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Veröffentlicht am 15.09.2016

Authentische Geschichte einer ungewollten Selbstfindung

vergissdeinnicht
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Handlung:
Grace wacht in einem Raum auf, den sie nicht kennt. Darin: ein Bett, ein Tisch, ein Stuhl. Alles ist weiß - die Wände, die Möbel, die Bettwäsche, die Kleidung, die sie trägt. Ein schweigsamer ...

Handlung:
Grace wacht in einem Raum auf, den sie nicht kennt. Darin: ein Bett, ein Tisch, ein Stuhl. Alles ist weiß - die Wände, die Möbel, die Bettwäsche, die Kleidung, die sie trägt. Ein schweigsamer junger Mann namens Ethan bringt ihr regelmäßig Nahrung. Anscheinend hat er sie entführt, aber warum? Was will er von ihr? Auf ihre Fragen antwortet er nur, dass die Dinge so sein müssen, wie sie sind. Die einzige Beschäftigung bieten der Stapel Papier und die Stifte auf dem Tisch, und so beginnt Grace, ihre Erinnerungen aufzuschreiben.

Die innige Freundschaft zu ihrer besten Freundin Sal, und die Ereignisse, die sie entzweit haben. Ihre erste wahre Liebe, Nat, nach einer langen Prozession bedeutungsloser Bettgeschichten. Die problematische Beziehung zu ihrer Mutter, die sie im Stich gelassen hat, als Grace sie am meisten brauchte. Graces selbstzerstörerisches Verhalten: Alkohol, ungeschützter Sex, Selbstverletzung... Die Nacht, in der sie sich umbringen wollte.

Graces Gefangenschaft wird für sie zu einer Reise in die eigene Seele.

Pro:
Der Klappentext erweckt den Eindruck, es würde sich hier um einen Thriller handeln - tut es aber nicht! Die Entführung steht nicht im Mittelpunkt der Geschichte (und wird im Laufe des Buches immer unwichtiger), es geht viel mehr um Graces Aufarbeitung ihrer Vergangenheit, ihre Selbstfindung, ihre Ängste, Hoffungen und Träume. Dies ist sicher nicht das einzige Buch, das sich mit Teenagern und ihren Problemen befasst, aber die Thematik wird hier originell und fesselnd präsentiert. Für mich war das Buch sehr spannend - nur halt auf andere Art und Weise, als man es von einem Thriller erwarten würde.

Grace ist dabei ein überaus glaubwürdiger Charakter, wenn auch nicht immer ein liebenswerter. Sie ist oft zickig, oberflächlich und ich-bezogen, sie betrinkt sich mehr als einmal bis zum Erbrechen, sie hat Sex ohne jegliches tieferes Gefühl, sie ist ihrer Mutter gegenüber aggressiv... Aber dabei hat man immer mehr das Gefühl, dass das alles ein verzweifelter Hilfeschrei ist - obwohl sie sich dessen selber nicht bewusst ist. Sie hat es wirklich schon schwer gehabt in ihrem jungen Leben, und besonders den Tod ihres Vaters hat sie nie verwunden. Mir ging es so, dass Grace mir trotz all ihrer Fehler sympathisch war, auch wenn ich sie manchmal am Liebsten geschüttelt hätte! Ich habe wirklich mit ihr mitgefiebert und ihr gewünscht, dass sie ihr verkorkstes Leben in den Griff bekommt. Und sie hat natürlich auch ihre guten Seiten, wie z.B. die tiefe Liebe zu ihrer besten Freundin Sal.

Besagte beste Freundin mochte ich ebenfalls gerne, obwohl sie genauso ihre Fehler hat wie Grace und gegen Ende des Buches einen wirklich unverzeihlichen Fehler macht. Mit Graces Freund Nat konnte ich dagegen nicht so richtig warm werden - ich hatte nicht das Gefühl, ihn wirklich kennenzulernen. Er kam mir mehr vor wie eine Projektionsfläche für Graces Wunsch nach Liebe und Akzeptanz, was sicher nicht ganz unbeabsichtigt ist. Auch ihre Mutter blieb ein Abziehbild ihrer selbst, was aber die Entfremdung zwischen Mutter und Tochter umso deutlicher macht und daher für mich eher ein gelungenes Stilmittel als ein Manko darstellt.

