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Veröffentlicht am 06.04.2024

„Man nennt mich Jim“

James
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Die Abenteuer des Huckleberry Finn, die erstmals 1864 erschienen sind, hat Percival Everett neu interpretiert. Dabei gibt er einen tiefen Einblick in die Sklaverei der Südstaaten Amerikas im 19. Jahrhundert, ...

Die Abenteuer des Huckleberry Finn, die erstmals 1864 erschienen sind, hat Percival Everett neu interpretiert. Dabei gibt er einen tiefen Einblick in die Sklaverei der Südstaaten Amerikas im 19. Jahrhundert, die an Brutalität nicht zu überbieten war. Das alles wird hier aus James Perspektive erzählt, beginnend mit Huck und Tom, den weißen Jungs, denen es Spaß macht, mit den Sklaven ihren Schabernack zu treiben. Und die Sklaven müssen mitmachen, sie stellen sich dumm, obwohl so mancher klüger ist als die Weißen. James zumindest ist es. Er ist intelligent und sehr belesen, er schreibt – wie ich es später lese - mit einem Bleistiftstummel sein Dasein auf. Diesen Bleistiftstummel hat ihm ein anderer Sklave beschafft, dieser wurde erwischt und aufs Härteste bestraft.

Wer kennt sie nicht, die Abenteuer des Huckleberry Finn. Auch wenn es schon eine ganze Weile her ist, so war es ein Buch meiner Kindheit. Gut, meine Erinnerungen sind weitgehend verblasst und doch sind sie mir dank „James“ wieder allgegenwärtig, denn nach dem Lesen wollte ich mit der Original-Geschichte aus Hucks Sicht meinem Gedächtnis auf die Sprünge helfen.

Nun aber zu „James“, dem Sklaven, der Jim genannt wird. Er ist mit Frau und Kind einer von Mrs. Watsons Sklaven. Und natürlich hat ein Sklave dumm zu sein, auch wenn so mancher intelligenter als die Weißen ist, so drückt schon der Slang der Schwarzen ihre Beschränktheit aus. Diese Sklavensprache dient ihnen auch als Schutzwall, denn wer so redet, kann in der Vorstellung der überlegenen Weißen nicht allzu viel Grips haben. Parcival Everett hat eine eigene, grammatisch falsche Sprache mit einer verwaschenen Aussprache verwendet. Auch die deutsche Übersetzung von Nikolaus Stingl, die ich hier lese, finde ich sehr gelungen. Das Einfinden in diesen ganz speziellen Dialekt ist mir leicht gefallen, dieser Slang gehört hier zu den Sklaven, zu James, zu Jim.

Als Jim erfährt, dass Mrs. Watson ihn verkaufen will, flüchtet er auf eine nahe gelegene Insel mit dem Vorsatz, sobald er in Sicherheit ist und Geld hat, seine Familie nachzuholen. Er will weiter gen Norden, weg von der Sklaverei des Südens. Auch Huck muss verschwinden, denn sein gewalttätiger Vater ist wieder aufgetaucht, es kommt zwischen den beiden zur Rangelei, Huck nimmt Reißaus, ladet auf der Insel und trifft hier auf Jim. Ihre abenteuerliche Reise auf dem Mississippi beginnt.

Ihre Flucht mit einem Boot und einem selbstgebauten Floß ist ein gar tollkühnes Unterfangen, sie begegnen allerlei seltsamen Typen und nicht nur einmal soll Jim verkauft werden. Der Rassismus jener Zeit ist allgegenwärtig, die Denkweise und vor allem die schweren Misshandlungen, die Brutalität der weißen Herrschaften den Schwarzen gegenüber ist kaum auszuhalten. Ein Schwarzer gilt nicht als Mensch, er ist Besitz, mit dem man machen kann, was immer man will.

