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Veröffentlicht am 15.03.2023

Tiefsinnig, komisch, melancholisch

Der heilige King Kong
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James McBrides Roman "Der heilige King Kong" nimmt den Leser mit ins Brooklyn des Jahres 1969 und erzählt von strukturellem Rassismus, Kriminalität und sozialer Ungerechtigkeit.

Der Protagonist der Geschichte ...

James McBrides Roman "Der heilige King Kong" nimmt den Leser mit ins Brooklyn des Jahres 1969 und erzählt von strukturellem Rassismus, Kriminalität und sozialer Ungerechtigkeit.

Der Protagonist der Geschichte ist Sportcoat, Bewohner einer New Yorker Sozialsiedlung, ehemaliger Baseballtrainer, Deakon der Five Ends Baptist Church, handwerklich begabt und verwitwet. Sportcoat trinkt gerne und viel, insbesondere den von seinem Freund gebrauten Schnaps, der von allen King Kong genannt wird. Eines Tages dann schießt Sportcoat plötzlich auf Deems, einen neunzehnjährigen Drogendealer, den Sportcoat in der Sonntagsschule unterrichtet und im Baseball trainiert hatte. Niemand weiß, wieso und Sportcoat selbst behauptet standhaft, er könne sich an nichts erinnern.

McBride entlarvt mit diesem Roman den American Dream als Farce, indem er über diejenigen schreibt, deren Leben durch gesellschaftliche Strukturen und soziale Ungerechtigkeit, durch die Familiensituation, die Hautfarbe, Gewalterfahrungen, Drogen und Alkohol schon vorbestimmt sind. Über diejenigen, die jeglicher Möglichkeiten, Träume, Hoffnung und Perspektiven beraubt werden, die sich nicht von dem ihnen zugewiesenen Platz befreien können, die sowieso “früher oder später im Knast” landen.

Doch trotz dieses schweren Themas wirkt die Geschichte nicht erdrückend. Denn McBride versteht es, das Düstere und die Melancholie nie Überhand gewinnen zu lassen. Momente der Hoffnung und der Glaube an das Gute durchziehen den Roman. Der Zusammenhalt unter den Siedlungsbewohnern steht stellvertretend dafür. Der Autor findet ein gekonntes Gleichgewicht zwischen Schwere und Leichtigkeit und sogar einige Slapstick-Einlagen lassen das Erzählte dabei nie ins Lächerliche abrutschen, sondern tragen dazu bei, dass die Trostlosigkeit auszuhalten ist.

Der Roman ist tiefsinnig, komisch, teils melancholisch, doch immer hoffnungsvoll und verspricht mit seiner Vielschichtigkeit, Farbenvielfalt und mit seinen schrägen Charakteren ein unvergessliches Leseerlebnis.

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Veröffentlicht am 15.03.2023

Ein Roman über die Kunstwelt

Blütenschatten
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Annalena McAfee hat mit Blütenschatten einen Roman geschrieben, der von Verrat, Zerrissenheit und Einsamkeit erzählt und die Kunstwelt unter die Lupe nimmt.

Der Roman beginnt mit einem Bruch. Der Bruch ...

Annalena McAfee hat mit Blütenschatten einen Roman geschrieben, der von Verrat, Zerrissenheit und Einsamkeit erzählt und die Kunstwelt unter die Lupe nimmt.

Der Roman beginnt mit einem Bruch. Der Bruch Eves mit ihrem alten Leben. Sie sieht ihren Mann mit seiner neuen Partnerin in ihrem alten Haus sitzen. Es ist Nacht, Winter. Eve verlässt die Szene und macht sich auf den Weg zu ihrem Atelier. Auf diesem nächtlichen Spaziergang wird sie in Vergangenem schwelgen, wird sich der prägenden Ereignisse ihres Lebens und insbesondere der vergangenen Monate erinnern. Monate, die in einem letzten, alles überragenden Gemälde enden…

Eve ist als Protagonistin und als bewusstseinsgebende Instanz dieser Geschichte eine schwierige Figur. Sie steht in einem ständigen Spannungsverhältnis zu ihrer Umwelt, wird von Gefühlen der Einsamkeit geplagt, will sich von ihrem alten Leben losreißen, verliert sich völlig in der Beziehung zu ihrem jungen Liebhaber und sieht die Welt wie durch einen Filter, dessen Grenzen ihre überbordenden Gefühle sind.