Das Buch wird aus Graces Sicht erzählt; dementsprechend ist der Schreibstil locker, flappsig, oft sarkastisch und voller Jargon-Ausdrücke. Im englischen Original fand ich das großartig, weil ich wirklich das Gefühl hatte, einem "echten" Teenager zuzuhören! In der deutschen Übersetzung klingt es leider manchmal sehr bemüht und aufgesetzt.

Kontra:
Wie schon erwähnt, finde ich die deutsche Übersetzung an manchen Stellen nicht so ganz gelungen.

Aber mein größtes Kontra ist das Ende des Buches: das ging mir einfach zu schnell und ließ zu viele Dinge offen. Grace ist mit ihrer Selbstfindung so weit gekommen; ich hätte gerne wesentlich mehr darüber erfahren, wie sich das auf ihr Leben auswirkt.

Mit gefällt weder das englische noch das deutsche Cover so richtig gut. Das deutsche ist etwas nichtssagend: mal wieder ein Mädchengesicht, wie auf tausend anderen Covern auch. Das englische passt zwar gut zum Inhalt - es ist weiß und beinahe leer, wie der Raum, in dem Grace gefangengehalten wird -, aber es ist meiner Meinung nach zu blass und springt nicht ins Auge. In der Buchhandlung hätte ich es wohl nicht in die Hand genommen.

Zusammenfassung:
Trotz des (für mich) eher enttäuschenden Endes würde ich das Buch weiterempfehlen. Allerdings nicht unbedingt an Thriller-Fans, sondern eher an Leser, die Interesse haben an einem Buch, das von der psychologischen Entwicklung seiner Protagonistin lebt. Ich kann mir vorstellen, dass besonders Jugendliche, die sich mit Graces Problemen sicher viel besser identifizieren können, dieses Buch verschlingen werden.

Veröffentlicht am 15.09.2016

Mobbing aus Sicht der uneinsichtigen Täterin

Das wirst du bereuen
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Ein schlichtes Cover für ein Buch mit einem brisanten und brandaktuellen Thema: Mobbing unter Jugendlichen - in diesem Fall mit tragischer Konsequenz, denn das Opfer erhängt sich vor lauter Verzweiflung. ...

Ein schlichtes Cover für ein Buch mit einem brisanten und brandaktuellen Thema: Mobbing unter Jugendlichen - in diesem Fall mit tragischer Konsequenz, denn das Opfer erhängt sich vor lauter Verzweiflung. Dabei wählt die Autorin einen originellen Ansatz, indem sie uns die Geschichte aus Sicht von Sara erzählt, einem der Mädchen, das nun wegen Mobbing mit Todesfolge vor Gericht steht.

Und darin liegt auch schon die große Stärke und die große Schwäche des Buchs: einerseits liest es sich dadurch sehr authentisch und glaubwürdig, und andererseits hat man manchmal das Gefühl, dass ein Großteil der Schuld dem Opfer in die Schuhe geschoben wird - denn Sara sieht gar nicht ein, dass sie irgendetwas verbrochen hat. Emma, so sagt sie, war einfach eine blöde Schlampe, die jeden Monat einen neuen Freund hatte und auch nicht davor zurückgeschreckt hat, anderen Mädchen die Freunde auszuspannen. Da ist doch klar, dass die Mädchen sich wehren! Und dass sie sich umgebracht hat, war ja wohl ihre eigene Entscheidung.

Tatsächlich redet Sara viel darüber, wie der Tod von Emma IHR Leben ruiniert hat. Sie kann nicht einmal mehr ins Nagelstudio gehen, ohne dass sie blöd angemacht wird! Mir fiel es sehr schwer, Sympathie und Mitgefühl für Sara zu entwickeln, weil sie sich für einen Großteil des Buches kaum weiterentwickelt. Immer und immer wieder spricht sie mit Anwälten und Therapeuten, und immer und immer wieder beharrt sie stur darauf, dass sie nichts Falsches getan hat. Oder später, dass sie vielleicht doch was Falsches getan hat, aber dass es ja nicht soooo schlimm war, und sich Emma einfach umgebracht hat, weil sie halt psychische Probleme hatte. Erst gegen Schluss kommt ein wenig Einsicht, aber das sehr plötzlich und für mich nicht sehr überzeugend.