Parcivat Everett lässt Jim träumen, von John Locke etwa, den Philosophen und Vordenker der Aufklärung, mit dem er im Traum Zwiesprache hält. Auch begegnet Jim den Virginia Minstrels, einer Gruppe von Weißen, die in Blackface einen Schwarzen mimen, sich schwarz anmalen. Es sind aber auch ganz furchbare Szenen von brutalster, blutiger Sklavenhaltung bis hin zu deren gewaltsamen Tod zu verkraften, barbarisch und unerbittlich von den Sklavenhaltern ausgeführt. Die ganze Brutalität und Skrupellosigkeit der Sklaverei der amerikanischen Südstaaten des 19. Jahrhunderts zeigt Everett aus „James“ Perspektive. Diese andere Sicht, die Sicht eines Insiders sozusagen auf die Sklavenhaltung, hätte durchaus schief gehen können. Ist es aber beileibe nicht, es ist ein grandioses Werk geworden, eine unterhaltsame Neuinterpretierung von Mark Twains Klassiker, der einen tiefen Einblick in den Rassismus gewährt. Ein Buch, das nachdenklich macht. Ein Buch, das ich nicht missen möchte.

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Veröffentlicht am 03.04.2024

Zwischen Sizilien und München – drei Lebenswege

Die Frauen der Familie Carbonaro
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„Nice to meet you.“ Vera und Elvis - die Schauspielerin und Elvis eben – das gibt’s doch nicht! Ziemlich verkatert sitzen sie an Marias Küchentisch, Toni und Peppe haben sie nach einer langen Nacht hierher ...

„Nice to meet you.“ Vera und Elvis - die Schauspielerin und Elvis eben – das gibt’s doch nicht! Ziemlich verkatert sitzen sie an Marias Küchentisch, Toni und Peppe haben sie nach einer langen Nacht hierher geschleppt. Nachdem der caffè ihn auch nicht gerade fitter und wacher gemacht hat, bringt ihn der Saft der Blutorangen wieder auf die Beine. Und Maria war auf einmal klar, wie sie das sonnige Sizilien hierher, nach München, bringen kann. Ihre Geschäftsidee war geboren. Wir sind hier der Familiensaga etwas vorausgeeilt, dies war Ende der 1950er Jahre, aber nun von Anfang an.

„Die Frauen der Familie Carbonaro“, das zweite Buch um diese sizilianische Familie, ist ausgelesen. Hier geht es hauptsächlich um drei Frauengenerationen, um Pina, Anna und Maria. „Terra di Sicilia“, das Vorgängerbuch, erzählt die Lebensgeschichte des Barnaba Carbonaro, des Sizilianers, der von ganz unten angefangen hat, alles über die Zitrusfrüchte gelernt und sich mit dem Export nach Deutschland ein gutes Auskommen verschafft hat. Und nun sind es die Frauen, von denen ich abwechselnd lese. 1896 geht es los mit Pina, Barnabas blutjunger Ehefrau. Gefolgt von Anna, die sich in Nino verguckt hat. Er ist Pinas Sohn, er ist Schneider mit Leib und Seele und muss doch mit Barnaba mit nach München in die Großmarkthalle, seine Anna folgt ihm Jahre später. Wäre da noch Maria, geboren mit der Glückshaut und deshalb heißt sie eigentlich Pancrazia - wie alle Mädchen, die damit geboren werden. Sie hasst diesen Namen, alle nennen sie Maria.

Von diesen drei Frauen und von denen um sie herum erzählt Mario Giordano. Es ist so viel mehr als nur eine Familiengeschichte, das Buch bringt mir ein Stück Sizilien näher. Neben den Zitrusfrüchten geht es um Liebe und Hass, um Eifersucht und um den allgegenwärtigen Aberglauben. Die Patruneddi di casa, die Hausgeister, leben mit ihnen. Die Frauen werfen zwei Schatten, auch wenn nicht jeder diese sehen kann – Sizilien ohne dieses Mystische ist nicht denkbar. Pina, die Urgroßmutter des Erzählers, scheint eine vom Leben gezeichnete, harte Frau gewesen zu sein. Da ihr Barnaba meist abwesend war, musste sie die Familie auf Sizilien irgendwie durchbringen. Das Leben hatte für sie alles zu bieten – Unglück und zuweilen auch ein Stückchen Glück, Niederlagen wegstecken, immer wieder aufs Neue hoffen und irgendwie weitermachen und neben den familiären Tragödien spielen auch die Mafia und der Krieg eine nicht zu unterschätzende Rolle.

