So komisch, menschlich und geistreich
In einem ZugEduard Brünhofer steigt in Wien in den Zug und bezieht das Abteil. Er wählt den Platz schräg gegenüber einer Frau frühen mittleren Alters, die den begehrten Fensterplatz ergattert hat. Es erscheint ihm ...
Eduard Brünhofer steigt in Wien in den Zug und bezieht das Abteil. Er wählt den Platz schräg gegenüber einer Frau frühen mittleren Alters, die den begehrten Fensterplatz ergattert hat. Es erscheint ihm unangenehm, ja geradezu aufdringlich, sich ihr gegenüberzusetzen. Eduard harrt seiner Gedanken darüber, was ihn nach München treibt. Es wird Zeit für einen neuen Liebesroman. Immer wieder hat er seine Verlegerin vertröstet. Der Vorschuss ist mittlerweile in Dach und Küche des Hauses verschwunden, das ihm und Gina gehört. Tragischerweise ist er mit der Liebe fertig, seit zehn Jahren kein brauchbarer Anfang, aber etwas anderes ist der Verlag nicht bereit, von ihm zu drucken. Gerade wundert er sich darüber, dass hier zwei Menschen in einem Abteil nichts anderes machen, als vor sich hin zu denken. Er wirft einen scheuen Blick in Richtung der Frau frühen mittleren Alters und bemerkt, dass sie ihn direkt ansieht. Ha, jetzt erkennt sie ihn, sie blickt weg. Schaut ihn wieder an, fragt, ob sie ihn etwas fragen darf, lächelt. Er kennt das, sie hat seine Bücher gelesen.
„Kennen wir uns?“
„Nicht, dass ich wüsste.“ Sie hat eines meiner Bücher gelesen.
„Ich hatte gedacht, Sie wären mein ehemaliger Englischlehrer.“ Sie hat also keines meiner Bücher gelesen.
Obwohl Eduard ein beliebter Zuhörer ist, sein empathisches Nicken zeichnet ihn besonders aus, kommen sie in ein Gespräch. Nachdem er erfahren hat, dass sie Catrin Meyr heißt und sowohl Physio,- als auch Psychotherapeutin ist, reißt sie den Gesprächsverlauf an sich:
Ich kann mich ihrer Frageleidenschaft kaum entziehen. Sie hat nur fünf Stationen der Westbahnstrecke gebraucht, um aus mir einen Quatschkopf zu machen. S. 67
Trotz der Dominanz der Fragerin entwickelt sich die Fahrt für Eduard zu einem überraschend wohltuenden Ereignis. Und nach einigen geteilten Halbfläschchen Bordeaux im Speisewagen:
Er spürt eine Wärme in sich, die nach außen drängt und das Verlangen aufkommen lässt, jedem einzelnen Fahrgast persönlich die Hand zu schütteln, ihm alles Gute mit auf den Weg zu geben und dem Schaffner explizit auszurichten, was für einen großartigen Job er macht, wie gut ihm der Oberlippenbart zu Gesicht steht und was für ein feiner Kerl er ist. S. 84
Fazit: Daniel Glattauer ist genial. Dieser Wiener Schmäh, der österreichische Charme ist sein Alleinstellungsmerkmal. Der Autor schickt seinen gutgläubigen Protagonisten in die Fänge einer attraktiven Frau, die alles über seinen Bezug zur Liebe wissen will, wirklich alles. Nach anfänglichen Vorbehalten, die Glattauer durch die Gedanken des Protagonisten zeigt, fasst er allmählich Vertrauen und gibt weit mehr über sich und seine Frau preis, als er jemals jemandem erzählt hat. Die Dialoge, gepaart mit seinen Gedanken sind schreiend komisch und so menschlich und so geistreich … ich steigere mich hinein, weil der Autor mich mitgerissen hat in seine Euphorie. Das Ende ist überraschend, ganz anders als meine Vermutung. Was für ein Gegenwartsliterat. Herrlich!