Nur manchmal sieht man eine liebenswerte Seite von Sara. Sie geht z.B. sehr liebevoll mit ihren kleinen Brüdern um und übernimmt sehr viel Verantwortung für sie. Aber meist habe ich über sie nur noch den Kopf geschüttelt. Sie ist eine Mitläuferin, die alles tut, was ihre populäre Freundin Brielle gut findet - sie geht sogar so weit, ihre Jungfräulichkeit zu verlieren, obwohl sie dazu noch gar nicht bereit ist, damit Brielle sie cool findet und wieder netter zu ihr ist. Nach Emmas Tod wird Sara selber von den anderen Schülern geschnitten und gemobbt (wenn auch nicht annähernd so schlimm wie das, was Brielle und sie Emma angetan haben), und nur EIN Junge gibt ihr eine Chance und steht ihr bei... Und da gibt es dann eine Szene, in der er sich mit Sara unterhält - und sie überlegt sich: Ohje, was mach ich denn jetzt, wenn Brielle kommt und mich mit diesem total uncoolen Jungen sieht? Soll ich dann lieber so tun, als würde er mich nerven? An dieser Stelle hätte ich am Liebsten das Buch an die Wand gepfeffert. Sie hat nichts gelernt. Nichts. Wie schon gesagt, die plötzliche Einsicht am Schluss kam für mich zu spät, und zu unglaubwürdig.

Über Emma erfahren wir erstaunlich wenig. Sie hat schon mehrfach die Schule gewechselt - warum? Wir erfahren es nicht. Ja, sie hat wirklich einiges von dem getan, was die Mädchen ihr vorwerfen. Sie hatte tatsächlich mit einer ganzen Reihe von Jungen Sex, und sie hat wirklich mindestens zwei Mächen den Freund ausgespannt. Warum? Ganz leise bildet sich der Verdacht, dass Emma womöglich ein schwerwiegendes emotionales Problem hatte, denn normal und gesund ist ihr Verhalten nicht. Hängt ihr Selbstwertgefühl davon ab, wie sexuell attraktiv sie wahrgenommen wird? Gibt es da in ihrer Vergangenheit vielleicht sexuelle Gewalt? Der Leser kann nur spekulieren.

Ich bin etwas zwiegespalten, was diese Darstellung von Emma betrifft. Natürlich ist es nur realistisch, dass Emma keine Heilige war, dass sie auch ihre Schwächen und Probleme hatte, aber dadurch, dass ihr Verhalten relativ unreflektiert von Sara geschildert wird, könnte ein jugendlicher Leser den Eindruck gewinnen, dass das Mobbing tatsächlich gerechtfertigt war. Mir fehlte zweierlei: die ganz klare Aussage, dass Mobbing nie eine akzeptable Lösung ist, und näheres Eingehen darauf, was denn bei so einer Konfliktsituation die richtige Lösungsstrategie sein könnte. Außerdem kommt niemand in diesem Buch auf den Gedanken, dass die Jungs ja wohl auch nicht ganz unschuldig daran sind, wenn sie ihre Freundinnen betrügen...

Trotz aller Bedenken: das Buch liest sich gut und flüssig, und auf traurige Art und Weise unterhaltsam. Der Schreibstil trifft glaubhaft die Jugendsprache. Es ist durchaus spannend; ich wollte immer wissen, wie es weitergeht - wobei viel von dem, was mich interessiert hätte, dann doch nicht angesprochen wurde. Aber ja, doch, es liest sich ansprechend.

Fazit:
Mobbing - ein brisantes, spannendes Thema, das hier auf ungewöhnliche Art und Weise geschildert wird: aus Sicht der uneinsichtigen Täterin. Leider konnte ich nur wenig Sympathie oder Verständnis für sie aufbringen, und über das Opfer erfahren wir nur wenig - beinahe nur, dass sie wirklich viel von dem getan hat, was die Mobberinnen ihr vorwarfen. Warum? Sowohl bei der Motivation der Täter als auch bei der Motivation des Opfers kratzt der Roman nur an der Oberfläche. Im Endeffekt bin ich mir nicht sicher, was das Buch uns sagen will, denn die Botschaft "Mobbing ist schlecht" kam bei mir nur sehr schwach und undeutlich an.