Die Episoden um Pina, Anna und Maria wechseln sich ab, jede ist übertitelt mit dem jeweiligen Namen, dem Ort und des Jahres oder der Jahre, von denen die Geschichten gerade handeln. Anfangs war ich irritiert über diesen Aufbau, musste gelegentlich zurückblättern, bald jedoch hatte ich diesen Erzählstil verinnerlicht. Hilfreich waren der vorangestellte Stammbaum der Familie über drei Generationen sowie das Glossar am Ende des Buches. Neben den titelgebenden Carbonaro-Frauen ist viel Historisches mit eingeflossen sowohl in Italien als auch in Deutschland. Das immer noch vorherrschende Patriarchat hier und die Gräueltaten der Nationalsozialisten dort. Später dann die Nachkriegsjahre bis hin zu den 1970ern. Es war eine schlimme, eine finstere Zeit, es herrschte aber auch Helligkeit und Lebensfreude. Ein Kaleidoskop, vollgepackt mit Leben.

Der Roman gewährt einen tiefen Einblick in die Familie über einen Zeitraum von etwas mehr als siebzig Jahren. Der Wandel der Gesellschaft ist unübersehbar, auch die Welt der Carbonaros dreht sich weiter. Gerne bin ich ihnen gefolgt und habe mit ihnen ein anderes Sizilien kennengelernt, ein Sizilien, das nicht nur eitel Sonnenschein war.

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Veröffentlicht am 28.03.2024

Realsatire vom Feinsten

Geheimnisse, Lügen und andere Währungen
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„Der studierte Psychologe mit seinem dezenten Wiener Schmäh“ war Kommunikationschef im deutschen Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur. Wolfgang Ainetter ist hier gemeint, er hat auf ...

„Der studierte Psychologe mit seinem dezenten Wiener Schmäh“ war Kommunikationschef im deutschen Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur. Wolfgang Ainetter ist hier gemeint, er hat auf gar amüsante Weise einen Ministeriums-Krimi geschrieben, der es in sich hat. Denn all das, was er auf so gut lesbare Art zu Besten gibt, birgt viel Wahrheit in sich. Sein Protagonist Hans-Joachim Lörr ist einer, der er sich auf Kosten der Steuerzahler gut gehen lässt.

Kurz vor seiner Pensionierung wird dieser Lörr entführt. Seine Ehefrau merkt dies erst sehr viel später, schließlich sind sie in einem noblen Restaurant zu Gast, die edlen und für das Ehepaar natürlich kostenlosen Speisen und Getränke müssen allesamt weggefuttert werden. Die Lörrs werden so schön überspitzt dargestellt, das Bild des gierigen Beamten ist bestens gezeichnet. Nun, das Entführungsopfer muss gefunden werden. Zuständig dafür ist der Kommissar André Heidergott, den es der Liebe wegen von Wien nach Berlin, direkt hinein ins Regierungsviertel, verschlagen hat. Leider ist ihm die Frau abhanden gekommen, der leiwande Wiener sitzt nun allein inmitten der Mächtigen.

Die Ermittlungsarbeit schreitet etwas zäh voran, auch weiß man als Leser, dass dieser Fiesling sich nicht einfach aus dem Staub gemacht hat, er wurde tatsächlich entführt. Wer denn dafür verantwortlich ist, bleibt lange im Verborgenen. Feinde hat er sich genug geschaffen, er hat seine Macht regelrecht zelebriert, hat seine Intrigen gesponnen und war sich stets selbst der Nächste. Und nun sitzt er da, eingesperrt im Nirgendwo.

Daneben und hauptsächlich ist es ein politisches Buch, das von A bis Z – von Adenauer bis Zypries und von all denjenigen dazwischen erzählt, von den damaligen und den heutigen Politikern. Da ist etwa der Bundesfiasko-Minister, den ich hier herauspicke, der hier als Felix Rohr unterwegs ist. Die Affäre um die PKW-Maut hat lange für Schlagzeilen gesorgt, wir wissen es alle.

Das Register der Eitelkeiten, das im Buch auf den letzten Seiten zu finden ist, zeigt all die bekannten Persönlichkeiten, die Wichtigen und diejenigen, die sich als wichtig erachten. Allesamt finden sie auf den 300 Seiten dieses Krimis ihren Platz und nicht nur das, der ein oder andere bekommt auch sein Fett weg, wie man so schön sagt. Es sind wohlbekannte Szenen und Anekdoten aus dem politischen Alltag, die verschmitzt und augenzwinkernd mit einer gehörigen Prise bissigem Humor wiedergegeben werden.

