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Veröffentlicht am 14.01.2025

Ganz einfach herzerwärmend

Das Fest
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Jakob wird fünfzig und will nicht feiern. Ellen ist die, die andere zum Glück zwingt. Seit drei Jahrzehnten kennen sie sich, sind viel zusammen verreist, waren verliebt ineinander, aber nie zur gleichen ...

Jakob wird fünfzig und will nicht feiern. Ellen ist die, die andere zum Glück zwingt. Seit drei Jahrzehnten kennen sie sich, sind viel zusammen verreist, waren verliebt ineinander, aber nie zur gleichen Zeit. Sie hat alles dabei Kuchen, Kerzen und Champagner, doch zuerst muss sie ihn aus der Wohnung kriegen.

Jakob hat eine Auszeit genommen, um sich zu sammeln und zu schauen, ob der Weg, den er eingeschlagen hat, noch seiner ist. Die meiste Zeit allerdings liegt er auf der Couch und spricht mit sich selbst.

Es ist Anfang September an seinem Geburtstag, Ellen überredet Jakob mit ihr ins Schwimmbad zu gehen. Jakob erinnert sich an die vielen Runden, die er gedreht hatte, um seinem schlechten Gewissen davonzuschwimmen. Damals war er Ende dreißig. Er hatte kein Kind gewollt, aber Imken war dennoch schwanger geworden. Dann hat sie das Kind verloren. Jakob entschied sich auf der Couch zu schlafen, weg von ihrem Körper, ihrer Sehnsucht und dann hat sie Oliver kennengelernt. Jakob hat sie Silvester verlassen, ist einfach abgehauen. Er hatte geglaubt, Neujahr wäre ein guter Tag für einen Neuanfang, aber das war er noch nie.

Im Schwimmbad ist Ellen verschwunden. Sie wolle sich umziehen, sagte sie und danach hat er sie nicht mehr gesehen. Er sieht das alte Becken, das dem Umbau nicht zum Opfer gefallen ist und lässt sich hineingleiten. Er breitet die Arme aus, schwimmt ein paar Züge und fühlt sich wie ein Bügelbrett. Nach einigen Bahnen wird er flüssiger und es ist großartig. Warum hatte er damit aufgehört? Warum nur hörte man mit etwas auf, das einem guttat? Als er am Beckenrand verschnauft, taucht plötzlich Imken vor ihm auf. Sie hatten sich seit zehn Jahren nicht gesehen. Sie kommen ins Gespräch und Imken lädt ihn auf ihre Decke in der Liegewiese ein. Sie bietet ihm einen Plastikbecher mit Vinho verde an, leert ihre Kühltasche und zaubert etwas Roquefort, Bergkäse, Fenchelsalami und Oliven hervor. Jakob blinzelt, holt tief Luft. Jetzt bloß nicht heulen! So hatten sie damals auch gepicknickt.

Fazit: Lucy Fricke hat eine herzerwärmende Geschichte geschaffen. Sie lässt ihren melancholischen Protagonisten seinen Geburtstag auf ganz besondere Weise feiern. An diesem Tag findet er längst vergessene, aber auch verdrängte Erinnerungen, die in ihm ein Eigenleben entwickelt haben und ihm Antrieb und Lebenssinn nehmen. Am Ende des Tages wird er von belastenden Schuldgefühlen befreit sein und mit Leichtigkeit die nächsten 50 Jahre angehen. Ohne großen Firlefanz, mit einfachen Worten und Kreativität hat die Autorin mich tief berührt. Wie wohltuend! Es war meine erste Lucy Fricke und sicher nicht die letzte.

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Veröffentlicht am 13.01.2025

So komisch, menschlich und geistreich

In einem Zug
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Eduard Brünhofer steigt in Wien in den Zug und bezieht das Abteil. Er wählt den Platz schräg gegenüber einer Frau frühen mittleren Alters, die den begehrten Fensterplatz ergattert hat. Es erscheint ihm ...