Veröffentlicht am 15.09.2016

Sozial- und religionskritische Dystopie, kein dystopischer Thrille

Die Geächteten
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Eine Sache muss ich unbedingt als Erstes ansprechen: die Übersetzung. Die Übersetzung ist grauenhaft - sinnverfälschend und manchmal sogar unfreiwillig komisch. Wenn Toiletten erröten und Hände aussehen ...

Eine Sache muss ich unbedingt als Erstes ansprechen: die Übersetzung. Die Übersetzung ist grauenhaft - sinnverfälschend und manchmal sogar unfreiwillig komisch. Wenn Toiletten erröten und Hände aussehen wie Seesterne aus einer anderen Welt, dann ist etwas mächtig schiefgelaufen... Ich kann nur ganz dringend empfehlen: wer sich für das Buch interessiert und auch englische Bücher liest, sollte sich unbedingt das Original zulegen und nicht die deutsche Ausgabe!

Bevor ihr aber das Buch kauft oder auch nur darüber nachdenkt, es vielleicht zu lesen: vergesst den Klappentext. Er suggeriert Dinge, die das Buch nicht liefert und die die Autorin wahrscheinlich auch nie liefern wollte. "Nun ist sie vogelfrei - und ihr Überlebenskampf beginnt"? Das klingt nach brutaler, atemloser Action, nach gnadenloser Jagd und Medienspektakel... Nach einem Buch, das mit Sicherheit Fans von "Die Tribute von Panem", "Die Auslese" und "Die Auserwählten im Labyrinth" ansprechen würde.

Aber dem ist nicht so. Ja, Hannah ist eine Rote. Sie hat ihr Kind abgetrieben, und im Amerika der Zukunft gilt das als Mord zweiten Grades. Ja, als Rote wird sie vom Großteil der Bevölkerung verachtet und gehasst, und es gibt tatsächlich Menschen, die Jagd auf "Verchromte" machen. Aber das ist nicht staatlich organisiert oder wird auch nur offiziell gebilligt. Es gibt keine Arena, keine Liveübertragungen... Es steht auch nicht im Zentrum dieser Geschichte.

Ich habe es eher so empfunden, dass das Thema Religion sehr zentral war, und zwar sowohl Religion als persönliche Entscheidung als auch Religion als staatliches Instrument der Macht. Religion als Mittel zur Unterdrückung weiblicher Selbstbestimmung wird ebenfalls des Öfteren angesprochen. Hannah ist z.B. in dem Glauben aufgewachsen, dass es Gottes Wille ist, dass sie als Frau den Männern in ihrem Leben untertan ist. Die Abtreibung ist ihr erster großer Akt der Rebellion, und auch dazu hat sie sich im Prinzip nur entschieden, um einen Mann zu schützen und den religiösen Status Quo ihrer Gemeinde nicht zu gefährden. Aber dadurch wird sie aus Allem herausgerissen, was sie bisher kannte, und beginnt, inmitten des Chaos und der ständigen Gefährdung, sich selber zu entdecken. Jetzt, wo sie nicht mehr durch ihren Glauben definiert wird, muss sie lernen, ihrem Leben selber einen Sinn zu geben. Und ob der Glaube an Gott dabei eine Rolle spielen wird oder nicht, ist nur noch ihre eigene Entscheidung.

Ich vermute, dass das Buch für Leser aus den USA eine deutlich schärfere Brisanz haben dürfte. Dort herrscht zwar ebenso wie in Deutschland eine Trennung von Staat und Kirche, aber das tägliche Leben wird dennoch oftmals sehr stark von christlich orientierten Werten geprägt. Die evangelikalen Christen, die unter Anderem dazu beigetragen haben, den Kreationismus in den Lehrplan öffentlicher Schulen aufzunehmen (also die Lehre, dass es keine Evolution gibt sondern alles Leben von Gott quasi "fertig" erschaffen wurde), haben großen politischen Einfluss, und auch andere religiöse Gruppierungen verfügen über politische Macht.

Es GIBT große Gruppierungen fundamentalistischer Christen, die glauben, die Ehefrau müsse dem Mann untertan sein. Es GIBT Christen, die es gerne sehen würden, dass christliche Gebote gesetzlich festgelegt werden.