Wolfgang Ainetter lässt tief blicken. Er kennt sie alle, diese Machthungrigen. Mit Witz und Charme und seinem unverkennbaren Wiener Schmäh führt er durch das Berliner Regierungsviertel und auch wenn er so mache Gestalt inkognito auftreten lässt, so weiß man doch, wer denn hier gemeint ist. Seine „Geheimnisse, Lügen und andere Währungen“ haben Biss, sprühen nur so vor Wortwitz, sie sind Lesegenuss pur. Der Autor hat mich bestens unterhalten und mir so manches Schmunzeln ins Gesicht gezaubert.

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Veröffentlicht am 28.03.2024

Familienfehde

Ostseefinsternis
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Pia Korittkis neunzehnter Fall unterbricht ihren langersehnten Urlaub mit ihrem Sohn Felix, den sie mit Marten in seinem neuen Haus an der Ostsee verbringen. Nun gut, Marten verbringt gerne Zeit mit dem ...

Pia Korittkis neunzehnter Fall unterbricht ihren langersehnten Urlaub mit ihrem Sohn Felix, den sie mit Marten in seinem neuen Haus an der Ostsee verbringen. Nun gut, Marten verbringt gerne Zeit mit dem Siebenjährigen und da Pia noch ganz am Anfang dieses immer komplexer werdenden Falles ist, begleitet Marten Felix zum Schwimmunterricht, den er für sein Schwimmabzeichen braucht, auch unternehmen die beiden vieles miteinander, sie sind gut drauf und haben ihren Spaß. Diesbezüglich muss sich also Pia keine Sorgen machen, wenn da nicht in ihrem neuesten Fall die Zwillinge eines Verdächtigen auch im Hallenbad wären.

Stella Böttcher ist nach ihrer Schicht in einem Lokal spät nachts auf dem Heimweg, als sie überfallen und brutal zusammengeschlagen wird. Nach ihrem Blackout erinnert sie sich an einen großen Typen, der mit einem harten Gegenstand auf sie eingedroschen hat. Kurz darauf wird die Leiche eines jungen Mannes an den Klippen gefunden – war es ein Unglücksfall? Ein Racheakt? Heimtückischer Mord oder gar Suizid? Und - haben die beiden Verbrechen miteinander zu tun? Pia und ihr Team finden schnell heraus, dass es im Ort zwei weit verzweigte Familien gibt, die sich seit Urzeiten bekriegen. Sie stehen vor einer Mauer des Schweigens und der Lügen, die Ermittlungen gestalten sich dementsprechend schwierig.

Neben der aufwendigen Polizeiarbeit haben Pia und ihr Partner Broders schon auch ein Privatleben, wenngleich dies momentan viel zu kurz kommt - ihre privaten Momente blitzen aber doch immer mal wieder durch. Wer die Pia-Korittki-Reihe verfolgt, weiß um ihre Entwicklung, jedoch kommen auch Neueinsteiger gut zurecht, jedes Buch ist in sich abgeschlossen.

Eva Almstädt lässt ihre Leser lange im Dunkeln, sie legt viele Fährten aus, jede einzelne könnte zur Aufklärung beitragen und doch bleiben Zweifel. Eine alte Familienfehde spaltet den Ort in zwei Lager und selbst innerhalb jeder dieser Familien ist längst nicht alles eitel Sonnenschein. Die fiesen Charaktere sind gefühlt in der Überzahl, aber auch den anderen, denen man nichts Schlechtes nachsagen möchte, ist nicht ganz über den Weg zu trauen. In all den Lügen und Intrigen ist viel Hass zu spüren. Den alten Feindschaften kommen neue hinzu, die Dorfgemeinschaft grenzt aus, es wird vorverurteilt und den Ermittlern gegenüber dann geschwiegen.

Zwischendrin hatte „Ostseefinsternis“ einige Längen, Pia kam gefühlt nicht vorwärts. Diese akribische Kleinarbeit hätte ich mir so ab und an etwas weniger detailliert gewünscht und doch wollte ich unbedingt wissen, wer denn für den Mord und auch den Überfall vorher und für noch so manche Straftat verantwortlich ist. Letztendlich hatte Pia den richtigen Riecher, der Schluss war nochmal so richtig spannungsgeladen und nervenaufreibend. Pia kann nun ihren wohlverdienten Urlaub fortsetzen und Kräfte sammeln für ihren nächsten Fall, den ich unbedingt wieder lesen will.

