entwickeln und sie dem Leser gleichzeitig durch eine scharfsinnige und ironische Linse blickend zu präsentieren.

“The Hills” ist Zeugnis des erzählerischen Talents seines Autoren und eine Freude für jeden Leser.

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Veröffentlicht am 15.03.2023

Radikal und gewagt

Power
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Der Schauplatz des Romans ist ein kleines Dorf. Kerze, die elfjährige Protagonistin des Romans, erhält von einer Nachbarin den Auftrag, deren verlorenen Hund Power zu finden. Gewissenhaft macht sich Kerze ...

Der Schauplatz des Romans ist ein kleines Dorf. Kerze, die elfjährige Protagonistin des Romans, erhält von einer Nachbarin den Auftrag, deren verlorenen Hund Power zu finden. Gewissenhaft macht sich Kerze jeden Tag auf die Suche, befragt die Dorfbewohner, durchforstet den Wald. Bald schon schließen sich ihr die anderen Kinder des Dorfes an. Doch als die Kinder zu bellen anfangen, auf allen Vieren krabbeln, das Duschen verweigern, nur noch aus Schalen auf dem Boden essen und schließlich ganz im Wald verschwinden, nimmt die Suche ungeahnte Ausmaße an.

​Kerze steht im Zentrum der Geschichte. Sie brennt für die Suche, ist Feuer und Flamme und sie führt das Rudel an, ist das Licht, von dem sich die anderen Kinder wie Motten angezogen fühlen. Keines der Kinder will ausgeschlossen sein. Sie wollen zur Gemeinschaft dazugehören, gehorchen deshalb Kerzes Befehlen und begehren auch nicht auf, wenn sie zur Bestrafung Tannenzapfen essen müssen.

Durch ihre selbstgewählte Verwilderung entziehen sie sich gleichzeitig der Kontrolle der Erwachsenen, die hilflos abends am Waldrand stehen und nach ihren Kindern rufen. Sie vermögen nicht, die Waldgrenze zu überschreiten und ihre Kinder der Wildnis zu entreißen.

Der Roman kann als eine Coming-of-Age-Geschichte gelesen werden. Viele der Kinder um Kerze befinden sich in der Übergangsphase zur Jugend. Sie geben sich dem Animalischen in sich hin, lassen den Trieben freien Lauf. Sie legen alles Menschliche ab, ihre Sprache und auch ihre Verhaltensweisen. Ihre Rückentwicklung ist eine Art Verweigerung, gleichzeitig ein Sich-Festklammern an das, was bereits im Auflösen begriffen ist, nämlich die Kindheit.

Noch deutlicher und offensichtlicher ist jedoch die Gesellschaftskritik, die der Roman übt. Sich anreihend an Werke wie „Herr der Fliegen“ oder „Die Welle“ erschafft Güntner eine düstere und dystopisch anmutende Welt, in der die Gruppenbildung der Kinder als Kommentar über Radikalisierung sowie Macht- und Herrschaftsstrukturen gelesen werden kann. Der Roman legt dar, wie schnell etwas scheinbar Harmloses große Ausmaße annehmen kann, wie es als Nährboden für Fanatismus dienen und eine Vielzahl von Menschen - im Übrigen auch Erwachsene, die sich den Kindern anschließen möchten - radikalisieren kann.

Gleichzeitig nimmt die Autorin das Dorfleben unter die Lupe und zeigt, wie gewaltbereit, unnachgiebig und niederträchtig auch die Erwachsenen sein können.

Verena Güntner schafft es, den Leser in die finstere Welt ihres Romans hineinzuziehen. Bis zum Ende bleibt die Geschichte nicht ganz greifbar und entzieht sich dem vollständigen Verständnis des Lesers. Sie ist gesellschaftskritisch, radikal, gewagt und eine Bereicherung für die deutsche Gegenwartsliteratur. Die Nominierung für den Preis der Leipziger Buchmesse war daher wohlverdient.

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Veröffentlicht am 15.03.2023

Ein lesenswertes Buch, das es nicht zu verpassen gilt!

Wallace
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Anselm Oelzes Roman Wallace zeichnet das Leben von Alfred Russel Wallace nach, dem ewig Zweiten, dem, der nie als Entdecker der Evolutionstheorie in die Geschichte eingegangen ist. Dabei hat Wallace zur ...

Anselm Oelzes Roman Wallace zeichnet das Leben von Alfred Russel Wallace nach, dem ewig Zweiten, dem, der nie als Entdecker der Evolutionstheorie in die Geschichte eingegangen ist. Dabei hat Wallace zur selben Zeit wie Darwin ganz ähnliche Überlegungen zur natürlichen Selektion und zur Entstehung von neuen Arten gemacht. Doch Darwin kommt ihm zuvor, veröffentlicht seine Schriften zuerst und sichert sich so einen Platz in der Geschichte.

Der Roman verleiht Wallace eine Stimme. Er nimmt den Leser mit auf Wallaces Expeditionen in den Regenwald Brasiliens, wo er unermüdlich tausende Käfer und Schmetterlinge sammelt, die ihm die Anerkennung und die Aufmerksamkeit seiner englischen Zeitgenossen zu versprechen scheinen. Doch bei seiner Rückreise nach England fängt das Schiff Feuer und Wallaces kostbare Ladung versinkt im Meer.

Wallace verzagt nicht, macht sich auf die Reise nach Malaysia, entdeckt dort die Trennlinie der Arten zwischen der asiatischen und australischen Region und schreibt Darwin von seinen Überlegungen über die Entstehung neuer Arten.

Anselm Oelze hat einen Roman über das Glück geschrieben, über das Schicksal und seine Wendungen, über das Selbstbewusstsein, den Mut und den Glauben an sich selbst, über Sieger und Verlierer und über Geschichte und Geschichtsschreibung. Er verleiht einer historischen Figur eine Form und Stimme, die es verdient hat, wahrgenommen zu werden. Der Roman setzt Wallace ein wohlverdientes Denkmal, erkämpft ihm nachträglich einen Platz in der Geschichte und macht ihn einem breiten Publikum vertraut.

Ein lesenswertes Buch, das es nicht zu verpassen gilt!

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