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Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 01.11.2019

Wahre, wilde Größe!

WEST
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Manche Geschichten haben eine ganz eigene Kraft.West ist eine von ihnen. Denn das Romandebüt von Carys Davies zieht den Leser in seinen Bann wie ein reißender Fluss: In kurzen Sätzen und opulenten Bildern ...

Manche Geschichten haben eine ganz eigene Kraft.West ist eine von ihnen. Denn das Romandebüt von Carys Davies zieht den Leser in seinen Bann wie ein reißender Fluss: In kurzen Sätzen und opulenten Bildern führt das Buch in einen unbekannten Wilden Westen und bleibt bis zur letzten Seite unvorhersehbar. Ich habe den Roman förmlich verschlungen. Mit „umwerfend“ (The Guardian), „ein Kleinod“ (The Toronto Star) und „Bravo“ (Deutschlandfunk) überschlagen sich die Kritiken. Verständlich, finde ich.

Pennsylvania im Jahr 1815: Als der einfache Maultierzüchter John Cyrus Bellman in der Zeitung die Nachricht einer unglaublichen Entdeckung liest, lässt ihm dies keine Ruhe mehr. Er packt zwei Gewehre, eine Decke und ein paar Bündel und macht sich zu Pferde in Richtung Rocky Mountains auf, um mit eigenen Augen zu sehen, was er gelesen hat. Dabei lässt der Witwer nicht nur seine Farm und das Land zurück, das er sich als Siedler zu eigen gemacht hat. Sondern er übergibt auch seine zehnjährige Tochter Bess in die Obhut seiner lieblosen Schwester Julie.

So beginnt der nur 204 Seiten lange Roman: mit einem Abschied und zugleich einem Aufbruch in ein noch unbekanntes Amerika unter einem schier endlosen Himmel.

So groß wie die Kulisse ist auch der Traum, den Cy auf seinem Ritt verfolgt. Doch mit jeder zurückgelegten Meile in den Westen wird klar, dass dieser so gar nichts gemein hat mit der Wildwest-Romantik eines Winnetou-Filmes: Die Winter sind hart, die Flüsse reißend und die Wege beschwerlich. Auf seinem Weg erkauft sich Cy mit Tand und Perlen die Hilfe eines jungen Indianers, welcher fortan zum etwas eigenwilligen Reisegefährten wird. Immer weiter gelangen die beiden in die Wildnis. Der eine, um anzukommen und der andere, um weiterzuziehen, hat man ihn doch unlängst grausam vom Land seines Volkes vertrieben.

Auf der kleinen heimatlichen Farm zieht derweil Cys Schwerster Julie ein, die Bess ihre Verachtung für die Träume des verrückten Vaters offen spüren lässt.
Man erhält sowieso den Eindruck, dass diese Frau sehr selten träumt. Bess‘ Leben mit ihr ist geprägt vom Kirchgang und Warten auf die Rückkehr des Vaters, bevor es stetig aus den Fugen gerät. Denn mit den Jahren treten hinter der Fassade der christlichen Gemeinde immer öfter Gier und die Gefahr männlicher Übergriffe zutage.

Und so spitzt sich die Geschichte Seite für Seite zu – draußen in der Wildnis ebenso wie auf der Farm; zwei kunstvoll gewobene, parallele Handlungsstränge, die von Träumen, von Staub, von Sehnsucht und der naiven Hoffnung erzählen, dass die Zukunft durch das Auftauchen von etwas Großem erleuchtet wird.
Am Ende laufen beide Handlungen zu einem Finale zusammen, wie ein Fluss auf einen Wasserfall zuläuft. Dass sich dadurch ein viel größerer Kreis schließt, als ich angenommen hätte, möchte ich hier mal frank und frei als genial bezeichnen. Überhaupt ein sehr großes, kleines Buch. Unbedingt lesen.

Veröffentlicht am 01.11.2019

Faszination des Fiesen.

Blood Orange - Was sie nicht wissen
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Ich stehe in einem Pub irgendwo in London, und neben mir säuft sich eine Businessfrau gerade ihre Würde weg. Ihr Lidstrich ist verschmiert, ihr Rock unanständig hochgerutscht und ihre Sinne sind so vollkommen ...

Ich stehe in einem Pub irgendwo in London, und neben mir säuft sich eine Businessfrau gerade ihre Würde weg. Ihr Lidstrich ist verschmiert, ihr Rock unanständig hochgerutscht und ihre Sinne sind so vollkommen benebelt, dass sie wahrscheinlich gleich Sex auf dem Klo haben wird.

Stop, nein, ich sitze zu Hause am Esstisch und schreibe beim Kaffee diesen Text. Aber so ungefähr fühlt es sich an, Blood Orange von Harriet Tyce zu lesen. Die oben erwähnte Frau könnte die Anwältin Alison Price sein, die im Roman gerade ihren ersten Mordfall bearbeitet.

Wie immer stürzt sie sich in ihre Job und lässt dabei ein paar persönliche Angelegenheiten grob fahrlässig aus dem Ruder laufen. Beispielsweise ihre Rolle als Ehefrau und Mutter, die sie fortwährend mit Alkohol, impulsiven Exzessen und einem Verhältnis mit ihrem kaltherzigen Arbeitskollegen sabotiert. Ihr dabei zuzusehen, tut ein bisschen weh. Aber es ist auch zu spannend, um den Krimi wegzulegen.