Ich kann mir einen amerikanischen Staat, in dem Kirche und Regierung untrennbar verbunden sind, in dem Homosexuelle zur "Therapie" gezwungen werden und Abtreibung als Mord zweiten Grades gilt, nur zu gut vorstellen. Und wenn ich an den Ku-Klux-Klan denke, der HEUTE noch aktiv ist, dann kann ich mir auch "The Fist of Christ" vorstellen, die in diesem Buch Jagd auf Verbrecher machen - unter Anderem auf Frauen, die nach einer Vergewaltigung abgetrieben haben.

Ich denke, man muss auf jeden Fall Interesse an religions- und sozialkritischen Themen mitbringen, um das Buch interessant zu finden! Aber dann ist es durchaus eine originelle Dystopie, die etwas ganz Eigenes bietet, was ich so bisher noch nicht gelesen habe. Allerdings ist das Tempo größtenteils eher langsam und die Spannung unterschwellig. Vieles spielt sich sozusagen intern ab, in Hannahs emotionaler und mentaler Entwicklung. Es ist kein Thriller - es ist Sozialkritik, und es ist die Geschichte der Selbstfindung einer jungen Frau in einer Gesellschaft, die bedingungslose Unterordnung unter rigide und oftmals sexistische Werte verlangt.

Hannah war ein sehr interessanter Charakter, mit dem ich gut mitfühlen konnte. Nur manchmal war sie mir für ihren Hintergrund plötzlich zu taff und aggressiv, aber meist fand ich ihre Entwicklung glaubwürdig. Auch die Menschen, die sie auf ihrer Flucht trifft, waren größtenteils interessant und gut geschrieben. Viele der Verchromten wurden nur an den Rand der Gesellschaft gedrängt, weil sie der akzeptierten Norm nicht entsprachen, und die Autorin schafft es wirklich, einem die Ungerechtigkeit deutlich vor Augen zu führen. Interessanterweise sind es oft die scheinbar Guten, die nach außen hin als Musterbild christlicher Tugenden erscheinen, die hinter verschlossenen Türen ihr hässliches wahres Gesicht zeigen.

Gegen Ende gab es plötzlich eine homosexuelle Beziehung, die etwas aufgesetzt wirkte - mehr so, als hätte die Autorin auch diese unterdrückte Randgruppe noch schnell repräsentieren wollen. Das hätte man meiner Meinung nach auch weniger übereilt ansprechen können!

Im Original fand ich den Schreibstil eher ruhig und behäbig, aber dennoch gut zu lesen.

Wer einen nervenzerfetzenden dystopischen Thriller sucht, ist hier definitiv falsch. "Die Geächteten" ist eine eher ruhige, philosophische Dystopie, in der wir den Weg einer jungen Frau verfolgen, die sich aus dem Käfig sozialer, religiöser und staatlicher Zwänge befreit.

Veröffentlicht am 15.09.2016

Kautokeino, ein blutiges Messer

Einsam und kalt ist der Tod
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Dieser ambitionierte Erstlingsroman des Filmemachers Lars Pettersson wurde von der Schwedischen Krimiakedemie im Jahr 2012 als "Bestes Krimidebüt" ausgezeichnet. Da bin ich natürlich mit hohen Erwartungen ...

Dieser ambitionierte Erstlingsroman des Filmemachers Lars Pettersson wurde von der Schwedischen Krimiakedemie im Jahr 2012 als "Bestes Krimidebüt" ausgezeichnet. Da bin ich natürlich mit hohen Erwartungen an das Buch herangegangen! Und was soll ich sagen - ich bin beeindruckt, denn dieser Krimi ist wirklich etwas Außergewöhnliches.

Das liegt zum einen schon am Schauplatz, denn die Geschichte ist in Nordnorwegen in der Gegend rund um Kautokeino angesiedelt. Dort gehört die Bevölkerung noch überwiegend dem indigenen Volk der Samen an und lebt hauptsächlich von der Rentierzucht. Viele Familien leben nach althergebrachten Werten und tragen nicht nur zu besonderen Anlässen die traditionelle farbenfrohe Kleidung.

Aber dem Autor liegt es fern, eine beschauliche, touristentaugliche Postkartenidylle heraufzubeschwören! Er kennt die Kommune Kautokeino und ihre Menschen gut und beschreibt deren hartes Leben sowohl bildreich-atmosphärisch als auch schonungslos ehrlich.