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Veröffentlicht am 28.03.2024

Einfühlsam erzählt

Wären wir Vögel am Himmel
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Erin Litteken erzählt hier ihre Familiengeschichte. Eine Geschichte, in der Fiktion und Wirklichkeit ineinander fließen, die zum größten Teil von der ukrainischen Seite ihrer Familie handelt. Diese stammt ...

Erin Litteken erzählt hier ihre Familiengeschichte. Eine Geschichte, in der Fiktion und Wirklichkeit ineinander fließen, die zum größten Teil von der ukrainischen Seite ihrer Familie handelt. Diese stammt aus der historischen Region Wolhynien im einstigen Ostpolen, der heutigen West-Ukraine. Inspiriert wurde sie ganz besonders von ihrer Urgroßmutter, die ums Überleben ihrer Familie gekämpft hat, die so viel Schreckliches gesehen hat und von so vielem loslassen musste.

Kaum waren die Sowjets 1941 auf dem Rückzug, kamen die Deutschen und wie sie bald feststellen mussten, waren die Nazis um keinen Deut besser. Sie wollten das Land, die Bevölkerung wurde verschleppt und als Ostarbeiter zwangsverpflichtet. Dabei war es ihnen egal, wie viele diese Knochenarbeit überlebten, denn Nachschub war im Anmarsch. Einmal in deren Fängen, gab es kein Entkommen und sollte es doch einer gewagt haben zu fliehen, wurden sie kaltblütig niedergemetzelt oder aber in eines der Vernichtungslager interniert.

„Wären wir Vögel am Himmel“ erzählt von Lilja, von ihrem Cousin Slavko und der anfangs zwölfjährigen Halya. Von Vika und Maksim und ihren Kindern, von Filip, der aus Polen stammt und von einigen mehr. Sie alle müssen ihre Heimat aufgeben, ganze Dörfer werden dem Erdboden gleichgemacht. So mancher schließt sich dem ukrainischen Wiederstand (der UPA) an, nicht jeder hat seinen Heldenmut überlebt.

Es ist ein erschütterndes Zeugnis einer Zeit, in der ein geschundenes Volk ums Überleben kämpft. Schon Erin Littekens Debütroman „Denk ich an Kiew“ greift die Geschichte der Ukraine auf und nun legt sie mit ihrem neuen Roman nach und wieder spielt die Wirklichkeit mit hinein. „Wären wir Vögel am Himmel“ ist im und nach dem Zweiten Weltkrieg angesiedelt, die Autorin dringt tief ein in die Flucht- und die Hungerjahre sommers wie winters, schildert die Bombardierung der Städte, die dadurch entstandenen Brände mitsamt den dort eingeschlossenen Menschen – viele davon konnten sich aus diesem Inferno nicht retten.

Ich lese von ihrer Flucht, kann mir diesen nagenden Hunger in seiner Gänze gar nicht vorstellen, durchlebe die unmenschliche Behandlung - als Untermenschen werden sie bezeichnet und sollten sie auch nur mit der Wimper zucken, werden sie brutalst misshandelt. Das nicht endend wollende Grauen ist schwer zu ertragen und doch sauge ich alles in mich auf, lese aus verschiedenen Perspektiven ihren Kampf nicht nur ums Überleben. Auch sind sie auf der Suche nach ihren Lieben, nach ihrer Familie, die sie irgendwann aus den Augen verloren haben.

Im sehr lesenswerten Nachwort dann schildert die Autorin die Geschichte der Ukraine in der Zeit, in der dieser Roman angesiedelt ist. Es waren schlimme Jahre und so mancher wählte den Freitod, um nicht den Feinden in die Hände zu fallen. Das hier beschriebene Schicksal ihrer Familie ist fiktional, jedoch spielen viele tatsächlichen Begebenheiten mit hinein.

Und wieder ist es ein russischer Aggressor, der seinen Angriffskrieg gegen die Ukraine gnadenlos durchzieht. Und wieder ist ein Frieden für dieses leidgeprüfte Volk in weiter Ferne. Die Geschichte wiederholt sich, wir hören und sehen es täglich.

Der Roman schildert eine Zeit voller Hoffnungslosigkeit und doch spürt man die Kraft, trotz all dieser Gräueltaten die Hoffnung nicht ganz zu verlieren. Es ist eine einfühlsam erzählte Geschichte, die lange nachhallt, die ich jedem Geschichtsinteressierten empfehlen kann.

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