Da die Autorin selbst rund zehn Jahre Prozessanwältin war, bringt der Mordfall die nötige Vielschichtigkeit mit, um spannend zu bleiben: Mandantin Madeleine hat offensichtlich ihren Ehemann erstochen, zieht sich aber trotz Schuldbekenntnis in ein Schneckenhaus aus vagen Aussagen zurück. Nach und nach setzen sich die wenigen Bruchstücke, die Alison ihr entlocken kann, zu einem Szenario häuslicher Gewalt und Demütigung zusammen – bis plötzlich die ersten Ungereimtheiten auftauchen.

Beides, Mordfall und Privatleben, spitzen sich im Verlauf der Story immer mehr zu, was dem Buch echtes Suchtpotential verleiht. Nur, dass ich ganz oft beim Lesen förmlich nicht hingucken wollte, weil ich mit jeder Seite in einen Sog aus Fremdschämen, schäbigem Verhalten und Angst reingerate.

Top Futter für niedere Lese-Instinkte:

Ich persönlich war gefesselt bis zum Ende. Aber die Faszination war eher eine, für die auch ein Artikel in der Regenbogenpresse gereicht hätte: Man will wissen, welchem B-Promi gerade sein Leben entgleitet, und dann nicht mehr darüber nachdenken. Dazu kommt, dass ich kein Freund von subtil grausamer Gewalt bin, gerade zum Ende hin war mir dann doch vieles zu krass. Wer aber den Anspruch hat, zwischendurch mal einen ordentlich gestrickten, nicht unbedingt tiefsinnigen Krimi mit vielen Wendungen zu lesen, wird das Buch vermutlich verschlingen.

Veröffentlicht am 01.11.2019

C'est la fucking vie.

Letzte Rettung: Paris
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Letztens war ich in New York, nur um dort festzustellen, dass ich eher der Paris-Typ bin. Mehr Charme. Weniger Banalitäten. Bessere Croissants. Im Roman Letzte Rettung: Paris von Patrick deWitt sind es ...

Letztens war ich in New York, nur um dort festzustellen, dass ich eher der Paris-Typ bin. Mehr Charme. Weniger Banalitäten. Bessere Croissants. Im Roman Letzte Rettung: Paris von Patrick deWitt sind es zwei New Yorker, die nicht ganz freiwillig in die Stadt der Liebe aufbrechen, aber dort so wunderbar hinpassen wie die Mona Lisa ins Louvre:

Frances und Malcom Price sind das wohl unterhaltsamste, verzogenste Mutter-Sohn-Duo in New York. Frances, Freigeist in Haute Couture und bissige Konversationspartnerin seit Kindertagen, führt ein Leben im totalen Luxus. Ihre legendäre Schönheit und paar wohltemperiert Skandale haben sie zu der Art von Stil-Ikone gemacht, die auf keiner wirklich exklusiven Party fehlen darf. Der letzte Skandal war wohl der, ihren unanständig reichen Ehemann nach Tod durch Herzversagen im ehelichen Bett erkalten zu lassen und einfach in ein Luxus-Skiwochenende aufzubrechen. Frances‘ erwachsener Sohn Malcom, ein verschrobener Internatsschnösel ohne Antrieb, leistet seiner Mutter seitdem Gesellschaft – und natürlich der Kater Kleiner Frank, der laut Frances die Reinkarnation ihres toten Ehemannes ist.

Leider muss sich das Duo, das das Leben bislang als ewige Cocktailparty betrachtet hat, der Realität stellen, als man das komplette Vermögen des verblichenen Ehemannes standesgemäß im Vier Jahreszeiten und den besten Kaufhäusern am Platz verjubelt hat. Als Frances und Malcom in Ermangelung feudalerer Möglichkeiten in die kleine Pariser Wohnung einer Freundin ziehen müssen und plötzlich auch noch Kleiner Frank verschwindet, gesellen sich auf der Suche nach dem Kater allerlei amüsant verschrobene Personen zu den beiden, vom schüchternen Privatdetektiv bis zur anhänglichen Langzeittouristin. Als dann noch ein Medium mit Malcom anbändelt und Kontakt zu Kleiner Frank aufnimmt, wird die Geschichte herrlich skurril und fast schon spannend – wenn dies nicht viel zu einfältig wäre für New Yorker Verhältnisse …

Letzte Rettung: Paris ist mir auf dem Weg in den Urlaub am Flughafen begegnet und hat sich als echte Entdeckung herausgestellt. Der Roman erinnert mich an die Screwball-Komödien aus meiner Kindheit mit Cary Grant und Katherine Hepburn, an Frühstück bei Tiffany, wo Dialoge noch so ausgefeilt waren wie der unsterblich schöne Style der Hauptdarstellerin.

Es ist schon eine Kunst, sich so nah an der Grenze zur Farce zu bewegen und dabei eine derart intelligente, wortwitzige Geschichte zu schreiben.
Ein Screwball kommt übrigens aus dem Baseball-Sport und ist dort ein angeschnittener und demnach unberechenbarer Ball. Hollywoods große Komödien der 30er und 40er-Jahre haben den Begriff entliehen, um damit eine Person mit skurrilen Angewohnheiten zu bezeichnen, welche auf Schritt und Tritt diese wunderbare Situationskomik auslöst, die dieses Genre so groß gemacht hat.

Auch dieses Buch hat durch und durch Charme, Stil und Witz, von der ersten Zeile bis zum überraschenden Schluss. Unbedingt lesen.