Eduard Brünhofer steigt in Wien in den Zug und bezieht das Abteil. Er wählt den Platz schräg gegenüber einer Frau frühen mittleren Alters, die den begehrten Fensterplatz ergattert hat. Es erscheint ihm unangenehm, ja geradezu aufdringlich, sich ihr gegenüberzusetzen. Eduard harrt seiner Gedanken darüber, was ihn nach München treibt. Es wird Zeit für einen neuen Liebesroman. Immer wieder hat er seine Verlegerin vertröstet. Der Vorschuss ist mittlerweile in Dach und Küche des Hauses verschwunden, das ihm und Gina gehört. Tragischerweise ist er mit der Liebe fertig, seit zehn Jahren kein brauchbarer Anfang, aber etwas anderes ist der Verlag nicht bereit, von ihm zu drucken. Gerade wundert er sich darüber, dass hier zwei Menschen in einem Abteil nichts anderes machen, als vor sich hin zu denken. Er wirft einen scheuen Blick in Richtung der Frau frühen mittleren Alters und bemerkt, dass sie ihn direkt ansieht. Ha, jetzt erkennt sie ihn, sie blickt weg. Schaut ihn wieder an, fragt, ob sie ihn etwas fragen darf, lächelt. Er kennt das, sie hat seine Bücher gelesen.

„Kennen wir uns?“

„Nicht, dass ich wüsste.“ Sie hat eines meiner Bücher gelesen.

„Ich hatte gedacht, Sie wären mein ehemaliger Englischlehrer.“ Sie hat also keines meiner Bücher gelesen.

Obwohl Eduard ein beliebter Zuhörer ist, sein empathisches Nicken zeichnet ihn besonders aus, kommen sie in ein Gespräch. Nachdem er erfahren hat, dass sie Catrin Meyr heißt und sowohl Physio,- als auch Psychotherapeutin ist, reißt sie den Gesprächsverlauf an sich:

Ich kann mich ihrer Frageleidenschaft kaum entziehen. Sie hat nur fünf Stationen der Westbahnstrecke gebraucht, um aus mir einen Quatschkopf zu machen. S. 67

Trotz der Dominanz der Fragerin entwickelt sich die Fahrt für Eduard zu einem überraschend wohltuenden Ereignis. Und nach einigen geteilten Halbfläschchen Bordeaux im Speisewagen:

Er spürt eine Wärme in sich, die nach außen drängt und das Verlangen aufkommen lässt, jedem einzelnen Fahrgast persönlich die Hand zu schütteln, ihm alles Gute mit auf den Weg zu geben und dem Schaffner explizit auszurichten, was für einen großartigen Job er macht, wie gut ihm der Oberlippenbart zu Gesicht steht und was für ein feiner Kerl er ist. S. 84

Fazit: Daniel Glattauer ist genial. Dieser Wiener Schmäh, der österreichische Charme ist sein Alleinstellungsmerkmal. Der Autor schickt seinen gutgläubigen Protagonisten in die Fänge einer attraktiven Frau, die alles über seinen Bezug zur Liebe wissen will, wirklich alles. Nach anfänglichen Vorbehalten, die Glattauer durch die Gedanken des Protagonisten zeigt, fasst er allmählich Vertrauen und gibt weit mehr über sich und seine Frau preis, als er jemals jemandem erzählt hat. Die Dialoge, gepaart mit seinen Gedanken sind schreiend komisch und so menschlich und so geistreich … ich steigere mich hinein, weil der Autor mich mitgerissen hat in seine Euphorie. Das Ende ist überraschend, ganz anders als meine Vermutung. Was für ein Gegenwartsliterat. Herrlich!

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Veröffentlicht am 10.01.2025

Provokant, bissig und humorvoll

Der Kaninchenstall
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An einem schicksalhaften Abend verlässt die achtzehnjährige Blandine in C4, in der WG des heruntergekommenen Wohnkomplexes, ihren Körper. Vier Etagen über Blandines Abgang glaubt der Bewohner von C12, ...

An einem schicksalhaften Abend verlässt die achtzehnjährige Blandine in C4, in der WG des heruntergekommenen Wohnkomplexes, ihren Körper. Vier Etagen über Blandines Abgang glaubt der Bewohner von C12, dass Frauen mehr Macht haben als alle anderen. Wenn man ihm seine Ansichten ausreden will, wird der Mittsechziger wütend. Er hat sich freiwillig der Verliererseite verschrieben, weil er wegen der fehlenden Rücklagen als Holzfäller weiterarbeiten muss. In C10 macht der Teenager Selfies von sich, postet eines hoch und schreibt: „Ich bin bereit!“ In C8 versucht Hope ihren Säugling zu stillen. Es gelingt ihr nicht. Zu oft scrollt sie durch die Mamablogs, sieht sich an, wie anderen Müttern alles gelingt und zweifelt zunehmend an ihren mütterlichen Fähigkeiten. Hope hat Todesangst vor den Augen ihres Babys, was ihr Panikattacken bereitet. Ida Mitte siebzig, erzählt ihrem gleichaltrigen Mann Reggie in C6, dass Frank wieder im Knast ist. Bewaffneter Raubüberfall trotz schlimmem Knie. Frank ist der Mann von Tina, ihre Tochter, zu der sie keinen Kontakt mehr haben. Drei Jungs und ein Mädchen in C4, einer hält ein Messer. Sie: „Nein, bitte nicht“. Einer filmt: „Das bringt so viele Klicks“.