Was dem Roman Charakter und Tiefe verleiht, ist jedoch nicht nur die Geschichte seiner Protagonistin, sondern die Kritik an der Kunstwelt, die leitmotivisch ist. Frauen, das macht der Roman deutlich, haben es in der Welt der Kunst besonders schwer, denn Erfolg und Anerkennung sind männlichen Künstlern vorbehalten. Künstlerinnen können Musen sein, dürfen höchstens Dekoratives malen oder müssen sich, wie Wanda, Eves ehemalige Freundin, in extremen Formen der Selbstdarstellung verlieren. Wandas Performance-Kunst steht im totalen Gegensatz zu Eves naturgetreuen und auf Nachahmung beruhenden Pflanzenbildern. Wanda versteht es, die Erwartungen des Kunstmarkts zu befriedigen, während hinter Eves Kunst Absicht, Leidenschaft und Überzeugung stehen. Ihr neues Projekt, Poison Florilegium, soll “ein Akt der Wiedergutmachung für all die unsichtbaren Frauen in der Botanik und der Kunst sein”. Trotzdem wird ihre Kunst von Kritikern als “höchstens geeignet für Kinderbücher, Kurzwaren und die Geschenkpapierindustrie” abgetan.

McAfee schreibt gekonnt. Die zahlreichen Bezüge zu Gemälden geben der Erzählung etwas Malerisches. Sie lassen manche Szenen herausstechen, brechen wie große Bilder hervor, während andere - insbesondere Eves Spaziergang - wie Skizzen dahinfließen. Die Atmosphäre des Romans ist dicht, greifbar und führt besonders im letzten Teil dazu, dass die Geschichte einen Sog entwickelt, der den Leser mit sich reißt.

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Veröffentlicht am 15.03.2023

Für alle Frida Kahlo-Fans

Das Leben ist ein Fest
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Rien n’est noir heißt Claire Berests Roman über das Leben und Schaffen Frida Kahlos im Original. Nichts ist schwarz. Und es ist auch nichts schwarz in dieser Geschichte, die den Leser schon gleich zu Beginn ...

Rien n’est noir heißt Claire Berests Roman über das Leben und Schaffen Frida Kahlos im Original. Nichts ist schwarz. Und es ist auch nichts schwarz in dieser Geschichte, die den Leser schon gleich zu Beginn in ein rauschhaftes Fest hineinwirft. Es sind die mexikanischen Künstler und Schriftsteller der 1920er Jahre, die sich dort an Tanz, Musik und Alkohol berauschen und mittendrin: Frida. Unser Anker, unser Mittelpunkt. Die Figur, die wir begleiten werden, mit der wir mitfühlen werden und deren Gefühle, die häufig ins Extreme ausufern, wir manchmal nicht werden nachvollziehen können.

Das Leben ist ein Fest ist eine Zeitreise, ist Lebens- und Liebesgeschichte, Künstlerbiographie und das Zeugnis einer Umbruchszeit. Fridas Leben, so scheint es, wird ständig von Veränderungen bestimmt. Sie hat mit den Folgen eines schweren Unfalls zu kämpfen, muss Träume aufgeben, Neuanfänge wagen, muss Schmerzen, Eifersucht, Verlust und Trennungen ertragen. Umbrüche finden auch auf politischer Ebene statt und führen dazu, dass Frida und Diego Rivera Mexiko für längere Zeit verlassen. In der Kunst drücken sich Umbrüche dadurch aus, dass sie weniger elitär wird und für ein breites Publikum zugänglich wird.

Claire Berest hat eine Sprache gefunden, die mitreißt, die oft atemlos und voller Energie ist und die gleichzeitig Fridas Schmerz und ihren emotionalen Extremen gerecht wird. Es sind die Farben ihrer Gemälde, ihrer Kleidung und ihres Schmucks, die hier auf die Seiten überspringen und die den Roman in Kapitel unterteilen. Schwarz ist nur Fridas Tod. Alles andere ist Blau wie der Horizont, die Zukunft, die verlorenen Träume, der Neuanfang. Oder Rot wie das Blut, die Fehlgeburt, wie die Liebe, die Leidenschaft und die Wut. Und schließlich Gelb wie die Sonne, die Hoffnung und Freude, wie Krankheit und Wahnsinn.

Für alle Frida Kahlo Fans oder für die, die es noch werden wollen, ist dieser Roman ein Fest. Er stellt die starke, beeindruckende und schillernde Persönlichkeit Frida Kahlos auf eindrucksvolle Weise dar und scheut sich nicht davor auch die dunklen Momente und die Tiefen ihres Lebens zu beleuchten.

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Veröffentlicht am 15.03.2023

Wichtiges Thema!

Räuber
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Olli Leber wohnt mit seiner arbeitslosen Mutter in einer Sozialwohnung am Rand von Berlin. Die Familie hat eine Reihe von Schicksalsschlägen hinter sich. Sie wurden ein ums andere Mal aus ihren Wohnungen ...

