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Veröffentlicht am 14.07.2023

Schonungslos

Toxic Man
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Die Zigarette schmeckt ihm nicht, das Bier auch nicht und er fühlt sich fett... So lernen wir gleich auf der ersten Seite den Protagonisten aus Frédéric Schwildens Roman "Toxic Man" kennen. Er ist erfolgreicher ...

Die Zigarette schmeckt ihm nicht, das Bier auch nicht und er fühlt sich fett... So lernen wir gleich auf der ersten Seite den Protagonisten aus Frédéric Schwildens Roman "Toxic Man" kennen. Er ist erfolgreicher Fotograf, plant gerade eine große Ausstellung, fotografiert seinen toten Vater auf dessen Sterbebett und erfährt dann, dass er selbst bald Vater wird. Das alles wird begleitet durch Popculture, Drogenexzesse, Selbstverliebtheit und Ich-Bezogenheit, unvorhersehbare Wutanfälle und Depressionen.

Der Protagonist ist ein Antiheld, ein Verlorener, der ausbrechen möchte, sich von vielem abgrenzen möchte, besonders von seiner bürgerlichen Kindheit und seinem Vater. Also bewegt er sich in einer Welt von teuren Restaurants und Hotels, trifft auf Stars wie Billie Eilish und feiert Parties mit Jens Spahn. Weniger kaputt und verloren macht ihn das allerdings nicht. Im Gegenteil. Erst durch die Hilfe seiner Frau schafft er es, sich damit auseinanderzusetzen, was Vaterschaft und Männlichkeit für ihn bedeuten.

Neben diesen Themen, und das ist für mich das Alleinstellungsmerkmal des Romans, ist "Toxic Man" ein schonungsloses Porträt, das der Gesellschaft Masken und Fassaden runterreißt, das das entlarvt, was unter der Oberfläche schwillt. Denn jeder kriegt sein Fett ab: die Nation, das Bürgertum, Künstler und Promis... (Zum Beispiel heißt es da über den "Strafkolonie Look" vom Stuckrad-Barre: "und dass ich das einfach daneben finde. Weil es respektlos seinem Gegenüber ist, wie der Tod auszusehen.").

Kluge, geistreiche, manchmal auch bissige Gedanken und scharfe Beobachtungen reihen sich aneinander. Klar, durch die Stimme des Erzählers rutscht manches in dessen narzisstische Gedankenwelt ab, wird dann allzu giftig. Aber gerade diese Erzählstimme macht schließlich auch den Reiz des Buches aus.

Ungefiltert, direkt, witzig und schräg ist Schwildens Debüt und zwar so sehr, dass er andere dekadente und um Lautstärke und Schrillheit bemühte Texte fast schon harmlos und brav erscheinen lässt.

Diese Portion Gift sollte man sich nicht entgehen lassen.

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Veröffentlicht am 13.07.2023

Die Art von Klimaliteratur, die es braucht

Und dann verschwand die Zeit
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Eine nicht allzu ferne Zukunft. Der Klimawandel ist fortgeschritten. Überflutungen haben die Landschaften Englands verändert und auch Dürren sind keine Seltenheit.

In dieser Welt wachsen Caro und ihr ...

Eine nicht allzu ferne Zukunft. Der Klimawandel ist fortgeschritten. Überflutungen haben die Landschaften Englands verändert und auch Dürren sind keine Seltenheit.

In dieser Welt wachsen Caro und ihr kleiner Stiefbruder Paul auf. Caros Vater und ihre Stiefmutter sind Wissenschaftler. Als sie bei einem verheerenden Sturm in den USA ums Leben kommen, muss Caro alleine für sich und Paul sorgen.

Sie begibt sich mit ihm zum High House, einem Zufluchtsort, den die Eltern in weiser Voraussicht für sie eingerichtet und ausgestattet hatten. Dort treffen sie auf Sally und deren Großvater. Gemeinsam versuchen die vier, in einer neuen, menschenfeindlichen und von Unwettern und Überflutungen geprägten Welt zu überleben.