Rückblick

Zwei Tage bevor Blandine ihren Körper verlässt, geht sie in den Waschsalon. Ihre einzige derzeitige Obsession findet sie in den Lehren der Benediktinerin Hildegard von Bingen. Eigentlich hat Blandine wegen der Fetischisierung Jesu Leidens ein Problem mit den Mystikerinnen, aber die liebt sie. Joan sitzt ebenfalls im Waschsalon. Blandine drängt ihr ein Gespräch auf, voller Euphorie eine Gesprächspartnerin gefunden zu haben. Doch Joan bleibt einsilbig und verlässt schnellstmöglich den Salon. Sie hatte kürzlich ein Gespräch mit ihrer Vorgesetzten. Sie hat den abfälligen Kommentar eines Angehörigen unter dem Nachruf seiner Mutter nicht gelöscht. Nun droht der Jobverlust bei Rest in Peace.

Der Angehörige ist Moses Robert Blitz, der Sohn seiner verhassten Mutter Elsie Jane McLoughlin Blitz, hoch verehrter Kinderstar einer beliebten Serie. Er möchte Joan einen Schrecken einjagen, weil sie seine Kondolenzbezeugung zwischenzeitlich gelöscht hat.

Fazit: Tess Gunty hat ein grandioses Debüt hingelegt. Sie zeigt uns einen alten Industrieort des heutigen Amerikas, in dem viele abgehängte Menschen versuchen, ihr teils aussichtsloses Dasein zu bestreiten. Im Kaninchenstall leben die Bewohner auf engem, hellhörigem Raum, umgeben von Nagetieren. Jede/r versucht unter sich zu bleiben. Die feenähnliche Protagonistin hat sich trotz ihrer Hochbegabung gegen das heiß begehrte Stipendium entschieden, weil einer ihrer Lehrer aus der Upperclass ihr zu nahegetreten ist. Ihre drei anderen jungen Mitbewohner wollen raus aus dem Kaff, allerdings fehlen ihnen die Möglichkeiten. Als sie erfahren, dass Blandine, die Auserwählte, sich dem System „freiwillig“ entzogen hat, ziehen dunkle Wolken über dem Kaninchenstall auf. Die Geschichte wird rückblickend erzählt und enthält so viele Skurrilitäten, wie es Menschen gibt. So etwas Komplexes und Geistreiches habe ich selten gelesen. Eine provokante, komische und zeitgenössische Story über den amerikanischen Traum, wo der Tellerwäscher ein Tellerwäscher bleibt. Grandios!

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Veröffentlicht am 10.01.2025

Fulminant

Wackelkontakt
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Während Franz Escher auf den Elektriker wartet, versucht er ein tausend Teile Puzzle zusammenzusetzen. Kurz kontrolliert er, ob er die Türklingel aktiviert hat und macht sich Gedanken über seinen Namen. ...

Während Franz Escher auf den Elektriker wartet, versucht er ein tausend Teile Puzzle zusammenzusetzen. Kurz kontrolliert er, ob er die Türklingel aktiviert hat und macht sich Gedanken über seinen Namen. Seine Zerstreutheit nimmt beim Warten zu und so legt er sich auf das Sofa und schlägt den Mafiaroman auf, den er zur Zeit mit Spannung liest.

Der Kronzeuge Elio hat alle seine Kollegen der Cosa Nostra verraten, dafür hat man ihm ein neues Leben versprochen. Er liegt in seiner Zelle und fürchtet um sein Leben. Sein Zellennachbar schnarcht leise. Elio hat ihm eine Schlaftablette untergejubelt. Man weiß nie, wen sie schicken, um ihn zu beseitigen. Er liest noch ein paar Seiten, bevor er Schritte vor seiner Tür hört.