Die Staatsanwältin Anna Magnusson hat ihre Wurzeln in Kautokeino, denn ihre samische Mutter stammte von dort. Sie selber hat jedoch ihr ganzes Leben in Schweden verbracht und kennt ihre samische Familie und deren Leben nur von kurzen Besuchen in den Sommerferien. Als sie nun zu Hilfe gerufen wird, um ihren Cousin zu verteidigen, der eine Frau vergewaltigt haben soll, rechnet sie damit, den Fall schnell abschließen zu können. Aber schon bald wird ihr klar, dass weit mehr hinter der Geschichte steckt...

Außerdem fühlt sie sich immer mehr gezwungen, sich mit ihrer entfremdeten Familie und deren Erwartungen auseinander zu setzen. Sie hat von ihrer Mutter sozusagen Schuldgefühle geerbt - dafür, dass sie das harte Leben ihrer Familie hinter sich gelassen und somit "verraten" hat, denn eigentlich wird jedes Familienmitglied auf der Winterweide dringend gebraucht.

Für mich ist Anna ein sehr interessanter Charakter! Sie ist sehr verwurzelt in ihrem modernen Rechtsempfinden und reagiert daher mit Fassungslosigkeit und Zorn darauf, dass ihre Familie von ihr erwartet, die Verbrechen ihre Cousins möglichst unter den Teppich zu kehren.

Nach dem ersten Kulturschock erwacht in ihr der Kampfgeist, und sie stürzt sich mit Hingabe in einen Fall, den außer ihr eigentlich niemand aufgeklärt sehen will. Ich habe ihren Mut und ihre Entschlossenheit sehr bewundert! Man merkt auch immer wieder, dass sie sich trotz allem der samischen Kultur doch noch zugehörig fühlt, wenn auch widerwillig.

Auch die anderen Charaktere fand ich interessant, aber oft sehr schwer zu begreifen, so fremd waren mir ihre Wertvorstellungen. Aber das ist sicher durchaus beabsichtigt, denn als Leser kann man so viel eindringlicher nachempfinden, wie fehl am Platz und entwurzelt sich die Protagonistin in Kautokeino fühlt!

"Einsam und kalt ist der Tod" ist kein typischer Krimi. Viel der Spannung entsteht gar nicht aus dem Kriminalfall, sondern eben aus diesem scheinbar unüberbrückbaren Konflikt zweier Kulturen. Viele der Samen in diesem Buch haben ihr ganz eigenes Verständnis von Moral und Gerechtigkeit und nur wenig Vertrauen in die norwegischen Gesetze, die so wenig mit ihrem täglichen Leben zu tun haben.

In meinen Augen macht gerade diese Mischung den Roman so originell und spannend. Man rätselt nicht nur darüber, wer denn nun was verbrochen hat oder nicht, sondern man wirft vor allem einen Blick in eine gänzlich fremde Kultur, in all ihrer Schönheit und ihrer oft gnadenlosen Härte.

Den Schreibstil fand ich wunderbar. Der Autor beschwört das Leben der Samen mit allen Sinnen herauf. Man hört das Polarlicht knistern und den Schnee knarzen, man riecht und schmeckt das brutzelnde Rentierfleisch und sieht die leuchtenden Augen der Schlittenhunde in der Nacht...

Fazit:
Es geht um Vergewaltigung, um Viehdiebstahl, Raubschlachtung... Und Mord. Aber vor allem geht es um den Konflikt zwischen der archaischen Lebensweise der Samen und den modernen Vorstellungen von Recht und Moral. Man sollte ein reges Interesse an fremden Kulturen mitbringen, aber dann ist das Buch wirklich sehr lohnend und spannend!

Veröffentlicht am 15.09.2016

Slaktmånad - Schlachtmonat

Mord am Polarkreis
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Der erste Lappland-Krimi aus der Feder des schwedischen Autors Lars Pettersson, "Einsam und kalt ist der Tod", hatte mich vor ein paar Monaten begeistert und beeindruckt, sowohl durch seine Originalität ...

Der erste Lappland-Krimi aus der Feder des schwedischen Autors Lars Pettersson, "Einsam und kalt ist der Tod", hatte mich vor ein paar Monaten begeistert und beeindruckt, sowohl durch seine Originalität als auch durch die interessanten Einblicke in die Kultur der Samen, der indigenen Bevölkerung Lapplands.