Olli Leber wohnt mit seiner arbeitslosen Mutter in einer Sozialwohnung am Rand von Berlin. Die Familie hat eine Reihe von Schicksalsschlägen hinter sich. Sie wurden ein ums andere Mal aus ihren Wohnungen verdrängt, der Vater hatte einen schweren Arbeitsunfall, an dessen Folgen er gestorben ist und Olli musste seine Ausbildung abbrechen, um für sich und seine Mutter sorgen zu können. Nun soll auch noch ihre Wohnsiedlung an eine Wohnungsbaugesellschaft verkauft werden, doch Olli will nicht wieder vertrieben werden. Als er erfährt, dass es ein Vorkaufsrecht für Mieter gibt, beginnt er, sich zu wehren.

Man könnte der Autorin vorwerfen, dass manche Wendungen und Zufälle in der Handlung und manche Verknüpfungen unter den Charakteren zu konstruiert wirken und sehr zielführend sind. Allerdings hatte ich nie das Gefühl, dass diese Konstruiertheit die Aussagen des Romans in den Hintergrund rückt. Ganz im Gegenteil ist es Ladipo mit diesem Roman gelungen, eines der wichtigsten und drängendsten gesellschaftspolitischen Probleme unserer Zeit in seiner Vielschichtigkeit zu erfassen: die Gentrifizierung. Durch drei Handlungsstränge treten Stimmen und Personen aus unterschiedlichen Gesellschaftsschichten in die Handlung ein: Da ist Olli, der Bauarbeiter, der sich und seine Mutter gerade so über Wasser hält und dessen Leben von Chancenlosigkeit geprägt ist. Dann ist da Amelie, eine Journalistin und junge Mutter, die sich Vorwürfe macht, weil sie das Problem der Verdrängung als Journalistin ernster hätte nehmen müssen. Und schließlich Falk Hagen, der Ex-Finanzsenator von Berlin, der systematisch Sozialwohnungen an Fonds und Banken verkauft hat.

Neben der Gentrifizierung kommen auch andere Aspekte zur Sprache, wie z.B. die Ohnmacht derjenigen, die sich nicht zu wehren wissen gegen ein System, hinter dem Anwälte, Politik und Kapital stehen. Oder die soziale Unterdrückung und Hierarchisierung, die durch Sprache hergestellt werden und schließlich die körperlich schwere und gefährliche Arbeit der Bauarbeiter, die Wohnungen bauen und sanieren, die sie sich selbst niemals werden leisten können und die ihre eigene Verdrängung bedeuten.

Mit ihrer Zeitkritik sichert sich Eva Ladipo einen Platz unter einer Gruppe von zeitgenössischen deutschen Autorinnen, zu der z.B. auch Anke Stelling, Silke Scheuermann und Iris Hanika gehören, in deren Werken der Leser mit gesellschaftlichen Missständen konfrontiert wird.

Räuber ist ein lesenswerter Roman, der denjenigen eine literarische Stimme verleiht, für die Wohnen mit Unsicherheit verbunden ist.

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Veröffentlicht am 15.03.2023

Zeit- und Gesellschaftsportrait

Ein fliehendes Pferd
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Walser lässt in seiner Novelle zwei Ehepaare auftreten, die sich zufällig im Urlaub am Bodensee begegnen. Helmut und Klaus sind ehemalige Schulkameraden und haben sich seit Jahren nicht mehr gesehen. In ...

Walser lässt in seiner Novelle zwei Ehepaare auftreten, die sich zufällig im Urlaub am Bodensee begegnen. Helmut und Klaus sind ehemalige Schulkameraden und haben sich seit Jahren nicht mehr gesehen. In der Schulzeit noch Freunde, könnten sie nun kaum unterschiedlicher sein. Während Helmut introvertiert ist und sich gerne zurückzieht, ist Klaus aufdringlich und voller Energie. Gegen den Willen von Helmut und durch Klaus’ Initiative beginnen die beiden Paare Zeit miteinander zu verbringen.

Im Laufe der Erzählung fangen jedoch die Fassaden zu bröckeln an, Masken fallen und Rollen, die man sich gegenseitig vorgespielt hat, werden als solche entlarvt. Walser gelingt es meisterhaft, menschliche Beziehungen mit all ihren Verlogenheiten bloßzulegen. Er erzählt von gesellschaftlichen Erwartungen, die uns davon abhalten, wir selbst zu sein.

Die Novelle ist ein Zeit- und Gesellschaftsportrait, das durch seine Klarheit und sprachliche Virtuosität hervorsticht.

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