Der Trauerredner Franz Escher wartet auf den Elektriker, er hat einen Wackelkontakt und benötigt außerdem eine Dreifachsteckdose statt der einen an seiner Küchenzeile. Während er wartet, versucht er ein tausend Teile Puzzle zusammenzusetzen. Kurz kontrolliert er, ob er die Türklingel aktiviert hat und macht sich Gedanken über seinen Namen, als es läutet. Der Brummer summt und bald darauf steht ein hochgewachsener Mann mit dem Emblem Elektro Janke vor ihm. Der wortkarge Elektriker erfasst rasch Eschers Problem und schaltet im Stromkasten zwei Wipptasten herunter. Eschers Expertise wird nicht gebraucht und so legt er sich aufs Sofa, um weiterzulesen. Kurz vergewissert er sich noch, ob er die vermaledeite Klingel aktiviert hat, dann fällt sein Blick auf eine Unordnung im Stromkasten. Er klappt die beiden Schalter hoch und ein Poltern erschüttert die Küche. Kurz um die Ecke blickend sieht er den Elektro Janke Mann am Boden. Jetzt steht Escher in seiner Küche, erstaunt und überfordert überlegt er fieberhaft, was nun zu tun sei.

Fazit: Hier meine Lobeshymne. Wolf Haas hat sein Bestes gegeben. Die Story hat alles, was es braucht, um Leser*innen fulminant zu unterhalten. Spannung, Witz und überraschende Wendungen. Wie eine Matrjoschka entpuppt sich die Geschichte in einer Geschichte. Die Charaktere sind stark, die Handlung unsagbar kreativ. Der Autor hat mich mit seiner Alltagskomik an etlichen Stellen zum Lachen gebracht. Am Ende schließt er den Kreis und es wird ein Schuh draus, mit dem ich niemals gerechnet hätte. Mega!

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Veröffentlicht am 07.01.2025

Ein kluges Buch zum Thema gesellschaftliche Spaltung

Heult leise, Habibis
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Sineb El Masrar erklärt, wie Ignoranz und Dauerempörung unsere Gesellschaft spalten.

Wir erfahren in den Medien zum Beispiel von bewaffneten und kriegerischen Konflikten in der Sahelzone und fühlen uns ...

Sineb El Masrar erklärt, wie Ignoranz und Dauerempörung unsere Gesellschaft spalten.

Wir erfahren in den Medien zum Beispiel von bewaffneten und kriegerischen Konflikten in der Sahelzone und fühlen uns anhand der Bilder von Menschen, die die Region um den Niger verlassen, überfremdet. Große Uran- und Goldreserven liegen im Focus Russlands, um neue Einflusszonen zu sichern und Frankreichs, um seinen Status quo aufrechtzuerhalten.

Nicht alle wollen begreifen, wie stark unser Wohlstand mit dem Zugang zu chemischen und metallenen Bodenschätzen verwoben ist. Auch unsere Energie- und Gesundheitsversorgung sind von bestimmten Regionen abhängig. S. 8

In den Netzwerken entfachen darüber Revierkämpfe wie in der Schule oder in Cliquen. Die Autorin denkt, dieses Verhalten liege an unreflektierten Komplexen und der Ich-Bezogenheit, getrieben von nicht verarbeiteten Kränkungen. Sie glaubt, dass die Gesellschaft zu viel Rücksicht auf die Marktschreier nimmt, die ungefragt Fake News und ihre Meinung verbreiten.

Tatsächlich jedoch gäbe es in unserer Gesellschaft eine Vielzahl von Menschen, die mit schmerzhaften Erfahrungen wie Rassismus, Missbrauch, Gewalt, Verlust, Krankheit, Sexismus etc. konfrontiert sind und trotzdem auf überzogene Empörung verzichten.

Die Autorin erklärt den Unterschied zwischen den dauerempörten Extrovertierten und den stillen Introvertierten.

Auch die Plattformen der Socialmedia-Maschinerie fördern die Aufregung mit belohnenden und sabotierenden Algorithmen. Je mehr Aktivitäten und Follower die Apps generieren, desto mehr Investments und Kapital durch Werbetreibende wird investiert und lässt die Aktienkurse steigen.

Fazit: Sineb El Masrar hat ein umfassendes und kluges Buch über die Mechanismen der gesellschaftlichen Spaltung und die Gefahr für unsere Demokratie geschrieben. Allerdings halte ich die Idee, die Leisen müssten lauter werden für eine Illusion. Es ist nervenaufreibend, sich mit geltungssüchtigen Menschen auseinanderzusetzen, deren vorrangiges Ziel zu sein scheint, sich die Langeweile zu vertreiben. Dennoch habe ich in den Ansichten der Autorin meine eigenen gefunden und das tat gut. Ich wünsche dem Buch haufenweise Leser*innen.

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