Auch dieser zweite Band spielt wieder hauptsächlich in Kautokeino, einer Gegend, in der noch viele Samen die traditionelle Rentierzucht betreiben. Diese ist eigentlich nicht mehr rentabel; ohne staatliche Subventionen könnte eine Herde kaum eine Familie ernähen. Daher wird Kautokeino zum Pulverfass eines Konflikts zwischen Tradition und Moderne: Festtagskolt und Facebook, kulturelle Identität und wirtschaftliche Interessen.

Der Autor kennt Land und Leute gut, da er selber die Winter in Kautokeino verbringt - da kommt keine falsche Postkartenidylle auf. Er beschreibt Vorurteile und Borniertheit auf beiden Seiten des Konflikts, und es ist oft unmöglich zu sagen, wer im Recht ist.

Obwohl ich Schauplatz und kulturelle Hintergründe nach wie vor interessant finde, konnte mich "Mord am Polarkreis" jedoch leider nicht so überzeugen und fesseln wie sein Vorgänger.

Ich habe mich sehr, sehr schwer damit getan, mich in dieses Buch einzulesen. Ich hatte oft das Gefühl, dass sich die Geschichte im Kreis dreht. Viele Themen, die im ersten Band schon eine große Rolle spielten, werden hier fast unverändert erneut aufgegriffen, obwohl zwischen "Einsam und kalt ist der Tod" und "Mord am Polarkreis" fast zehn Jahre vergehen.

Der im Klappentext erwähnte Mord wird erst auf Seite 192 entdeckt, und danach ziehen sich die Ermittlungen träge in die Länge - und mutieren zu einer verbissenen Schlammschlacht zwischen den verschiedenen beteiligten Behörden, die sich gegenseitig der Unfähigkeit bezichtigen. Es fiel mir schwer, die Puzzleteilchen zusammen zu setzen, und ich muss zugeben, im Endeffekt hat mich kaum noch interessiert, wer den Staatssekretär denn nun erschossen hat...

Das Buch ist in meinen Augen gefangen zwischen zwei Ansätzen: Als Abhandlung über die Kultur der Samen ist es interessant, bringt aber im Vergleich zum ersten Band nur wenig Neues. Als Krimi verliert es sich zu oft in langatmigen Nebenhandlungen und legt ein schleppendes Tempo vor.

Es hat großartige Momente, die enormes Potential erahnen lassen, aber dieses Potential wollte sich für mich einfach nicht vollständig entfalten.

Die Protagonistin, Anna Magnusson, hat von allen Charakteren wahrscheinlich die größte Entwicklung durchlebt. War sie im letzten Band noch Staatsanwältin in Schweden und ihrer samischen Familie sehr entfremdet, vereint sie nun Tradition und Moderne in einer Person: sie pendelt zwischen Schweden, wo sie Teilzeit als Staatsanwältin arbeitet, und Kautokeino, wo sie auf dem Fjell Rentiere zusammentreibt und schlachtet.

Sie ist härter geworden - energischer, aber auch verschlossener, unzufriedener. Obwohl sie jetzt lebt wie eine "echte" Samin, muss sie sich immer noch gegen Misstrauen und Sticheleien behaupten.

Ich fand es schwierig, in diesem Band mit ihr mitzufühlen, und auch zu den anderen Charakteren fand ich einfach keinen rechten Zugang - sie erschienen mir meist sehr nüchtern und emotionslos beschrieben, ich konnte ihre Gefühle und ihre Motivation nur selten nachempfinden.

Der Schreibstil schwingt sich immer mal wieder zu einer kargen Poesie auf, der ein ganz eigener Zauber innewohnt - aber oft fand ich ihn dann doch zu spröde, fast schon nüchtern und steril.

Fazit:
Wie schon im ersten Lappland-Krimi von Lars Pettersson fand ich die Einblicke in die samische Kultur wieder faszinierend und interessant, aber dennoch wollte der Funke einfach nicht so recht überspringen. Der Krimi-Teil der Handlung konnte mich nicht überzeugen, sondern erschien mir eher langatmig und verzettelte sich für meinen Geschmack zu sehr in Nebenhandlungen.

Vielleicht waren meine Erwartungen nach dem großartigen Vorgänger einfach zu hoch, und "Mord am Polarkreis" ist sicher auch kein schlechtes Buch... Aber es fiel mir sehr schwer, einen Zugang zu ihm zu finden.