Was Jessie Greengrass in "Und dann verschwand die Zeit" eindrucksvoll einfängt, ist der Übergangspunkt vom Leben wie wir es kennen zu einer Welt der absoluten Unsicherheit. Bei ihr wird der Klimawandel greifbar, weil sie ein Szenario entwirft, das sich nicht auf fantastische Elemente stützt, sondern das sich anhand menschlicher Schicksale entfaltet, die real und nachvollziehbar wirken.

Besonders interessant ist dabei natürlich das Alter der Protagonisten. Caro, Sally und vor allem Paul sind jung. Sie verkörpern im Roman das Leiden der nachfolgenden Generationen durch den Klimawandel und berauben es seiner Abstraktion.

Mich hat der Roman überzeugt und ich glaube, es ist genau die Art von Klimaliteratur, die es braucht. Eine Literatur die zeigt, wie zerbrechlich unsere Zivilisation und alles, was sie hervorgebracht hat, ist, wie abhängig und ausgeliefert wir der Natur sind und wie schnell wir auf scheinbar längst überwundene gesellschaftliche Entwicklungsstufen zurückfallen können.

Der Roman hat mich übrigens oft an Megan Hunters Debüt "The End We Start From" erinnert, weil er ebenfalls Themen wie Mutterschaft und eine Kindheit in der Klimakatastrophe behandelt.

Und es muss einfach mehr geben von diesen guten CliFi-Romanen, die eindringlich sind und die vor Augen führen, wie es werden könnte!

Übersetzt von Andrea O'Brien.

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Veröffentlicht am 13.07.2023

Überzeugend

Der Tod in ihren Händen
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Auf einem Spaziergang mit ihren Hund findet Vesta einen Zettel im Wald: "Sie hieß Magda. Niemand wird je erfahren, wer sie ermordet hat. Ich war es nicht. Hier ist ihre Leiche."

Es gibt keine Leiche, ...

Auf einem Spaziergang mit ihren Hund findet Vesta einen Zettel im Wald: "Sie hieß Magda. Niemand wird je erfahren, wer sie ermordet hat. Ich war es nicht. Hier ist ihre Leiche."

Es gibt keine Leiche, keinerlei Anzeichen für einen Mord, nicht einmal Fußspuren. Und doch geht Vesta nicht davon aus, dass es sich um einen Scherz handelt.

Der Zettel nimmt einen immer größeren Raum in ihrem Leben ein. Er lässt sie nicht los, lenkt ihre Gedanken und schürt ihre Fantasie. Schließlich beginnt sie, sich eine Geschichte ausdenken und glaubt bald schon zu wissen, was passiert sein muss.

Was bildet Vesta sich ein? Wie vertrauenswürdig ist sie als Erzählerin und wie sehr steigert sie sich in alles hinein? Hat sie den Zettel beispielsweise selbst geschrieben?

Während der Mord die Geschichte einleitet und sie zunächst wie einen Krimi oder zumindest Thriller erscheinen lässt, zeigt sich zum Ende hin, dass es eigentlich um etwas ganz Anderes geht (und mehr sollte an dieser Stelle nicht verraten werden).

"Der Tod in ihren Händen" ist anders als die bisherigen Romane, die ich von Moshfegh kenne. Anders deshalb, weil er trotz des Mordmotivs weniger brutal, abgründig und dekadent ist. Er ist nach innen gerichtet, spielt sich ganz in der Gedankenwelt und Psyche der Protagonistin ab. Die Außenwelt ist in jeder Hinsicht unsicher, weil sie nur durch ihre Augen wahrgenommen werden kann. Wie Moshfegh es schafft, das zu erzählen, wie sie in ihre Figur eintaucht, ist gelungen, hätte aber besonders im letzten Drittel, wo sich vieles offenbart und zusammensetzt, auf noch intensivere Weise geschehen können.

Trotzdem bin ich wieder einmal begeistert von dieser Autorin, von ihren Figuren und von der psychologischen Tiefe, die sie scheinbar so mühelos herbeischreiben kann. Ein eigener, aber kein eigenwilliger, sondern in seiner Mehrdeutigkeit überzeugender Roman von Moshfegh.

Übersetzt aus dem Englischen von Anke Caroline Burger.

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Veröffentlicht am 13.07.2023

Ein Roman wie ein Kammerspiel

Der Vertraute der Königin
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Schottland, Mitte des 16. Jahrhunderts. Ein Tennismatch zwischen Lord Darnley und David Rizzio. Erster ist mit Mary Queen of Scots verheiratet, Rizzio ist ihr Freund und Berater. Eine Intrige ist im Gange: ...

Schottland, Mitte des 16. Jahrhunderts. Ein Tennismatch zwischen Lord Darnley und David Rizzio. Erster ist mit Mary Queen of Scots verheiratet, Rizzio ist ihr Freund und Berater. Eine Intrige ist im Gange: Rizzio soll umgebracht werden, die schwangere Queen soll vor Schock und Trauer eine Fehlgeburt haben und am besten selbst sterben. Darnley wäre dann König.

Das alles erfährt man bereits in den ersten paar Sätzen des Romans. Und mehr sollte auch eigentlich gar nicht gesagt werden. Denn nach diesen ersten Sätzen entfaltet sich ein Netz an Intrigen, in das fast alle Figuren des Romans verwickelt sind.

Die intriganten Männer sind überzeugt, sie hätten alles unter Kontrolle, doch ganz allmählich merken sie, dass jeder von ihnen eigene Pläne verfolgt und dass keiner von ihnen das Geschehen wirklich kontrolliert.

Ich habe den Roman wie ein Kammerspiel wahrgenommen. Man stellt ihn sich sehr bühnenhaft vor. Das liegt sicherlich daran, dass er sich aus mehreren Szenen zusammensetzt, einen sehr theatralen Handlungsbogen hat und durch seine Figuren und Motive shakespearisch anmutet: Religion als Vorwand, um die Macht an sich zu reißen und Männer, die vor keinem Hinterhalt zurückschrecken und für ihre Interessen über Leichen gehen. Sogar über die ihrer eigenen Söhne.

Der Roman ist kein ausladender historischer Roman, sondern konzentriert sich auf einen konkreten Moment in der Geschichte. Er ist spannend erzählt und trotz seiner Kürze nicht oberflächlich. Insgesamt habe ich ihn als kurzweilige Lektüre empfunden. Für alle, die schon länger mal wieder was von Shakespeare im Theater sehen wollen/sollten 😊 (natürlich nicht seine Komödien) ist es genau das Richtige.

Übersetzt aus dem Englischen von Werner Löcher-Lawrence.

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Veröffentlicht am 14.05.2023

Aus dem Leben eines japanischen Teenagers

Idol in Flammen
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Akari lebt und atmet für ihr Idol, den Sänger Masaki Ueno. Sie sammelt alle Bilder und Informationen, die sie über ihn finden kann, schreibt in ihrer Freizeit einen Blog und ist überzeugt davon, sein Verhalten ...

Akari lebt und atmet für ihr Idol, den Sänger Masaki Ueno. Sie sammelt alle Bilder und Informationen, die sie über ihn finden kann, schreibt in ihrer Freizeit einen Blog und ist überzeugt davon, sein Verhalten in- und auswendig zu kennen.

Es ist die totale Idealisierung eines Menschen, die jedoch einen Riss erhält, als Masaki angeblich einen Fan geschlagen haben soll.

Der Roman liefert einen speziellen Einblick in das Leben eines Teenagers. Alles dreht sich bei Akari um ihr Idol, all ihre Zeit sowie ihre gedankliche und körperliche Kraft verwendet sie auf die Beschäftigung mit ihm. Es ist sicherlich keine Übertreibung, wenn man behauptet, dass sie wie besessen von seiner Person ist.

Ihr Verhalten wirkt befremdlich, zumindest auf all die Leser*innen, die in ihrer eigenen Jugend keine Idole hatte, keine Stars angehimmelt haben. Aber gleichzeitig kann man sich bis zu einem gewissen Grad zumindest in diese Mädchen hineinfühlen, das versucht, in ihrem Dasein als Fan einen Halt und vor allem Sinn zu finden. Ihre Hingabe für ihr Idol ist identitätsstiftend.

All das erzählt Rin Usami auf eigentlich überzeugende Weise. Nur manchmal würde man sich wünschen, es würde noch tiefer gehen und auch das Ende wirkt etwas abrupt.

Davon abgesehen ist der Roman eine kurzweilige Lektüre.

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